Einzelthemen > Gender und Religion


Mädchen bei der Erntedank-Andacht in der Pfarrkirche Raesfeld, 1950er Jahre (Ausschnitt)/ Foto: Münster, LWL-Medienzentrum für Westfalen/I. Böckenhoff 06_502
 
 
 

1. Geschlechtergeschichte in der Region

 
 
 
Geschlechtergeschichtliche Forschungsansätze finden seit Jahren ihren Niederschlag in fundierten regional- und stadtgeschichtlichen Studien. Allerdings hat das Interesse an Regional-und Lokalgeschichte nach wie vor mehr Früchte getragen als das Interesse an Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte vor Ort.

Von "unsichtbarer Geschichte“ ist im Zusammenhang mit Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte immer wieder die Rede; in Veröffentlichungen, die aus lokalen Initiativen hervorgegangen sind, wird das Schlagwort programmatisch aufgegriffen. Die mangelnde Berücksichtigung entsprechender Aspekte beispielsweise im Zusammenhang von Stadtjubiläen ist teilweise der Anlass, aus dem in manchen Städten frauengeschichtliche Projekte ins Leben gerufen wurden. Die Einrichtung von Frauengeschichtswerkstätten basiert seit Jahren auf der Einsicht, dass Frauen häufig im Verborgenen wirkten und noch wirken.

Häufig vergeht überdies eine geraume Zeit, bis sich neue wissenschaftliche Fragestellungen einer breiteren geschichtsinteressierten Öffentlichkeit erschließen. Dies ist um so überraschender, als geschlechtergeschichtliche Forschungsansätze ihren Niederschlag seit Jahren bereits in Studien finden, deren Ergebnisse geeignet sind, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu werden.
 
 
 
 
 
 
 

2. Weibliche Religiosität in der
neuzeitlichen Geschichte

 
 
 
Ein nicht unerheblicher Teil von Untersuchungen nimmt Handlungsräume von Frauen in den Blick, die in religiösen Zusammenhängen verortet werden müssen. Sie tragen der Tatsache Rechnung, dass das 19. und auch das 20. Jahrhundert trotz der gesellschaftlichen Umbrüche im 1800 insgesamt christlich geprägt waren. Konfessionelle lebensweltliche Prägungen sind für die neuzeitliche Geschichte kaum zu unterschätzen.

Wenngleich auch Frauen im Zusammenhang mit Frömmigkeit im 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit in einer Reihe von Untersuchungen zuteil wurde, ist weibliche Religiosität erst seit wenigen Jahren Forschungsgegenstand; entsprechend weit noch ist infolgedessen das Forschungsfeld.

Herausgestellt wurde zunächst vor allem in Katholizismusforschungen, dass das 19. Jahrhundert als Zeitalter weiblicher Frömmigkeit par excellence bezeichnet werden kann. Weiblichkeit fand in der Religion ihren Ausdruck in einem ausgeprägten Engels- und Marienkult, in zahlreichen Marienerscheinungen und in der Verkündigung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis. Über weibliche Stigmatisierte in Westfalen sind bereits Einzeluntersuchungen erschienen. Auch die Zahl der weiblichen Pilger nahm erheblich zu. Kritik an nachlassender Frömmigkeit traf in jedem Falle nur Männer, die etwa zunehmend Sonntagsarbeit leisteten und der Messe fernblieben.
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Beispiel für  Marienverehrung: Thronende Muttergottes, Reliquiar aus Silberblech
 
 
Das 19. Jahrhundert gilt nicht nur als "marianisches“ Jahrhundert, sondern auch als "goldenes Zeitalter des Bußsakraments“ oder "Jahrhundert der Beichte". Seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Gebrauch, übte der Beichtstuhl auf weibliche Gläubige eine starke Anziehungskraft aus. Darüber hinaus verbreitete sich als kontinuierliches, persönlich abgestimmtes Gespräch mit einem Geistlichen das so genannte "Seelengeleit“. Frauen vertrauten in ihren persönlichen Entscheidungen teilweise ganz auf das Urteil ihres "Seelenführers“, der auf diese Weise großen Einfluss über intimste Bereiche seiner weiblichen Gemeindemitglieder gewann.

