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Mitteilung vom 03.09.19

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LWL präsentiert Ausgrabungsergebnisse im Kriegsgefangenenlager von Stukenbrock

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Schloß Holte-Stukenbrock (lwl). Das Stammlager 326 VI K bei Schloß Holte-Stukenbrock (Kreis Gütersloh) war im Zweiten Weltkrieg seit November 1941 das zentrale Aufnahmelager für sowjetische Kriegsgefangene, in dem nach Schätzungen 65.000 Menschen starben. In den Folgejahren wurden hier Kriegsgefangene aus weiteren europäischen Ländern untergebracht. In Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) haben nun archäologische Ausgrabungen über 1.000 Funde zutage gefördert, die von den Lebensverhältnissen der Inhaftierten zeugen, darunter Proviantdosen und Besteck von Gefangenen. Die Ergebnisse der Grabung und eine Auswahl der Funde präsentierte der LWL am Dienstag (3.9.) in der Dokumentationsstätte auf dem Lagergelände.

"Die Forschung an Tatorten des Nationalsozialismus ist ein wichtiges Anliegen des LWL", erklärt LWL-Kulturdezernentin Dr. Barbara Rüschoff-Parzinger. "Die Ausgrabungen im Stalag 326 haben gezeigt, dass die Archäologie hierzu wichtige Beiträge leisten kann."

Die Ausgrabungen fanden im Vorfeld von Bauarbeiten auf dem heute als Ausbildungszentrum der Polizei genutzten Gelände statt. Von Ende Juni bis Mitte August haben Archäologen einer Fachfirma in Abstimmung mit der LWL-Archäologie für Westfalen eine Fläche von 600 Quadratmetern untersucht. "Die Grabung hat über 1.000 Fundstücke erbracht, die überwiegend aus der Lagerzeit stammen", erläutert Prof. Dr. Michael Rind, Direktor der LWL-Archäologie für Westfalen. "Diese Menge, die typisch für die Archäologie der Moderne ist, stellt nicht nur unsere Wissenschaftler vor Herausforderungen, sondern vor allem unsere Restauratorinnen."

Zu den bewegendsten Funden zählen Proviantdosen aus Blech: In die Unterseiten haben die Kriegsgefangenen während ihrer Haft Bilder und Worte eingeritzt. Eine Dose zeigt einen Hof, der in einer bewaldeten Berglandschaft liegt. "Vermutlich ist dies der Heimatort eines Gefangenen", so LWL-Archäologe Dr. Sven Spiong. "Zwar kennen wir den Namen des Häftlings nicht, aber solche Funde sind originale Zeugnisse vom Lebensalltag im Gefangenenlager." Andere Dosen tragen Jahresdaten und sogar Namen oder längere, kyrillische Schriftzüge, die teilweise schwer lesbar sind. "Aktuell stehen unsere Untersuchungen noch am Anfang", sagt Spiong. "Zuerst müssen die Funde gereinigt und konserviert werden."

Andere Objekte wie rostiges Geschirr und Besteck muten auf den ersten Blick als unscheinbar an. Für die Kriegsgefangenen hatten diese Gegenstände jedoch einen hohen Wert: Sie waren ihr einziger Besitz, mit dem sie ihre täglichen Mahlzeiten zu sich nehmen konnten. Ähnliches gilt für die zahllosen Stoffreste und Lederfragmente von Gürteln und Schuhen. "Bei den hier geborgenen Stücken handelt es sich um Besitztümer aus dem einzigen Hab und Gut der Gefangenen; sie besaßen nicht mehr als die Kleidung, die sie am Leib trugen, und die wenigen Dinge, die sie auf dem langen Marsch ins Lager hatten tragen können", sagt Oliver Nickel, Leiter der Stalag-Dokumentationsstätte.

Neben diesen persönlichen Funden, zeugen auch weitere Objekte vom militärischen Kontext: Ein sowjetischer Stahlhelm und eine Säbelscheide unbekannter Herkunft sowie belgische Uniformknöpfe. Sie veranschaulichen, dass gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auch Gefangene anderer Nationen im Stalag untergebracht waren.

In den Jahren 1946/47 wurden Wohnareal und Gebäude des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers zur Internierung von deutschen Kriegsgefangenen und - verbrechern genutzt. Auf dem Gelände zog später ein Sozialwerk ein, eine Baracke wurde, mit Glockenturm versehen, zur evangelischen Kirche. Heute trainieren hier angehende Polizisten am Polizeibildungsinstitut.

Für die Wissenschaftler ist auffällig, dass sämtliche Funde auf den ersten Blick aus der Zeit bis kurz vor 1945 stammen. Das macht deutlich, dass nach dem Ende des Stalags die Habseligkeiten der Insassen zusammen mit Abfällen gezielt hier entsorgt wurden, um Platz für die weitere Nutzung des Geländes zu schaffen.

