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Mitteilung vom 07.01.19

Presse-Infos | Kultur

Weimar im Westen und Hitlers Durchbruch in Lippe

Fragen an Malte Thießen zur Ausstellung

Bewertung:

Düsseldorf/Münster (lwl). Eine neue Ausstellung über "Weimar im Westen" stellt ab dem 23. Januar im Düsseldorfer Landtag die "Republik der Gegensätze" dar. Die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) beleuchten im Rahmen des Projekts "100 Jahre Bauhaus im Westen" die Geschichte der Weimarer Republik im heutigen NRW. Bislang unbekannte Fotos und Filme bieten die regionale Perspektive, ergänzt durch die allgemeine Geschichte Deutschlands zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Prof. Dr. Malte Thießen ist einer der Initiatoren der Ausstellung und leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster.


Herr Thießen, Sie sprechen davon, dass sich Entwicklungen in der Weimarer Republik besser in der Fläche, in der Provinz ablesen lassen als in der Hauptstadt Berlin, Was meinen Sie damit?Thießen: Vor Ort wird Geschichte greifbar. Genau das zeigen wir mit unserer Ausstellung: dass die Weimarer Republik keine Geschichte politischer Wirren nur im fernen Berlin war, sondern hier vor Ort die Menschen betraf und bewegte. Wir sprechen dabei gern von einer 'sozialen Erdung' der Geschichte in unserer Ausstellung.

Das Rheinland und Westfalen-Lippe sind für diese soziale Erdung ein wahrer Glücksfall: Denn hier zeichnen sich gesellschaftliche Entwicklungen zwischen 1918 und 1933 in ihrer ganzen Vielfalt und all ihren Widersprüchen ab. Die Spannungen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Stadt und Land, zwischen Hochindustrie und Landwirtschaft, zwischen Sicherheit und Gewalt - nirgendwo sind sie so sichtbar wie in Westfalen und im Rheinland. Wir nennen unsere Ausstellung daher ganz bewusst 'Weimar im Westen: Republik der Gegensätze', um den Ambivalenzen nachzuspüren und eine neue Geschichte der ersten deutschen Demokratie zu erzählen.

Von bisher unveröffentlichtem Material ist die Rede, dass in der Ausstellung zu sehen ist. Was haben Sie und Ihre Kolleginnen gefunden?
Thießen: Als multimediale Ausstellung steht und fällt ihr Erfolg natürlich mit dem Medienangebot. Zu Beginn unserer Arbeit war die Sorge groß, ob sich eine multimediale Geschichte der Weimarer Republik überhaupt für das Rheinland und Westfalen erzählen lässt. Wir kennen zwar die bekannten Fernsehbilder aus Berlin, z.B. während der Revolution 1918, oder aus den Vergnügungsvierteln der 1920er Jahre. Aber das Rheinland und Westfalen - was gibt es hier schon zu holen?
Erstaunlich viel, wie wir jetzt wissen.

Unsere Recherchen haben nicht nur viele bislang unbekannte Fotos zu Tage gefördert, sondern ebenso zahlreiche Filme. Das war eigentlich unsere schönste Überraschung während der Arbeit, dass wir die Weimarer Republik mit so viel bewegten Bildern präsentieren können.

Zum Beispiel?
Thießen: In der Ausstellung zeigen wir eine lange Après Ski-Szene aus dem winterlichen Winterberg: Mondän gekleidete Damen trinken, rauchen und lachen mit jungen Herren um die Wette, ein ungezwungener, ausgelassener und hochprozentiger Nachmittag. Die typischen Symbole des damaligen Aufbruchs aus traditionellen Geschlechterrollen - der Bubikopf, maskuline Mode - finden sich also keineswegs nur im "Babylon Berlin". Auch in der Provinz machte man gesellschaftliche Experimente, brach man auf zu neuen Horizonten.

Ein ganz anderes Beispiel zur Rolle der Frauen bietet der neuentdeckte Film aus einem Kindergenesungsheim in der Senne im Ostwestfälischen. Hier zeigen wir die strenge Disziplin bei den Mütter- und Hausfrauen-Kursen für Mädchen und junge Frauen, die als bewusstes Gegenmodell zur Liberalisierung der Geschlechterrollen und 'Amerikanisierung' des Alltags verstanden wurden.
Die Republik der Gegensätze wird in solchen Kontrasten unterschiedlicher Filmaufnahmen also unmittelbar erlebbar.