Weibliche Anteile an pietistischer Erweckungsfrömmigkeit sind immer wieder hervorgehoben worden, auch wenn sie sich statistisch nur unzureichend belegen lassen. Es ist davon auszugehen, dass beispielsweise die Rolle von Frauen in Konventikeln in Minden-Ravensberg bedeutender war als insgesamt im dörflich-kirchlichen Leben. Nachweislich haben Frauen auch Konventikel geleitet.

In ländlich-dörflichen Regionen wurde nicht nur im Pietismus Frömmigkeit von Frauen getragen. Sie hielten in ihrem lebensweltlichen Umfeld bis weit ins 20. Jahrhundert insgesamt an religiösen Wertvorstellungen fest. Frauen gaben diese über die Erziehung ihrer Kinder weiter. Mit dem Besuch von Gottesdiensten und dem Festhalten an religiösen Praktiken in der Öffentlichkeit wie im Privaten bewahrten sie religiöse Orientierungen und Gemeinschaftserfahrungen, mit ihrem karitativen Engagement unterstützten sie die Kirchenbindungen in den Gemeinden.
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Zwei Mädchen bringen bei einer  Erntedank-Andacht in der Pfarrkirche Raesfeld ihre Gaben zum Altar, 1950er Jahre.
 
 
In der Kirchengeschichtsforschung nimmt die Gender-Forschung erst allmählich einen breiteren Raum ein. Erst langsam wird der Tatsache Rechnung getragen, dass religiöse Erfahrungen von Frauen wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienen und dass insbesondere weibliche kirchliche Berufsarbeit im Zusammenhang mit Professionalität und Ausdifferenzierung beruflicher Tätigkeitsfelder zu sehen ist, die für die Milieuforschung von zentraler Bedeutung ist.
Kirchengeschichtliche Perspektiven von Gender-Forschung formuliert von Ute Gause und Julia Paulus:  "Evangelische und katholische Gender-Forschung im Überblick“
 
 
 
 
 
 

3. Weibliche Berufung und kirchliche Berufsarbeiterinnen

 
 
 
Die wichtigsten religiös geprägten weiblichen Berufe waren zweifellos Diakonissen und Ordensschwestern. Ihre Berufsarbeit wird zumeist im Sinne von "Berufung“ verstanden. Im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Nonnen und der weiblichen Ordensgründungen sprunghaft an.
Zahlreiche junge, weder mittellose noch unqualifizierte Frauen entschieden sich für das Leben in einer kirchlichen Genossenschaft. Handlungsspielräume waren nicht zuletzt deshalb so groß, weil sich die Amtskirche zwar intensiv mit religiösen Fragen, aber wenig mit den Tätigkeitsfeldern der Kongregationen beschäftigte.

Frauen erhöhten die gesellschaftliche Wertschätzung weiblicher Caritas. Sie trugen dazu bei, dass die soziale Frage zu einer Aufgabe der Kirche wurde und richteten ihr Augenmerk im Gegensatz zu männlichen kirchlichen Sozialreformern wesentlich mit auf weibliche Armut. Es boten sich ihnen umfassende Möglichkeiten im Zusammenhang mit Bildung, Ausbildung, Berufstätigkeit, gesellschaftlicher Anerkennung und persönlicher Zufriedenheit.

In der professionellen Krankenpflege wirkten nicht nur weibliche Kongregationen bahnbrechend; auch Diakonissen schufen die Grundlagen für einen qualifizierten weiblichen Beruf, für den es noch kein weltliches Äquivalent gab. Für Protestantinnen bot die Diakonie ein weites Arbeits- und Handlungsfeld.

Das Vorbild von Ordensschwestern und Diakonissen wirkte auf die Berufsauffassungen zahlreicher Frauen der helfenden Berufe in Diakonie und Caritas, die noch im ausgehenden 20. Jahrhundert überwiegend weiblich bestimmt waren. Das Leitbild "geistiger Mütterlichkeit“, orientiert an Tugenden wie Dienen, Heilen, Helfen und Trösten, galt und gilt zum Teil heute noch als nachahmenswert, nicht zuletzt im Ehrenamt.

