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Sarah Spickhofen sitzt mit ihrem Freund Sebastian Welker auf einer Bank, Foto: BBW Soest

„Nun bin ich gefragt, Hilfe zurückzugeben“

Die 28-jährige Auszubildende zur Kauffrau für Dialogmarketing Sarah Spickhofen unterstützt ihre ebenfalls blinde Mutter im Alltag

„Es ist alles in Ordnung. Das Kind träumt nur.“

Diese Aussage hat für mich großes Allergiepotenzial. Immer wieder haben meine Eltern und ich diesen Satz von verschiedensten Augenärzten gehört. Erst als ich neun Jahre alt war und ein Arzt mich schließlich in die Klinik in Bremen überwies, erhielten wir eine andere Aussage:

Ich hätte eine fortschreitende Gesichtsfeldeinschränkung und die Augen hätten sich bereits soweit verschlechtert, dass ich gesetzlich als blind galt. Die Ärzte hatten eine Retinitis Pigmentosa diagnostiziert.

Von diesem Moment an begann der Kampf um meine Hilfsmittel und um die Erlaubnis, weiterhin eine Regelschule zu besuchen. Zu Beginn konnte ich noch mit Tafelkamera und Lesegerät arbeiten. Ab der siebten Klasse musste ich einen Laptop nutzen, da meine Handschrift für die Lehrer nicht mehr lesbar war. Der Unterricht in Braille stand ab der fünften Klasse auf dem Programm.

Mit Hilfe von Integrationslehrerinnen, die mich durch den Unterricht begleiteten, konnte ich mir Lerntechniken und Ordnungssysteme aneignen, mit denen ich den Alltag an der Regelschule mit nur geringen Problemen meistern konnte. Auch die Teilnahme am Sportunterricht wurde mir durch die Begleitung einer Integrationslehrerin lange ermöglicht. Sie sorgte auch dafür, dass mir sowohl meine Leistungen aus der Torball-AG als auch meine Ergebnisse der Blindenschul-Landesmei­ster­schaften in Leichtathletik angerechnet wurden.

Bei diesen Meisterschaften lernte ich mit 15 Jahren meinen heutigen Verlobten Sebastian kennen und fand über ihn einige Freunde, die, wie er, die Blinden- und Sehbehindertenschule in Soest besuchten.

Mit einer guten Portion Sturheit und nicht zuletzt durch die Unterstützung von Sebastian schaffte ich mein Abitur. Auch wenn ein großer Teil meiner Familie mit unserer Beziehung nicht einverstanden war, da sie sich einen sehenden Partner für mich gewünscht hatten, bin ich doch unendlich froh über genau diese Partnerschaft. Sebastian ist seit dem Kleinkindalter vollblind und hat somit erheblich mehr Erfahrungen im Umgang mit dieser Sinneseinschränkung.

Er war mir die größte Unterstützung, als die regelmäßigen Verschlechterungen meines Sehvermögens mich immer wieder den Mut verlieren ließen. Nach dem Realschulabschluss absolvierte Sebastian eine Ausbildung zur Bürokraft. Heute arbeitet er in der Telefonzentrale bei der Diakonie Ruhr-Hellweg in Soest.

Durch seine Erzählungen und meine eigenen Erfahrungen mit einem Schülerjob im Call-Center kam ich auf die Idee, eine Ausbildung im Dialogmarketing im LWL-Berufsbildungswerk Soest zu beginnen. Sowohl meine Freude am Umgang mit Menschen als auch meine während der Schulzeit angeeigneten Arbeitsweisen kommen mir hier zugute. Nach einer mit 97 Prozent bestandenen Zwischenprüfung sehe ich meinem Abschluss und meiner beruflichen Zukunft gelassen entgegen.

Zurzeit pendele ich aufgrund meiner Ausbildung noch regelmäßig zwischen meiner Wohnung in Dortmund und der Wohnung von Sebastian und seiner Großmutter in Soest hin und her. Allerdings verbringen wir viele Wochenenden in meiner Wohnung, so dass sich bereits eine gute Arbeitsteilung im Haushalt eingespielt hat.

Während er Aufgaben wie Einkaufen, Wäschewaschen und Staubwischen übernimmt, gehören das Putzen, Kochen und Bügeln zu meinen Pflichten. Da Sebastian wegen seiner frühen Erblindung panische Angst vor offenem Feuer und großer Hitze hat, hat sich diese Aufteilung von Anfang an bewährt. Nach meiner Ausbildung möchten wir 2017 nach 14-jähriger Beziehung endlich zusammenziehen und heiraten. Auch auf eine eigene kleine Familie hoffen wir.

Im Moment verbringen wir einige Zeit damit, meiner Mutter zu helfen, mit einem großen Schicksalsschlag umzugehen. Vor gut zwei Jahren stellte sich heraus, dass sie an derselben Augenkrankheit leidet wie ich. Wegen der späten Diagnose verfügt sie nur noch über weniger als zwei Grad ihres Gesichtsfeldes.

Nun bin also ich gefragt, die Hilfe, die ich früher von meiner Mutter erhielt, zurückzugeben und sie zu unterstützen, die Schwierigkeiten im Alltag als blinder Mensch zu bewältigen.

Publikationsdatum: 11.10.2016

Themen: Auszubildende stellen sich vor