QUELLE

DATUM1853-08-12   Suche   Suche DWUD
URHEBER/AUSSTELLERAhlemann, Schulinspektor
AUSSTELLUNGSORTPetershagen
TITEL/REGESTVisitationsbericht des Schulinspektors Ahlemann über die Gernheimer Fabrikschule
TEXTVisitationsbericht des Schulinspektors Ahlemann vom 12. August 1853 an die Mindener Regierung

Infolge verehrlicher Verfügung Königlich Hochlöblicher Regierung vom 8. Juny c "über den Schulbesuch in Gernheim und dessen Controle in separato zu berichten" hat der Unterzeichnete inzwischen (am 3. d. M.) eine Revision der Gernheimer Schule vorgenommen, und beehrt sich, den daselbst angestellten Ermittlungen gemäß, Nachfolgendes gehorsamst vorzutragen.

Die Gernheimer Fabrik-Schule besteht aus zwei Abtheilungen. Die untere Abtheilung zählt zur Zeit 22 Kinder, und da von diesen noch keins bei der Fabrikarbeit beschäftigt ist, so ist der Schulbesuch derselben regelmäßig und gut. Die erste Abtheilung zählt zur Zeit 31 Kinder, 15 Knaben und 16 Mädchen, von denen gegenwärtig 11 Knaben und 2 Mädchen, zwischen zehn bis 13 Jahren beim Eintragen in der Glashütte verwendet werden. Der Schulbesuch dieser Kinder ist nun durch ihre Beschäftigung in der Fabrik im höchsten Maße gestört. Absentenlisten führt zwar der Lehrer Diestelkamp gegenwärtig nicht, „weil solche nie in der dortigen Schule gebräuchlich gewesen“. Eine eigentliche Controle des Schulbesuchs besteht demnach nicht.

Beispielsweise hat der p. Diestelkamp jedoch im November 1851 u[nd] im Januar Februar u[nd] März 1852 eine Liste über die Schulversäumnisse der in der Fabrik beschäftigten Kinder geführt, die ich in Anlage beizufügen mir erlaube, aus welcher hervorgeht, daß der Schulbesuch derselben nur Ausnahme, die Schulversäumnis Regel ist, und dieser Übelstand dauert, nach Aussage des Lehrers, bezüglich jener Kinder noch jetzt unverändert fort. Gelegentlich meiner Anwesenheit in der Classe fehlten von den betreffenden Kindern nur 4 Knaben, da ich den Lehrer ersucht hatte, mir einen Tag zu bezeichnen, wo ich dieselben möglichst vollzählig mit versammelt finden würde. Ich fand sie durchschnittlich bleich, angegriffen, erschöpft, körperlich und geistig deprimirt aussehend, was bei der anhaltenden zwölf- bis vierzehnstündigen Fabrikarbeit, die sie Tag und Nacht, nur mit zwanzig- bis vierundzwanzigstündiger Unterbrechung, zu verrichten haben, nicht zu verwundern ist. Rücksichtlich [?] ihrer Kenntnisse standen sie freilich bei der angestellten Prüfung den übrigen Kindern nicht merklich nach, was daher zu erklären sein mag, daß sie meistentheils von Natur recht begabt zu sein schienen.

Die Prüfung ergab, daß die Klasse beim Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen im Ganzen auf einem recht guten Standpunkt steht. Im Lesen zeigten namentlich auch die in der Fabrik beschäftigten Kinder sämtlich eine befriedigende Fertigkeit; im Schreiben konnten ihre auf der Stelle durch Aufzeichnung eines kleinen Diktats entworfenen Fortschritte sowohl in kalligraphischer als orthographischer Hinsicht gut genügend genannt werden; desgleichen bewiesen sie im Kopfrechnen bei Lösung von Zinsrechnungs-Exempeln recht gute Geübtheit; so wie auch einige Gesangsstücke, Arien und Choräle, unter Begleitung der Zieh-Harmonica recht wohllautend von der Klasse ausgeführt wurden. Nur in der biblischen Geschichte u[nd] Katechismus-Kenntnis zeigte sich namentlich bei den in der Fabrik beschäftigten Kindern die schwächere Seite, indem ihr Wissen und Können in diesen Stücken vielfach lückenhaft u[nd] mangelhaft sich darstellte. Der Gesamteindruck kam darauf hinaus, daß der Lehrer allerdings mit der 1. Abtheilung ohne die dem Unterricht durch die Fabrikbeschäftigung des 4. Theils der Kinder zugefügte große Störung ein bedeutend höheres Ziel erreichen könnte und müßte.