Berufsarbeiterinnen der inneren Mission, Gemeindehelferinnen und Freie Hilfsschwestern als Vertreterinnen moderner Frauenberufe grenzten sich andererseits deutlich von Diakonissen ab, wodurch sich die konfessionellen Milieus längerfristig veränderten.

Die Professionalisierung weiblicher Berufe innerhalb der katholischen und evangelischen Kirche erweiterte zwar weibliche Handlungsfelder und Einflussmöglichkeiten. Gleichwohl schließt das männlich verfasste Priesteramt Frauen bis heute aus; im Protestantismus hatten Frauen lange keinen Zugang zum Pfarramt. Der lange Atem, den Frauen hier auf dem Weg zur Gleichstellung brauchten, ist zumindest teilweise wissenschaftlich aufgearbeitet worden.
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 Pauline von Mallinckrodt (1817-1881) gründete 1849 die Genossenschaft der "Schwestern der Christlichen Liebe“ in Paderborn, die sich besonders der Pflege der Blinden widmeten. Die Kongregation bewahrt bis heute das Erbe "Mutter Paulines“, die 1985 selig gesprochen wurde. Die Blindenschule besteht als "Westfälische Schule für Blinde“ bis heute fort.


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 Friedrich von Bodelschwingh d.J., Anstaltsleiter der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel und seine Ehefrau Julia (1874-1954), die in Bethel mehr als 35 Jahre wirkte und dort neue Formen der Arbeitstherapie einführte. Die von Bodelschwingschen Anstalten wurden 1867 als diakonische Einrichtung unter dem Namen "Rheinisch-Westfälische Anstalt für Epileptische" errichtet.  Materialien für den Schulunterrricht
 
 
 
 
 
 

4. Kirchliche Frauenvereine

 
 
 
Im Laufe weniger Jahrzehnte, besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, überzogen weibliche sozial-caritative Vereine mit ihrem ehrenamtlichen Engagement das soziale und gesellschaftliche Gemeindeleben. Frauen eroberten das lange männlich bestimmte Ehrenamt und hatten Teil an der Wandlung des Begriffs Ehrenamt selbst. Ihr Tätigkeitsfeld waren vorrangig die Gemeinden, in denen sie für Arme, Kranke und Hilfsbedürftige Nahrung oder Kleidung sammelten und die Arbeit von Kongregationen und Diakonissenanstalten unterstützten. Sie nahmen sich bedürftiger Kinder, Mädchen und Frauen an, suchten Mütter unehelicher Kinder auf, vermittelten Stellen, veranstalteten unzählige Wohltätigkeitskonzerte, Weihnachtsbescherungen und Theateraufführungen. Eine führende Rolle übernahmen dabei Frauen des Adels und Frauen des Bürgertums, deren Männer der politischen und administrativen Elite angehörten.
 
 
Karitativ tätig waren zahlreiche Frauenvereine, die von Geschichtsinitiativen wie wissenschaftlichen Studien bisher weniger als das männliche Vereinswesen untersucht wurden. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass "über die organisatoriche und politische Tätigkeit von Frauenvereinen [...] in Rheinland und Westfalen [...] bislang sehr wenig bekannt [war].“ Kirchliche Vereine sind weniger untersucht als weltliche, Arbeiten zu kirchlichen Frauenvereinen stehen in besonderer Weise noch aus. Um die Tätigkeit von Frauenenvereinen beurteilen zu können, sind somit oft erst grundlegende Quellenstudien durchzuführen.

