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(79 KB)   Personalkarte des Kriegsgefangenen Alexander Filipowitsch Smirnow / Podolsk, Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation   Personalkarte des Kriegsgefangenen Alexander Filipowitsch Smirnow / Podolsk, Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation
TITELPersonalkarte des Kriegsgefangenen Alexander Filipowitsch Smirnow
GEOPOSITIONGoogle Maps OSM | 51.745228273865200 (NS), 8.712327182292938 (EW) (exakt)


INFORMATIONSpätestens bei ihrer Ankunft in den "Russenlagern" des Deutschen Reiches wurden sämtliche sowjetischen Kriegsgefangenen systematisch registriert und der Wehrmachtauskunftstelle in Berlin gemeldet. Deren Unterlagen galten allerdings seit Kriegsende als verschollen, und daher ging man allgemein davon aus, die Wehrmacht habe sich in dem Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion gar nicht die Mühe gemacht, die Personalien der gefangenen Soldaten zu erfassen. Das Material liegt jedoch fast vollständig in russischen Archiven; welche Aussagen es über jeden einzelnen Rotarmisten ermöglicht, sei im Folgenden am Beispiel der Personalkarte von Alexander Filipowitsch Smirnow vorgestellt.

Smirnow wurde am 16.08.1912 in Kuibyschew an der Wolga (heute Samara) als Sohn des Filipp Smirnow geboren. Er diente als einfacher Soldat bei der Artillerie und fiel am 18.07.1942 während der deutschen Sommeroffensive bei Krasnowk ohne nennenswerte Verwundungen in deutsche Hände. In der Folgezeit arbeitete er - durchaus im Einklang mit der Genfer Konvention von 1929 - als Kriegsgefangener für die deutschen Truppen im besetzten Teil der Sowjetunion.

Im Deutschen Reich fehlten zu dieser Zeit wegen der vielen Einberufungen vor allem im Bergbau zunehmend Arbeitskräfte. Die Reichsvereinigung Kohle (RVK) als Interessenvertreterin des Kohlebergbaus erreichte deswegen am 07.07.1943 bei Hitler die Zusicherung, noch im Spätsommer etwa 200.000 sowjetische Gefangene für den Bergbaueinsatz zu bekommen ("Aktion Steiger"). Im Zuge dieser Aktion wurde auch Alexander Smirnow Anfang September nach Deutschland in das Stalag 326 (VI K) Senne transportiert, das das OKW ein Jahr zuvor auf Drängen der RVK zum Aufnahme- und Musterungslager für den Ruhrbergbau bestimmt hatte (s. Dokument 8  Quelle). Nach der Ankunft durchlief er die sog. Erfassung. Entsprechend der Reihenfolge des Eingangs erhielt er zunächst eine Nummer, die in eine ihm dann ausgehändigte Erkennungsmarke eingestanzt wurde und ihn als den Gefangenen Nr. 133.080 auswies, den man im Stalag 326 registriert hatte. Wie Smirnow besaß jeder Gefangene eine solche, ihn eindeutig definierende Nummer, die er deswegen auch für die gesamte Zeit der Gefangenschaft unabhängig von Versetzungen in andere Lager beibehielt. Zugleich legte die Registratur eine Personalkarte (PK 1; im Format DIN A 4 zusammenklappbar) für ihn an, in die sie neben dieser Nummer sämtliche relevanten persönlichen und militärischen Daten eintrug. Um ihn jederzeit, etwa nach einem mißglückten Fluchtversuch, identifizieren zu können, wurde er fotografiert, darüber hinaus mußte er auf seiner Karte einen Abdruck des rechten Zeigefingers abgeben.

Der Erfassung folgte am 20. September die ärztliche Untersuchung. Deren Ergebnis "einsatzfähig für schwere Arbeit (Stufe t)" qualifizierte Alexander Smirnow für den Bergbaueinsatz; ein Urteil, das in der Senne so oft gefällt wurde, daß man sich dort für den Eintrag in die Personalkarte bereits einen Stempel zugelegt hatte. Welche Bedeutung diese körperliche Einschätzung für die deutsche Seite besaß, ist daran ersichtlich, daß der Begriff "schwer" zusätzlich unterstrichen wurde. Um grundsätzlich einen Arbeitseinsatz, aber auch die deutsche Bevölkerung nicht durch Krankheiten zu gefährden, hatte Smirnow zusammen mit vielen anderen Kameraden ausweislich der Eintragungen auf der Rückseite der Personalkarte kurz nach der Ankunft am 15.9. neben einer Pockenschutzimpfung auch eine Erstimmunisierung gegen Typhus erhalten. Wenn die letztere kurzfristig noch zweimal, am 17. und am 21., wiederholt wurde, ist das ganz nebenbei auch ein sehr aufschlußreiches Indiz für den Arbeitskräftemangel: 1941 und 1942 hatte der Abstand zwischen den Impfungen noch eine ganze Woche betragen. Dem Schutz gegen Fleckfieber diente die Entlausung der Gefangenen, die mit einer vollständigen Entfernung der Körperbehaarung verbunden war. Bei Smirnow fand sie unmittelbar nach dem Eintreffen statt, das Lichtbild zeigt ihn bereits kahlgeschoren. Die vorgeschriebene dreiwöchige Quarantäne hatte er entsprechend den Vorgaben für die "Aktion Steiger" noch in der Sowjetunion durchlaufen (s. Bild 7  Quelle).

