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DATUM1917-04-17   Suche DWUD
URHEBER/AUSSTELLERJohnen, Kriminal Kommissar; Cramer, Kriminal Sergeant
AUSSTELLUNGSORTRecklinghausen
TITEL/REGESTPolizeibericht über die Belegschaftsversammlung der Zeche Recklinghausen I zur Aussprache über den Streik aufgrund der als ungerecht beklagten Lebensmittelverteilung
TEXTDie Polizei-Verwaltung.
Der Oberbürgermeister.
I.-Nr. 289 III.

Ueberwachender Beamter: Krim[inal] Kom[missar] Johnen,
Krim[inal] Serg[ean]t Cramer.

Bericht
über die
am 17. April 1917
abgehaltene
Belegschaftsversammlung der Zeche
Recklinghausen I
Versammlung.
Datum der Anmelde-Bescheinigung: 17. April 1917.
Versammlungslokal: Wilhelm Blume
Einberufer: Bergmann Johann Kometz
Anfang um 4 Uhr nachmittags
Schluß um 6 1/2 Uhr nachmittags.
Es sind anwesend gewesen (schätzungsweise)
bei Beginn am Schluß
Männer: 500 500
Frauen:

Die Versammlung hat geleitet als
1. Vorsitzender:
Johann Kometz
2. Vorsitzender:

Als Schriftführer ist tätig gewesen:

Als Hauptredner sind aufgetreten (Name, Beruf, Wohnung):
Bergm[ann] Friedr[ich] Weissflog, Reckl[inghausen] Süd,
[Bergmann] Christian Michel, [Recklinghausen] Süd,
Herr Oberbürgermeister Heuser Reckl[inghausen]
Gewerkschaftssekr[etär] Baumann, R[ecklinghausen] Süd,
[Gewerkschaftssekretär] Philipp Hermes aus Castrop.

Recklinghausen, den 17. April 1917.

Tages-Ordnung:

Aussprache über den Streik.

Der Bezirks-Polizeikommissar war - nicht-
anwesend.

Ueber die Verhandlung ist Folgendes zu berichten:

Der Vorsitzende Kometz eröff-
nete die Versammlung und drückte
sein Bedauern darüber aus, dass es
überhaupt zum Streik gekommen sei,
ohne die Ausschussmitglieder zu
hören. Er machte sodann bekannt,
dass die Ausschussmitglieder am
Vormittag eine Konferenz beim Herrn
Oberbürgermeister gehabt hätten,
in der der Herr Oberbürgermeister
in entgegenkommensterweise verspro-
chen habe, den Wünschen der Berg-
arbeiter, soweit es in seiner Macht
stehe, gerecht zu werden. Der Herr
Oberbürgermeister würde nachher
selbst das Wort ergreifen. Auch

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habe ihm der Vertreter der Zeche, Herr Bergassessor Kette, ver-
sprochen, es sollten keine Massregelungen und Bestrafungen
seitens der Zeche erfolgen und könnten die Belegschaftsmitglie-
der ihre Angelegenheiten hier in der Versammlung frei und offen
zur Sprache bringen.
Er erteilte dann zur Diskussion dem Bergmann Friedrich
Weisflog (alter Verband)[1] das Wort. Dieser führte aus, dass der
Streik ausgebrochen sei, sei ja zu bedauern, aber es hätte
nicht anders mehr gegangen, verschiedene Gründe hätten dazu
führen müssen. So seien:
1)dieser Tage Wurstscheine für die Schwerstarbeiter ausgegeben
worden, bei den Metzgern sei aber nicht genügend Vorrat vor-
handen gewesen und sei ein recht grosser Teil leer ausgegangen;
2)was das Hauptsächlichste sei, es seien die Brotrationen von
250 auf 215 Gramm verringert worden und den Schwerstarbeitern
ausserdem noch drei Brotscheine abgezogen worden;
3)sei den Bergarbeitern durch Einführung der Sommerzeit eine
Stunde Nachtruhe entzogen worden;
4)dann am Sonnabend der irrtümliche Anschlag auf der Zeche, wo-
nach die Brotzulage für Schwerstarbeiter ganz in Fortfall kom-
men sollte.
Dieses alles hätte zur Arbeitsniederlegung führen müssen,
umsomehr, da die von der Regierung getroffenen Massnahmen
von den Arbeitern nicht als begründet angesehen würden. In
den ländlichen Gegenden sei noch alles genügend vorhanden,
die Schweine würden mit Kartoffeln gefüttert usw. Wenn in Wirk-
lichkeit keine Lebensmittel vorhanden seien, dann wäre es ja
was anders, sie würden aber nur nicht richtig verteilt. Es müssen
darauf gedrungen werden, dass eine gerechte Verteilung statt-
fände. Nun da der Zweck erreicht sei und die Beschaffung von
Lebensmitteln als Ersatz für die verminderte Brotration zuge-
sagt seien, bitte er die Arbeit in vollen Umfange wieder auf-
zunehmen.