Dass Mädchen und junge Frauen auch in der kirchlichen Jugendarbeit eine maßgebliche Rolle spielten und spielen, ist bis heute nur unzureichend berücksichtigt worden. Es liegen zum einen Lebenserinnerungen vor, die wichtige Hinweise enthalten sowie erste Ansätze, beispielsweise den "Heliand“ als katholische Organisation für Mädchen in den Blick zu nehmen.
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 Dorfspiel einer Mädchengruppe in Raesfeld anlässlich des Pfingstfestes
 
 
Eine weitaus breitere Aufmerksamkeit fand in der Forschung dagegen das Wirken des 1903 gegründeten "Katholischen Deutschen Frauenbundes“ (KDF). Unter seiner Führung sammelten sich zahlreiche im 19. Jahrhundert entstandene katholische Frauenvereine, die im sozialen, karitativen oder pädagogischen Bereich aktiv waren. Er war ein Verein des bürgerlichen Rechts unter weiblicher Leitung. Dadurch unterschied er sich von den übrigen katholischen Frauenvereinen, die unter männlicher geistlicher Leitung standen. Die Gründung des KDF war eine Reaktion auf die bürgerliche Frauenbewegung, die prinzipiell bejaht, wegen ihrer Überkonfessionalität und religiösen Indifferenz jedoch kritisiert wurde. Ein organisatorischer Schwerpunkt des Verbandes lag im Rheinland und in Westfalen. 1916 zählte er hier insgesamt 67 Zweigvereine mit knapp 17000 Mitgliedern.
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Seit 1912 leitete die katholische Lehrerin und Schriftstellerin  Hedwig Dransfeld den KDF
 
 
 
 
 
 

5. Frauen in jüdischen Gemeinden

 
 
 
Wenngleich allgemein anerkannt ist, dass jüdische Frauen in der Frauenbewegung eine zentrale Rolle einnahmen, ist bislang weniger bekannt, dass sie für die jüdische Traditionswahrung in den Familien maßgeblich mitverantwortlich und in den jüdischen Gemeinden deutlich anders als Männer eingebunden waren.
Einen historischen Überblick gibt Rita Schlautmann-Overmeyer in dem Aufsatz  "Frauen in den jüdischen Gemeinden Westfalens im 19. Jahrhundert“.
 
 
Fanny Nathan beispielsweise, eine der bedeutendsten jüdischen Frauen in Westfalen im 19. Jahrhundert, trat für Belange jüdischer Mädchen ein, denen sie eine geschlechtsspezifische Erziehung angedeihen lassen wollte. Mit der Gründung eines Waisenhauses für jüdische Kinder verfolgte sie einerseits humanitäre Ziele, sie tat dies in einem bürgerlichen Selbstverständnis für gesellschaftliche Verantwortung und gleichzeitig als Jüdin für die Gemeinde, in der sie lebte.

Jüdische Frauenvereine wie der Israelische Frauenverein in Münster handelten aus sozialem und karitativem Engagement wie ihre protestantischen und katholischen Schwestern. Sie betrachteten ihren Einsatz darüber hinaus als religiöse Verpflichtung.
 Statut des von  Fanny Nathan in Paderborn errichteten jüdischen Waisenhauses für die Provinz Westfalen, 1855
 
 
 
 
 
 

6. Konvertitinnen

 
 
 
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass es in Westfalen herausragende weibliche Beispiele für Konfessionswechsel gibt. Die Jüdin Edith Stein, die 1922 zum Katholizismus übertrat, 1932 bis 1933 am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster wirkte, im KZ Ausschwitz ermordet und 1987 selig gesprochen wurde, wird heute in Westfalen verehrt. Im Zusammenhang mit Konvertitinnen in ihrer Rolle "zwischen“ den konfessionellen Fronten wird gerne der Kreis um  Amalie von Gallitzin genannt sowie Münster als Ort, an dem sich Konvertitinnen aufhielten. In Münster, wo sich um Amalie von Gallitzin und Leopold Graf von Stolberg ein Zentrum katholischer Erweckung gebildet hatte, fanden Konvertitinnen ein Umfeld vor, in dem sie ihre Glaubensentscheidung zweifellos festigen konnten, und das sie vor konfessionellen Anfeindungen schützte. Die zweite Ehefrau Friedrich Leopold von Stolberg, Sophie von Stolberg, die zusammen mit ihrem Ehemann zur Münsteraner Familia sacra gehörte, ist hier zu nennen.
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 Der Kreis von Münster - Die Fürstin von Gallitzin im Kreis ihrer Freunde auf dem Landsitz in (Münster-)Angelmodde (1863/64)
 