Vom weiteren Lebensweg Smimows, der als typisch für viele im Ruhrbergbau eingesetzte sowjetische Kriegsgefangene gelten kann, zeugen die Angaben auf der Rückseite seiner Personalkarte. Kurz nachdem er für bergbautauglich befunden worden war, wurde er zum Stalag VI A Hemer versetzt (24.125.9.), von dem aus sämtliche im Bergbau eingesetzte Kriegsgefangenen geführt wurden. Ohne Verzug gelangte er von dort weiter nach Bochum-Wiemelhausen zur Zeche Prinzregent in das "Russenkommando" 701 R (28.09.); ob der Einsatz dort entsprechend seiner beruflichen Qualifikation als Autoschlosser erfolgte, läßt sich heute nicht mehr feststellen (s. Dokument 6  Quelle). Die schwere Arbeit bei unzureichender Ernährung und schlechter Unterbringung führten bei Alexander Smimow wie bei vielen anderen auch nach wenigen Monaten zu einer Lungentuberkulose, auf Grund derer er vom 05.02.1944 bis zum 09.03.1944 im Lazarett Wanne-Eickel stationär behandelt wurde, ohne daß sich irgendwelche Heilungserfolge eingestellt hätten. Am 09.03. überwies man ihn daher in das große Lazarett Staumühle in der Senne nahe dem Stalag 326, das eine eigene Tuberkuloseabteilung besaß. Dort starb er am 01.04.1944. In einem Stempel auf der Personalkarte vermerkte der Schreiber in der Registratur außer Todesdatum, -ort und -ursache, der Verstorbene sei am 03.04.1944 beigesetzt worden auf dem "Kgf. Friedhof, Forellkrug-Senne". Die Grablage wird präzise vermerkt: "Reihe 29, Grab Nr. 1372, Liste Nr. 13116": Smirnow war der 13.116te Tote, der seit Sommer 1941 auf dem "Russenfriedhof" in der Senne beigesetzt wurde. Über das persönliche Schicksal eines einzelnen sowjetischen Kriegsgefangenen hinaus gibt diese Personalkarte nicht nur Auskunft über die Situation und die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft, sondern auch über den alltäglichen Rassismus im nationalsozialistischen Deutschland. Wenn dort unter "Staatsangehörigkeit" eingetragen wurde "Russe" und nicht, wie zu erwarten wäre, "Sowjetunion", so hatte das einen ganz bestimmten Zweck. Die Sowjetunion, die zu vernichten Hitler sich zum Ziel gesetzt hatte, war ein Vielvölkerstaat, in dem ihm neben den "Asiaten" die Russen als besonders minderwertig galten. Ein wichtiges Mittel zur Destabilisierung des Gegners und zur Verunsicherung der Gefangenen bestand nun darin, die verschiedenen Nationalitäten durch unterschiedliche Behandlung gegeneinander auszuspielen. Abgesichert war das durch eine Vielzahl von Erlassen. Ukrainer etwa fanden - auch im Stalag Senne - Verwendung als Lagerpolizisten und machten sich so bei den anderen verhaßt, zumal sie für diesen Einsatz auch bessere und umfangreichere Verpflegung erhielten. Volksdeutsche dienten oftmals als Dolmetscher. Um von vornherein einen Rotarmisten einordnen zu können, erfolgte daher gleich bei der Erfassung eine Einstufung nach Nationalitäten. "Russe" ist insofern nicht nur Kennzeichnung der Nationalität, sondern zugleich auch als eine Diskriminierung zu sehen: als solcher war Smirnow von bestimmten Tätigkeiten oder von potentiellen Erleichterungen von Anfang an ausgeschlossen.

Für ein weiteres, der nationalsozialistischen Weltanschauung entstammendes "Vorurteil" gab es sogar einen Stempel: "Die Bekanntgabe des Verbots des Verkehrs Kr. Gef. mit deutschen Frauen vom 18.1.40 ist erfolgt". Um die "arische" Rasse "rein" zu halten durfte kein sexueller Kontakt zwischen Kriegsgefangenen - das galt für sämtliche Nationen - und deutschen Frauen erfolgen. Wer dagegen verstieß, machte sich strafbar. Für die deutschen Frauen bedeutete das in den meisten Fällen Gefängnis, für die Kriegsgefangenen, insbesondere die sowjetischen, die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und die Abgabe an die Gestapo, d.h. die Überweisung in ein Konzentrationslager. Ob sie dort exekutiert oder zur Arbeit eingesetzt wurden, hing von der "Schwere des Vergehens" ab.

Nach dem Krieg gelangte die Personalkarte Smirnows in die Sowjetunion nach Podolsk südlich von Moskau, ihre Eintragungen wurden teilweise ins Kyrillische übertragen. Vermutlich wie bei vielen anderen Verstorbenen auch galt das aus verschiedenen Gründen nicht für die Bezeichnung der Grablage, so daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Angehörigen bis heute noch keine genauere Nachricht über seinen Verbleib erhalten haben. Dabei läßt die Karte noch heute eine ziemlich genaue Lokalisierung des Grabes zu: die letzte Ruhestätte Alexander Smirnows liegt etwa 30 m hinter dem Stein, der die Reihe 29 bezeichnet.


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OBJEKT-PROVENIENZPodolsk, Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation
OBJEKT-SIGNATURAbt. 9, Unterlagen über Unteroffiziere und Mannschaften


QUELLE    Otto, Reinhard | Das Stalag 326 (VI K) Senne | Dia 06, S. 26-29
PROJEKT    Diaserie "Westfalen im Bild" (Schule)

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ35   Bildmaterial (Reproduktion, Foto)
Zeit3.9   1900-1949
Ort2.2.9   Schloß Holte-Stukenbrock, Gemeinde
Sachgebiet10.14   Montanindustrie
DATUM AUFNAHME2004-02-03
AUFRUFE GESAMT3658
AUFRUFE IM MONAT272