Bei der Ausgrabung stießen die Forscher aber kaum auf bauliche Überreste des Stalag. "In dem Grabungsbereich standen einst Handwerksbaracken", erläutert Spiong. "Diese verfügten aber nicht über tiefe Fundamentierungen, die die verschiedenen Umnutzungen überdauert haben. Die Funde stammen vorwiegend aus Latrinenschächten."

Langfristig soll eine Auswahl der Funde in der Gedenkstätte der Öffentlichkeit präsentiert werden. "Gemeinsam mit dem Förderverein Gedenkstätte Stalag Senne möchten wir die Geschichte dieses Ortes der Gesellschaft präsent machen", so Rüschoff-Parzinger.

Historischer Hintergrund
Das Kriegsgefangenenlager Stalag 326 VI K in Schloß Holte-Stukenbrock errichtete die deutsche Wehrmacht im Zuge des "Unternehmens Barbarossa", des Russlandfeldzuges. Hinter dem Begriff verbirgt sich die Kurzform für "Stammlager" mit Kürzeln für Gefangene des Ostfeldzugs, den Wehrkreis Münster und die zeitliche Staffelung. Um die zahllosen Kriegsgefangenen des Ostfeldzuges aufnehmen zu können, wurde in der Senne in der Nähe eines älteren Truppenübungslagers ab Frühjahr 1941 ein Arbeitslager für russische Kriegsgefangene errichtet. Die verhältnismäßig dünne Besiedlung der Gegend und die relativ gute Verkehrsanbindung zweier aufgegebener Hofstellen führte zur Wahl dieses Standortes. Stalag 326 VI K war seit November 1941 das zentrale Aufnahmelager für sowjetische Kriegsgefangene, die später im Ruhrgebiet für Bergbauarbeiten eingesetzt wurden. Das Kriegsgefangenenlager hatte damit die wichtige Funktion, die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten durch die Bereitstellung von russischen Zwangsarbeitern aufrechtzuerhalten und besitzt deshalb Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 1941 bis 1945.

Zwar wurden im Sennelager über 200.000 Menschen registriert, diese wurden jedoch zumeist in weitere Lager verlegt. Maximal 30.000 Kriegsgefangene, darunter kleinere Gruppen aus der Ukraine und Polen, waren hier, wie im September 1944, tatsächlich untergebracht. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges fungierte das Lager zudem als Auffanglager für aufgelöste Lager im Osten. Bei seiner Einnahme durch amerikanische Truppen am 2. April 1945 lebten hier 8.500 Sowjetbürger und 110 Franzosen. Die Zahl der an Hunger und Erschöpfung gestorbenen russischen Gefangenen wird auf 65.000 geschätzt. Ein Friedhof für die Toten befindet sich ein Stück außerhalb des Lagers und wurde 1964 nach einer Neugestaltung als Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Ein Lageplan von 1944 zeigt das Stalag 326 VI K als 1.000 Meter mal 400 Meter umfassendes Areal; durch eine mittig verlaufende Straße von Norden nach Süden ist es in zwei gleichmäßige Hälften geteilt. Das Stalag bestand aus drei deutlich abgegrenzten Bereichen: Das deutsche Lager im Norden, das Hauptlager für die Ost-Kriegsgefangenen und ein Vorlager, welches die notwendigsten Hygiene- und Versorgungseinrichtungen für die Lagerinsassen enthielt. Des Weiteren schloss sich seit 1942 ein 220 Meter mal 200 Meter umfassendes, separates Lager für Kriegsgefangene aus Frankreich, Italien und Serbien dem Hauptlager an.

Die Lagerverwaltung - das deutsche Lager - war für rund 300 Mann ausgelegt und lag außerhalb der doppelten Stacheldrahtumzäunung. Die älteren Hofgebäude waren miteinbezogen worden und ragten gegenüber den gleichmäßig angeordneten Baracken für die Lagerführung und die Abteilungen wie Listenführung, Postüberwachung und Abwehr, Heeresgerät, Versorgungseinrichtungen und Unterkünfte für die Wachmannschaften deutlich heraus. Dagegen hatte die Unterbringung der Kriegsgefangenen in den ersten Monaten lediglich provisorisch stattgefunden. Im Hauptlager stellten 51 Baracken die Unterbringung der Kriegsgefangenen sicher. Mehrere der Baracken waren zusammengefasst und jeweils von Zäunen umgeben. Wachtürme mit Maschinengewehrstellungen umstellten das Lager.

Die Unterbringung der Kriegsgefangenen aus Frankreich, Italien und Serbien ab 1942 mit eigener Zuwegung und Gemeinschaftsräumen erlaubte den Insassen eine sehr viel komfortablere Lebensweise. Hier fanden sich Theatersaal, Kapelle, Bücherei und eine eigene Krankenbaracke mit französischen Ärzten.



Pressekontakt:
Frank Tafertshofer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Jens Schubert, LWL-Archäologie für Westfalen, Tel.: 0251 591-3504
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