 
In Münster fand sich etwa auch die konvertierte Schriftstellerin Luise Bornstedt ein, um "in der Stadt der Gallitzin und Stolbergs“ einen neuen gesellschaftlichen und literarischen Anfang zu machen. In Münster fand nicht zuletzt die Konvertitin Marie Alberti, ein neues Aufgabenfeld. Marie Alberti war Oberin einer Kongregation, der Barmherzigen Schwestern in Münster. In das weitere westfälische Umfeld Münsters zog es schließlich immer wieder  Luise Hensel. Über das Münsterland hinaus weniger bekannt dürfte das Beispiel  Tisa von der Schulenburgs für das 20. Jahrhundert sein.

Weibliche Konversionen erfolgten, so das verbreitete protestantische Urteil, stets scheinbar in einem Gefühlsüberschwang und äußerten sich nach dem Übertritt in exaltiert-religiöser Emotionalität. Für protestantische Kritiker standen Konvertitinnen im Mittelpunkt der Kritik an der Sinnlichkeit und ästhetisch-bildhaften katholischen Frömmigkeit. Dieses Urteil traf allerdings nur partiell die Realität, denn gerade die Konvertitinnen entstammten anders als die heftig kritisierten Stigmatisierten in der Regel nicht unterprivilegierten, ländlich-rückständigen Bevölkerungsschichten, sondern entweder bürgerlich-protestantischen oder freidenkerisch-aufgeklärt-intellektuellen Häusern oder protestantischen Adelsfamilien.
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Gedenktafel der Dichterin  Luise Hensel (1798 -1876) an der St. Aegidiuskirche in (Rheda)-Wiedenbrück
 
 
 
 
 
 

7. Weibliche Ikonen kirchlicher Erinnerungskultur - Verengung des Blicks

 
 
 
Das öffentliche Erinnern konzentriert sich seit langem eindeutig auf weibliche Identifikationsfiguren, gleichsam "Ikonen“ weiblicher Geschichte in Westfalen - genannt seien hier  Annette von Droste-Hülshoff oder  Pauline von Mallinckrodt oder  Katharina Emmerick. Jubiläen der Geburts- und Todestage stehen seit langem im Zentrum von Erinnerungs-, Gedächtnis- und vor allem "Verehrungs“-Arbeit, die in der lokalen heimatkundlichen Literatur und einer regelrechten Jubiläumspolitik ihren Niederschlag findet. Die Erinnerung an Pauline etwa nährt sich von "unscharfen“ Erinnerungen, neigt zu "Übertragungen“, "Ausblendungen“ oder "Projektionen und rückt Erinnerung "ins Sakrale“, zumal sie von einer der traditionellen "Gedächtnisgesellschaften“, der Kirche als Institution propagiert wird, "die die Bewahrung und Weitergabe von Werten“ nicht nur "sicherte“, sondern noch sichert. Ähnliches gilt teilweise für Annette von Droste-Hülshoff, die neue Aktualität zu gewinnen und auch für Frauen des ausgehenden 20. Jahrhunderts interessant zu werden begann, als man sich ihres Gedichts "Am Turme“ erinnerte, das lange nicht zur Kenntnis genommen worden war und von Christa Wolf zu Recht mit den Worten kommentiert wurde: "Wer, außer speziellen Kennern, würde diese Strophe der Annette von Droste-Hülshoff zuschreiben.“
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 Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), gemalt von ihrer Schwester Jenny um 1820
 
 
Auch - in der Regel weibliche - Stigmatisierte, die zumeist ländlichen Unterschichten entstammten und dazu beitrugen, katholische Frömmigkeit als rückständig zu desavouieren, sollten neu gesehen werden. Bekannte Beispiele für Westfalen sind etwa Katharina Emmerick oder Karoline Beller. Ihre negative Wertung entsprang nicht zuletzt dem aufklärerischen Urteil. So bemerkte beispielsweise Friedrich Nicolais, nur unter dem abergläubischen Volk könne der römische Glaube noch überleben, nicht jedoch vor Wissenschaft und Bildung im aufgeklärten bürgerlichen Zeitalter bestehen.
 
