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Mitteilung vom 17.02.04

Presse-Infos | Der LWL

"Jetzt muss ich richtig putzen lernen"
Leben im Betreuten Wohnen

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Münster (lwl). Andrea war ein lebhaftes Mädchen. "Ich bin überall raufgeklettert", sagt die junge Frau, wenn sie sich als Kind beschreiben soll. Wild sei sie gewesen und voller Fantasie. Schon mit neun habe sie kleine Geschichten geschrieben, zum Beispiel über das Leben aus der Sicht einer Katze, ihrem Lieblingstier, "weil die so eigenwillig und unabhängig sind."

Doch dann sieht Andrea eine Blutspur an der Wand, nicht in ihrer Fantasie, sondern "total wirklich", und diese vermeintliche Wirklichkeit verändert ihr Leben. Zunächst gegen ihren Willen wird die damals 18-jährige in eine psychiatrische Klinik in ihrer Heimatstadt Münster eingeliefert - eine Psychose, so sagen die Ärzte. Und so nennt auch Andrea ihre Krankheit in einer Fachsprache, die sie mittlerweile nach zwei weiteren wochenlangen Klinikaufenthalten gut gelernt hat. Sie kennt die Handelsnamen aller Medikamente, die die heute 29-jährige seitdem nehmen muss, und kann
genau ihre Nebenwirkungen beschreiben: "Die ersten Tage in der Klinik waren echt unangenehm, aber mit abnehmender Dosis wurde es besser. Was bleibt, ist mein überhöhtes Gewicht. Dabei war ich so ein dünnes Kind."

Trotz ihrer Krise gelingt der Gymnasiastin das Fachabitur und das, was viele junge Erwachsene erst später schaffen: der Abschied vom Elternhaus. Andrea besucht eine psychiatrische Tagesklinik und wohnt zunächst weiter bei ihrer Mutter. "Doch dann wollte ich einen Neuanfang.

"Sie geht in ein so genanntes Übergangswohnheim, ins "Ü-Haus". Dort wohnen rund 15 Menschen auf drei Etagen in Münster, und Andrea lebt sich gut ein. Ihre Stimme wird lauter und sie spricht schneller, wenn sie von diesem Abschnitt ihres Lebens erzählt: "Ich wäre gern länger im Ü-Haus geblieben, ich mochte die neuen Freunde dort, aber das war ja nur für einen Übergang."

Im Fachjargon heißt die nächste Station "Betreutes Wohnen". Andrea sagt "3er WG", denn von außen ist ihr neues Zuhause, eine Wohngemeinschaft zumal in einer Universitätsstadt, nichts Ungewöhnliches. Von innen ist das Leben in der WG schon anders, denn die drei jungen Menschen schleppen jeder eine Last mit sich herum: "Eine Mitbewohnerin hatte Depressionen, und ich hatte Mitleid mit ihr ohne Ende, konnte mich nicht abgrenzen." Einmal in der Woche kommt eine Betreuerin in die Wohnung um zu helfen, wenn Krisen drohen, aber vor allem, um den ganz normalen Alltag zu organisieren: Post der Behörden erledigen, Konflikte ansprechen, Anträge stellen. Finanziert hat diese Betreuung bisher die Stadt Münster, seit Mitte 2003 übernimmt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) die Aufgabe.

Was Depressionen sind, weiß Andrea aus eigener Erfahrung. "Zu viele Reize auf einmal, zu viele Menschen, dann kann mich ganz plötzlich so ein Gefühl im Bauch überfallen, ich verstumme, mein Blick wird starr und die Mundwinkel wandern nach unten." Ein tiefes Loch sei das, und dann helfe nur noch der Rückzug ins eigene Bett und Medikamente. Die "Reizüberflutung" kann sie überall erwischen, wo viele Menschen sind - auf dem Jahrmarkt oder bei der Arbeit oder im Bus.

"Wegen der Reizüberflutung" habe es auch nicht mit dem Kindergarten geklappt, in dem sie eine Ausbildung als Erzieherin machen wollte: "Das wäre zu wiggelig geworden mit den Kindern." Inzwischen arbeitet Andrea in einer Werkstatt für psychisch kranke Menschen. Sechs Stunden täglich verpackt sie Schrauben oder schweißt Armbänder in Folie ein. Zum festen Wochenplan gehört der Besuch bei der Betreuerin im Büro und die 45 Minuten beim "Entspannungstherapeuten", mit dem sie beim Meeresrauschen vom Tonband über alles Private reden könne.

Andrea ist vor kurzem noch mal umgezogen, wieder ins Betreute Wohnen gemeinsam mit einer Freundin. "In einer 2er WG ist weniger los als bei dreien", begründet sie den Wohnungswechsel, der für sie auch einen Schritt in größere Selbständigkeit, aber auch mehr Pflichten bedeute. "Jetzt muss ich richtig putzen lernen, hat meine Mutter gesagt." Bereut habe sie den Umzug bisher nicht. Ein bisschen stolz klingt es, wenn die junge Frau erzählt, dass sie die Betreuerin bald nur noch einmal in der Woche sehe. Und die Betreuer nachts anrufen wie damals noch im Ü-Haus, das tue sie jetzt auch nicht mehr. Vielleicht kramt Andrea beim Auspacken der Umzugskartons ja ihre Kindergeschichte von der Katze hervor, ihrem Lieblingstier, das so eigenwillig und unabhängig ist.




Pressekontakt:
Frank Tafertshofer, Telefon 0251 591-235
presse@lwl.org




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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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