QUELLE

DATUM[o. D.]
TITEL/REGESTErinnerungen eines ehemaligen Junkers der Waffen-SS an seine Ausbildung
TEXTEine besondere Methode der Demütigung war: Wenn jemand beim Einführen der Patronen in den Patronenstreifen durch Zufall eine dieser Patronen zu Boden fallen ließ, so mußte er sie mit dem Mund aufheben. Ich habe mir immer wieder vorgenommen: das werde ich nicht tun. Man kann mit mir machen, was man will, aber ich hebe keine Patronen mit dem Munde auf, sondern nur mit der Hand. Dabei nehme ich mir auch vor, diese Situation nicht herauszufordern, sondern alles zu tun, um zu verhindern, daß mir eine Patrone auf den Boden fällt. Nun passierte es mir aber doch. In solch einer Situation gibt es keinen Befehl mehr, sondern der Unterführer zeigt nur mit dem Daumen nach unten, und der Betreffende weiß schon, was er zu tun hat. Auch bei mir zeigt er mit dem Daumen nach unten - ich bücke mich und hebe die Patrone mit der Hand auf. Wie ein Raubtier auf seine Beute losspringt, so kommt er auf mich zu, führt sein Gesicht ganz nahe an das meine heran, so daß zwischen seiner Nase und meiner keine zwei Milimeter sind, und brüllt in dieser Stellung, was er kann. Ich verstehe natürlich nichts, denn seine Stimme überschlägt sich fast beim Brüllen. Am Ende vernehme ich nur noch, daß er schreit: "Haben Sie vergessen, was zu tun ist?" Nachdem er ausgebrüllt hat, übergibt er mich dem stellvertretenden Gruppenführer. Der macht mit mir dann zehn Minuten lang "Theatervorstellung".

Das ist eine sehr lange Zeit, während man aus dem Laufschritt nicht herauskommt. Dazu noch gewürzt mit allen bekannten und bewährten "Einlagen". Nach einer solchen Vorstellung kann man sein Hemd auswringen. Dann übergibt mich dieser wieder dem Unterführer selbst. Das erste ist, daß er befiehlt: "Schmeißen Sie die Patrone weg!" Nun, darauf war ich nicht gefaßt. Schon bin ich nahe daran, aufzugeben. Ich werfe die Patrone weg - etwa 2 m von mir entfernt fällt sie zu Boden, und er deutet wieder mit dem Daumen nach unten. Ich zögere eine Sekunde. Die bemerkend, kommt er auf mich zu. Da bin ich fast soweit, daß ich sie mit den Munde aufgehoben hätte. Dann aber, - gedacht habe ich mir nichts dabei, und ich weiß auch nicht warum - habe ich die Patrone wieder mit der Hand aufgehoben. Jetzt ist es gänzlich aus! Er wird rot, brüllt Unverständliches, übergibt die Gruppe dem stellvertretenden Gruppenführer und übernimmt mich selbst. Er beginnt mit 50 Kniebeugen mit vorgehaltenem Gewehr. Dabei muß ich laut zählen. Nun, ich habe schon daheim viel Sport gebtrieben, und ich bin hier an alles gewöhnt. Aber nach 10 Minuten "Theatervorstellung", bei der ich schon fast knieweich war, noch 50 Kniebeugen mit vorgehaltenem Gewehr machen, das ist schon ein starkes Stück! Ich sage nicht, daß man das physisch nicht durchhalten kann. Es ist nur die Frage, ob man nicht moralisch vorher fertig wird. Und so kommt es auch. Bei 20 Kniebeugen höre ich auf zu zählen. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht sagen, daß ich dabei etwas denke, ich weiß nur, daß ich am Ende bin. Ich höre noch einmal das Brüllen, aber das interessiert mich nicht mehr, weil ich mich plötzlich nicht mehr beherrschen kann. Ich muß weinen, obwohl das nicht mannhaft und nicht soldatisch ist. Ich kann auf seine Fragen nicht mehr antworten, dieser Weinkrampf schüttelt mich derart, daß ich auch nicht mehr reden kann. Ich habe keine Wut und spüre auch keinen Schmerz. Ich bin einfach am Ende. Wie er das sieht, brüllt er: "Achtung!" Und dann: "Sie Schlappschwanz! Sie Muttersöhnchen! Sie Heulbase! Einen heulenden SS-Mann gab es noch nie! Da drehen sich alle Gefallenen in ihren Gräbern um! Mit so etwas will man an die Front gehen ... usw. ... usf." Und dann wird "Sammeln" geblasen. Damit ist die Übung vorläufig zu Ende. Er gibt mir noch den Befehl, eine Woche lang sämtliche Klos im ersten Stock sauber zu machen und nachher zwecks Besichtigung ihm zu melden. Und dann befiehlt er noch schnell: "Werfen Sie die Patrone weg!" Ich tue dies und ohne überhaupt darauf zu warten oder auch nur hinzusehen, ob er mit dem Daumen hinunterzeigt, hebe ich sie mit dem Munde auf ...
ERLÄUTERUNGDie Ausbildung der "Junker", d.h. Offiziersanwärter, fand in besonderen "SS-Junkerschulen" statt. Der Bericht wird anonym von Hans Buchheim zitiert in: ders. - Befehl und Gehorsam, in: ders. (Hrsg.) - Anatomie des SS-Staates, Band 1, S. 254.


QUELLE    Hüser, Karl / Brebeck, Wulff E. | Wewelsburg 1933-1945 | Dokument 06, S. 41f.


PROJEKT    Diaserie "Westfalen im Bild" (Schule)
SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.9   1900-1949
DATUM AUFNAHME2004-02-25
DATUM ÄNDERUNG2011-02-07
AUFRUFE GESAMT2299
AUFRUFE IM MONAT20