Wieso hat der Anfang vom Ende der Weimarer Republik ausgerechnet in Detmold und Umgebung, dem heutigen Kreis Lippe, stattgefunden?
Thießen: Die Nazis fuhren 1932 verhältnismäßig miese Wahlergebnisse ein. Zeitgenossen schrieben die NSDAP in den Jahresrückblicken 1932 bereits als kurzen 'Spuk' ab. Hitler brauchte Anfang 1933 also dringend ein Erfolgserlebnis.

Die an sich völlig unbedeutende Landtagswahl in Lippe Mitte Januar bot dafür die erste Gelegenheit. Hitler rief einen 'Durchbruchswahlkampf' aus und warf alle NS-Größen in die Wahlveranstaltungen in Lippe. Hermann Göring, Joseph Goebbels und Wilhelm Frick, Nazi der ersten Stunde und dann unter Hiltler Reichsinnenminister, waren hier ebenso unterwegs wie Hitler selbst, der in elf Tagen 17 Ansprachen hielt.
Der Aufwand zahlte sich direkt in Wählerstimmen aus: Die NSDAP wuchs von 3,4 auf satte 39,5 Prozent und wurde stärkste Kraft in Lippe. Dieser propagandistisch massiv ausgeschlachtete Wahlsieg machte Eindruck in ganz Berlin - und ebnete den Weg zur 'Machtergreifung'.

Spannend ist diese Geschichte für unsere Ausstellung aber noch aus einem zweiten Grund: Der Wahlkampf der NSDAP in Lippe beschwor germanische Traditionen und sogenannte völkische Werte, das Hermanns-Denkmal avancierte zum Leitmotiv auf Plakaten und Broschüren. Tatsächlich gewannen 'völkische' Verbände und Vereine in Westfalen schon früh während der Weimarer Republik an Zulauf. Auch hier wird also eine Republik der Gegensätze sichtbar: Im Nebeneinander von gesellschaftlichen Aufbrüchen, Vielfalt und Teilhabe auf der einen Seite und Revanchismus, Rassismus, Antisemitismus auf der anderen.

Warum soll man sich heute noch mit Weimar beschäftigen? Thießen: Die Republik der Gegensätze ist auch ein Plädoyer, dass wir es uns mit der Geschichte nicht zu einfach machen sollten. Die Geschichte von Weimar im Westen bietet keine einfachen Antworten, sondern macht uns auf Widersprüche und Gegensätze der Gesellschaft aufmerksam, mit denen wir es noch heute zu tun haben. Weimar im Westen ist also nicht nur Geschichte, sondern immer auch Gegenwart.




Hintergrund:
Nach Düsseldorf ist die Wanderausstellung bis Ende 2019 an sieben weiteren Orten in Westfalen und im Rheinland zu sehen. Ausstellung und Begleitprogramm erarbeitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Kooperation mit dem LWL-Medienzentrum für Westfalen und dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte.

Weitere Informationen: http://www.weimar-im-westen.de


Die Stationen der Wanderausstellung
1. 23.01. bis 13.02.2019: Landtag NRW (Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf)

2. 17.02. bis 27.03.2019: Geschichtsmuseum der Stadt Lüdenscheid (Sauerfelder Straße 14, 58511 Lüdenscheid)

3. 1.04. bis 16.05.2019: LVR-Landeshaus (Kennedy-Ufer 2, 50679 Köln)

4. 19.05. bis 23.06.2019: Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund (Hansastraße 3, 44137 Dortmund)

5. 27.06. bis 27.07.2019: Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld (Neumarkt 1, 33602 Bielefeld)

6. 1.08. bis 16.09.2019: NS-Dokumentation Vogelsang (Vogelsang 70, 53937 Schleiden)

7. 21.9. bis 26.10.2019: Mindener Museum (Ritterstraße 23, 32423 Minden)

8. 5.11. bis 21.11.2019: LWL-Landeshaus (Freiherr-vom-Stein-Platz 1, 48133 Münster)



Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
presse@lwl.org



LWL-Einrichtung:
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Karlstr. 33
48147 Münster
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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.


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