 
 
 
 
 
 

8. Desiderate

 
 
 
Aus dem Topos der "unsichtbaren Geschichte“ wird zumindest ansatzweise der Zugang zu einer Topographie weiblicher Erinnerungsräume zu entwickeln sein, die sich in den über weite Strecken der neuzeitlichen Geschichte konfessionell verdichteten Teilräumen Westfalens von der Erinnerungsarbeit im Zusammenhang "nur“ katholischer oder protestantischer weiblicher Vorbildhaftigkeit löst. In gewisser Weise stellvertretend für die Probleme, die manche kirchliche Frauenvereine der Gegenwart mit ihrer eigenen Geschichte und der Erinnerung an ihre Anfänge haben, sei der Sozialdienst Katholischer Frauen genannt, der aus katholischen Fürsorgevereinen hervorgegangen ist, die sich in Not geratener Frauen und Mädchen annahmen. Nach 1945 widmete er sich insbesondere der Flüchtlingsarbeit.

Die Gründung von Frauenvereinen im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt im kirchlich-konfessionellen Zusammenhang, kann als wichtiger Markstein der Erweiterung von weiblichen Handlungsräumen, von "Frauenräumen in der Männerwelt“, angesehen werden. Die Tätigkeit zahlloser Frauen in weiblichen Vereinen, deren Nachfolgeorganisationen teilweise heute noch bestehen, könnte das Bild korrigieren, die Geschichte einer Stadt oder Region sei in erster Linie von Männern geprägt worden. Möglicherweise haben solche Vereine, die caritativ-ehrenamtlichem Einsatz dienten, dazu beigetragen, den "Bewegungsspielraum für Frauen in der Öffentlichkeit zu vergrößern.“ Wie dies im Einzelnen geschah, können erst eingehendere Beschäftigungen mit Elisabeth-Vereinen, Jungfrauen- und Müttervereinen, dem Deutschen Evangelischen Frauenbund, dem Katholischen Deutschen Frauenbund, der Evangelischen Frauenhilfe zeigen, um nur einige zu nennen. Konfessionelle Prägungen weiblichen Engagements finden sich schließlich in Berufsorganisationen.
Im Bistum Paderborn kümmerte sich z. B. der "Katholische Mädchenschutzverein für die Diözese Paderborn“ um Mädchen. Er engagierte sich u.a. für unentgeltliche Stellenvermittlungen, einen besseren Schutz für Mädchen auf Reisen und die Fürsorge für Dienstboten. ( Quelle)
 
 
Stadtrundgänge als "intensivste Art des Raumerlebens“ nehmen bereits teilweise Zusammenhänge des Themen- und Forschungsfeldes Geschlecht - Religion auf, es findet seinen Niederschlag in Frauengeschichtsdarstellungen zu einzelnen Städten und Gemeinden, Veranstaltungen greifen es auf, Vorschläge für Straßennamen oder Gedenkorte werden eingebracht. Frauenhand- und Lesebücher, Ausstellungen bieten Anregungen für die Weiterarbeit. Die Verankerung von 'Gender-Studies’ in den neuen Studiengängen an Universitäten des Landes könnte weitere regionale Untersuchungen ermöglichen. Initiativen wie das Netzwerk Frauengeschichte am Westfälischen Institut für Regionalgeschichte bietet ebenfalls eine Möglichkeit, die "Hierarchie der Erinnerung“, die tatsächlich weitgehend über "Licht und Schatten [nicht nur] gebot“, sondern noch gebietet, aufzubrechen.