[Seite 3]
Alsdann erhält der Bergmann Christian Michel (alter Ver-
band)[2] das Wort. Er führt dasselbe wie der Vorredner an, beschwert
sich, dass den Bergleuten Leberwurst in Dosen ausgehändigt wor-
den sei, welches aber Grützwurst gewesen und für den Preis von
2,30 M viel zu teuer gewesen sei. Dann fragt er an, wie es mit
der Hindenburgspende sei. Er erklärt alsdann, falls ein Er-
satz an Lebensmitteln für die ausfallende Brotration beschafft
bezw. zugesichert werde, dann bitte er die Arbeit sofort wie-
der aufzunehmen, um so auch fürs Vaterland zu kämpfen bis zum
Siege. Nachdem der Bergmann Schönemann (alter Verband)[3] das
Wort erhält. schliesst er sich Namens der ganzen Belegschaft
den beiden Vorrednern an und bittet, nun mal bekannt zu geben,
was zugesagt worden sei.
Herr Oberbürgermeister Heuser ergreift sodann das Wort und
führt etwa folgendes aus: Er habe schon mehrmals Gelegenheit
gehabt, mit den Arbeiterausschüssen der Zeche General Blumen-
thal zu konferieren und mit diesen die Lebensmittelfrage be-
sprochen, er tue dies sehr gern, um den Bergarbeitern in diesen
Fragen Rede und Antwort stehen zu können. So sei er auch hier
gern bereit, alle Wünsche der Bergarbeiter entgegenzunehmen
und zu beantworten. Er nahm dann Stellung zu den 4 Punkten,
die als Grund der Arbeitsniederlegung von dem ersten Redner
angeführt worden waren und versprach in allen Fällen, wo es
in seiner Macht liege, wenn begründete Beschwerden vorlägen,
für Abhülfe sorgen zu wollen. Er führte dann der Versammlung
die Gründe vor Augen, welche die Regierung bewogen habe, zur
Verminderung der Brotration zu schreiten. Es hätte dieses
gemacht werden müssen, wenn wir nicht ab Juni ganz hungern woll-
ten, denn bis dahin reiche der Bestand nur, wenn die Brot-
rationen so gegeben würden, wie bisher. Er bedauere dieses
im Interesse der Bergarbeiter auch sehr, aber ohne diese Kür-
zung habe es eben nicht gegangen. Es gebe dafür nun aber auch
wieder pro Kopf und Woche 5 Pfd. Kartoffeln, ausserdem für den

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Schwerstarbeiter noch 5 Pfd. besonders. Alsdann würden jetzt
auch pro Kopf 250 Gramm Fleisch für einen billigeren Preis
ausgegeben. Die Hindenburgspende sei noch unberührt vorhanden
und sollte in der übernächsten Woche zur Ausgabe gelangen,
weil es in dieser und der nächsten Woche Fleisch auf die kommu-
nale Fleischkarte zu billigerem Preise gebe und der Lohntag
abgewartet werden solle. In dem er dann nochmals zusagt, für
die Bergarbeiter alles zu tun, was in seinen Kräften stehe,
führt er diesen den Ernst der Stunde vor Augen, ermahnt sie
zur Ruhe und Besonnenheit und gibt ihnen zu bedenken, wie es
wohl aussehen würde, wenn erst der Engländer nach hier käme.
Dieser sei auch schon am Hungern und würde er sicherlich erst
für sich sorgen, den[n] dafür sei er ja zur Genüge bekannt. Er
richtet dann die Bitte an die Versammlung, ihre Schicht wieder
zu verfahren und damit zu tun, was das Vaterland verlange.
Hierauf erhält der Bergmann Heinrich Schäper (alter Ver-
band)[4] das Wort. Er führt aus: Zum Streik hätte es nicht zu
kommen brauchen. Es hätte sich auch alles auf dem Wege der Be-
schwerde erledigen lassen. Aber hieran sei die Beschränkung
des Versammlungsrechts schuld, die Arbeiter könnten sich
eben mit den Ausschussmitgliedern nicht genügend ins Einver-
nehmen setzen. Er bemängelt dann die schlechte Zubereitung
des Essens in den Kriegsküchen, es sei manchmal nicht zu ge-
niessen. Dann wendet er sich gegen solche Kameraden, die da
sagten, es sei gleich, wer hier regiere. Er hob hierbei her-
vor, dass in keinem Lande die soziale Arbeiterfürsorge soweit
gediehen sei, wie hier in Deutschland
Herr Oberbürgermeister Heuser erwiderte hierauf, er bitte
um sofortige Beschwerde, wenn das Essen in den Kriegsküchen
nicht gut sei, er würde sofort alles tun, um bestehende Mängel
zu beseitigen. Dass die Stadt alles für die Kriegsküche tue,
gehe schon daraus hervor dass bisher 180 000 M zugesetzt wor-
den seien.