Es soll derselbe zwar [...] jene durch die Hüttenarbeit dem regelmäßigen Schulbesuch entzogenen Kinder täglich in einer Stunde besonders unterrichten; da diese Kinder aber nicht gleichzeitig, sondern nach und nach von der Arbeit entlassen werden, so sind sie zum Unterricht nie gleichzeitig zusammen zu bringen, und es bedürfte 2, 3 u[nd] mehr Privatstunden des Lehrers, um allen einiger Maßen nachzuhelfen. Der p. Diestelkamp muß freilich zu dieser Mehrübernahme von Stunden für die Zukunft bereit sein, sofern der Fabrikherr von der intendirten Verweigerung seiner Besoldung Abstand nähme. Indes wäre der Schaden für die Schule u[nd] insbesondere für die betreffenden [?] Kinder damit doch nicht gehoben worden, da diese nach einstimmiger Erfahrung des Lehrers u[nd] Pfarrers in Folge der körperlichen Übermüdung auch geistig immer merklicher abgespannt u[nd] abgestumpft werden.

Es scheint daher allem Gesagten zufolge geboten, dem Fabrikherrn zu Gernheim aufzugeben: die Beschäftigung der dortigen Schulkinder in der Fabrik nach Maßgabe der Regulation für die Verwendung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken vom 9. März 1839 einzuschränken, desgleichen dem Lehrer Diestelkamp: fortan [...] Absenten-Listen über den dortigen Schulbesuch zu führen resp. beim Amte einzureichen, und geht schließlich mein Antrag gehorsamst dahin, daß Königliche Hochlöbliche Regierung dieses hochgeneigt veranlassen möge.

Noch bemerke ich, daß eine Erklärung des Fabrikherrn Schrader auf die ihn wegen anderweitiger Vereinbarung mit dem Lehrer Diestelkamp seitens Hochlöblicher Regierung unterm 8ten Juny gemachten Propositionen bis dahin nicht eingegeben worden ist.

Petershagen 12 August 1853
Der Schulinspektor
Ahlemann
ERLÄUTERUNGWie in vielen anderen Glashütten war auch in Gernheim bei Petershagen Kinderarbeit üblich. Die unregelmäßigen Produktionszeiten der Hütte führten dazu, dass die Kinder und Jugendlichen nur sehr unregelmäßig am Schulunterricht teilnehmen konnten. Hohe Fehlzeiten und körperliche Erschöpfung durch die Arbeit wirkten sich schlecht auf die schulischen Leistungen aus.
Die Glashütte Gernheim gründete 1822 eine eigene Fabrikschule, deren Stundenplan mit der Fabrikarbeit der Kinder abgestimmt werden sollte. Da die einzelnen Kinder aber häufig unterschiedliche Arbeitszeiten hatten, funktionierte das in der Praxis nicht immer.


PROVENIENZ  Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe
BESTANDRegierung Minden, Schulabteilung
SIGNATURM 1 II B Nr. 3919


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.8   1850-1899
Ort2.6.6   Minden, Stadt
2.6.7   Petershagen, Stadt
4   Minden, Regierungsbezirk
Sachgebiet6.8.15   Säuglinge, Kinder, Jugendliche
10.9.2   Arbeitswelt
10.17   Gewerbe, Dienstleistungen
12.5   Unterricht, Schulalltag
12.6   Lehrerin/Lehrer, Erzieherin/Erzieher
12.7   Schülerinnen/Schüler
DATUM AUFNAHME2004-03-31
AUFRUFE GESAMT3529
AUFRUFE IM MONAT312