Aufzunehmen ist folgender, auf Literatur wie Geschichte gleichermaßen zu beziehender Satz Barbara Frischmuths: "Der weibliche Traum ist der Traum von der Selbstverständlichkeit, der Traum von der selbstverständlichen Anwesenheit in der Literatur [und Geschichte]. Es geht darum, Räume neu zu sehen, "um sie möglicherweise auf diese Art, nämlich als Ansicht, [neu und auch als Erinnerungsräume] zu gewinnen.“ Historiker/-innen werden bei der Aufarbeitung geschlechtergeschichtlicher, bisher unsichtbarer Aspekte regionaler und lokaler Geschichte immer wieder neu ihre Rolle "für das Zeit- und Selbstverständnis der heute lebenden Menschen“, hier besonders von Frauen bestimmen und dabei die "Differenz zwischen Geschichte und Gedächtnis“ zugrunde legen müssen.
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 Stadtrundgänge zur Geschichte von Frauen bietet wie in Münster z.B. auch in Dortmund der Frauengeschichtsverein Spinnennetz e.V. an.
 
 

9. Literatur

 
 
 

9.1 Allgemeine Geschichte

 
 
 
Eggemann, Maike / Hering, Sabine (Hg.)
Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit. Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege, Weinheim und München 1999.

Gause, Ute / Heller, Barbara / Kaiser, Jochen Christoph (Hg.)
Starke fromme Frauen? Eine Zwischenbilanz konfessioneller Frauenforschung heute, Hofgeismar 2000.

Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.)
Wunderbare Erscheinungen. Frauen und Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995.

Hölscher, Lucian
"Weibliche Religiosität"? Der Einfluss von Religion und Kirche auf die Religiosität von Frauen im 19. Jahrhundert. In: Margret Kraul, Christoph Lüthi (Hg.), Erziehung der Menschen-Geschlechter. Studien zur Religion, Sozialisation und Bildung in Europa seit der Aufklärung, Weinheim 1996, S. 45-62.

Meiwes, Relinde
"Arbeiterinnen des Herrn": Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000.
 
 
 
 
 
 

9.2 Westfälische Geschichte

 
 
 
Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.)
Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 69-88.

Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995, S. 83-130.
Facettenreich zu Einzelaspekten mit Beispielen aus Westfalen

Meiwes, Relinde
"Arbeiterinnen des Herrn": Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000.
Grundlegend über die Arbeit von Frauenkongregationen mit Beispielen aus dem westfälischen Raum

Paschert-Engelke, Christa (Hg.)
Zwischen Himmel und Erde. Weibliche Lebensentwürfe und Lebenswelten in Westfalen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Münster 2003.
Lesbar und anregend für Westfalen mit Beispielen unter zeitlich weit gespannter Perspektive

Stambolis, Barbara
Luise Hensel (1798-1876). Frauenleben in historischen Umbruchszeiten, Köln 1999.
Biografisches Beispiel für Westfalen

Stockhecke, Kerstin
Marie Schmalenbach 1835-1924. Pfarrersfrau und Schriftstellerin aus Westfalen. Bielefeld. 2. Aufl. 1994.
Biografisches Beispiel für Westfalen

Strotdrees, Gisbert
Es gab nicht nur die Droste. Sechzig Lebensbilder Westfälischer Frauen, Münster-Hiltrup 1992.
Westfälische weibliche Kurzporträts, bekannter und weniger bekannter religiöser Frauen

Westhoff-Krummacher, Hildegard
Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren. Die Sicht der Frau in der Zeit der Aufklärung und des Biedermeier, Katalog zur Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster vom 19. November 1995 bis 11. Februar 1996, Münster 1995.
Anregende Zugänge zu weiblicher Religiosität und kirchlichen Frömmigkeitsidealen in der bildenden Kunst, erläutert mit Zitaten und knappen Texten

Winkler, Kerstin
Die Ansgarschwesternschaft und die Ravensberger Schwesternschaft. Das Problem der Diakonissen mit den Freien Hilfsschwestern. In: Ute Gause, Barbara Heller, Jochen Christoph Kaiser (Hg.), Starke fromme Frauen?: Eine Zwischenbilanz konfessioneller Frauenforschung heute, Hofgeismar, Evang. Akademie, 2000, S. 145-158.
Mit kritischem Blick auf die Arbeit von Frauen in der Diakonie
 
 



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