[Seite 5]
Alsdann erhält der Gewerkschaftssekretär Baumann (christl.[5]
Verband) das Wort. Er bespricht in längeren Ausführungen die
zeitige Lage auf wirtschaftlichem Gebiete, führt ebenfalls der
Versammlung die Gründe, die die Regierung bewogen haben zur
Verminderung der Brotrationen zu schreiten vor Augen und ermahnt
sie zur Ruhe und Besonnenheit. Er sagt sodann, dass er als
Mitglied der Lebensmittelversorgungs-Kommission persönlich be-
haupten könnte, dass der Herr Oberbürgermeister Heuser für seine
Bergleute alles tue, was in seinen Kräften stehe und ihm das
Wohl und Wehe derselben sehr am Herzen liege. Er forderte die
Anwesenden dann auf, morgen früh die Arbeit wieder aufzunehmen
und ihre Söhne und Brüder an der Front nicht im Stich zu lassen.
Der Gewerkschaftssekretär Philipp Hermes (alter Verband)[6]
sprach sich dann im gleichen Sinne aus. Er erklärte insbesonde-
re noch, dass auch die Führer der Organisationen in Berlin
mit den Massnahmen der Regierung sich einverstanden erklärt
hätten, weil diese sich von der Notwendigkeit überzeugt hätten.
Wenn jetzt die 3 Monate nicht mehr ausgehalten würde, dann sei
alles verloren, besonders wenn der Engländer nach hier käme.
Die englischen Grosskapitalisten würden die deutschen Arbeiter
ausbeuten und führte er der Versammlung als Beispiel Indien
vor Augen, das durch die englische Ausbeuterei wiederholte Hun-
gersnöte erlitten habe. Er bittet die Versammlung, da die Ver-
hältnisse so lägen, sich noch die 3 Monate zu behelfen und fol-
gende Resolution anzunehmen:
"Durch die Darlegung hinsichtlich der Ernährungsfrage, wie
sie von dem Herrn Oberbürgermeister gegeben worden ist, sieht
die Belegschaftsversammlung, dass die Behörden bestrebt sind,
einen Ausgleich für den Brotausfall zu beschaffen. Die Beleg-
schaftsversammlung erklärt ausdrücklich, dass sie weit entfernt
ist, ihrerseits nicht die volle Kraft in den Dienst der Vater-
landsverteidigung zu stellen. Die Belegschaftsversammlung er-
wartet aber auch die volle Durchführung des gegebenen Verspre-
chens. Angesichts dieser Verhältnisse beschliesst die Beleg-

[Seite 6]
schaftsversammlung nach der Empfehlung der Organisationsver-
treter die Arbeit wieder aufzunehmen."
Die hierauf vorgenommene Abstimmung ergab aber die Ab-
lehnung und sprach sich nur ein kleiner Teil dafür aus.
Bergmann Heinrich Schäper ersucht dann noch um folgenden
Zusatz zur Resolution:
Gleichzeitig verspricht die Zechenverwaltung die Zahlung
der Gleichmässigkeitsprämie trotz der gefeierten Schichten.
Sodann ersucht er, die Brotscheine, welche für die Über-
schichten ausgegeben werden, fortfallen zu lassen und statt
dessen den Bergarbeitern wieder 6 statt 3 Scheinen zu geben.
Hierauf erwiderte Herr Oberbürgermeister Heuser, dass
dieses nicht gehe, weil die Regelung für Rheinland und West-
falen eine einheitliche sei. Sodann könne man dem Arbeiter,
der die Ueberschicht verfahre, doch auch schlecht die Ration
abziehen, da er sie doch nötig gebrauche.
Ein Vertreter der Zeche erklärt sich dann auch mit der
Weiterzahlung der Gleichmässigkeitsprämie einverstanden.
Daraufhin lässt der Vorsitzende die Versammlung nochmals
über die Resolution abstimmen. Die Abstimmung hatte aber
denselben Erfolg wie die erste.
Daraufhin ergriff der Gewerkschaftssekretär Hermes das
Wort und erklärte, für die organisierten Arbeiter heisse die
Parole: "Es wird angefahren", und bekümmert darum, was die
Unorganisierten machen.
Dasselbe erklärte dann auch noch der Gewerkschaftssekretär
Baumann.
Nachdem der Vorsitzende Kometz noch im Namen der Ausschuss-
mitglieder erklärte, dass für sie der Streik erledigt sei und
sie selbst wieder anfahren würden, schloss er die Versammlung.
gez. Johnen, Krim[inal] Kom[missar]
Cramer, [Kriminal] Pol. Serg[ean]t

[1] Unterstrichen: alter Verband.
[2] Unterstrichen: alter Verband.
[3] Unterstrichen: alter Verband.
[4] Unterstrichen: alter Verband.
[5] Unterstrichen: christl.
[6] Unterstrichen: alter Verband.


PROVENIENZ  Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen
BESTANDRegierung Münster Abt. VII
SIGNATURNr. 17, Bd.1, fol. 291r-293v


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SPRACHEdeutsch
ÜBERLIEFERUNGSARTOriginal


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SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ45   Brief, Bildpostkarte / Briefsammlung
Zeit3.9   1900-1949
Ort3.6.9   Recklinghausen, Stadt
Sachgebiet9.4   Konsum, Nahrung
10.9   Arbeit, Beschäftigte
10.14   Montanindustrie
DATUM AUFNAHME2014-03-11
DATUM ÄNDERUNG2014-04-02
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