QUELLE

DATUM1912   Suche   Suche DWUD
URHEBER/AUSSTELLERSellmann, Adolf
TITEL/REGESTBeschaffung von Kinematographen durch die Landgemeinden
TEXTBeschaffung von Kinematographen durch die Landgemeinden.
(Referat auf dem 4. Westfälischen Landgemeindetag in Münster am 15. Juni 1912.)

Die Kinos in den Städten nehmen von Tag zu Tag zu. Großberlin allein zählt gegen 250. Die tägliche Besucherzahl der Kinos in Deutschland wird auf 2 bis 3 Millionen geschätzt. Auch in den Landgemeinden dringen sie bereits vor. Wie sollen sich diese zu den Kinos stellen? Ihre Errichtung scheint zunächst einen Vorteil für die Gemeinden zu bedeuten, nehmen sie doch die Kinosteuer ein. Jede Gemeinde setzt diese Lustbarkeitssteuer fest und zieht sie ein, entweder als Pauschalsteuer, die etwa nach der Größe des Raumes für eine bestimmte Zahl erhoben wird, etwa 3 M. für den Vorstellungstag bei einem Raume, der bis 100 Personen faßt, und für jedes angefangene Hundert 2 M. mehr, oder Kartensteuer, die von jeder Eintrittskarte einen bestimmten Prozentsatz erhebt, etwa 10 Prozent; oder als Doppelsteuer, die eine Pauschal- und eine Kartensteuer ist. Es ist notwendig, daß sich die Landgemeinden rechtzeitig über diese Steuerfragen klar werden.

Für die Städte war die Steuer oft nur ein scheinbarer Gewinn, weil infolge des Rückgangs des Besuchs des städtischen Theaters ein um so größerer Zuschuß sich hierfür nötig machte. Als Beispiel nenne ich Münster. Für Landgemeinden besteht eine derartige Gefahr nicht. Indes drängen die Landgemeinden vor allem ideelle Gesichtspunkte zu einer entschiedenen Stellungnahme in der Kinofrage. Zunächst ist prinzipiell klar: der Kino ist an und für sich ein Kulturfortschritt, ebensogut wie die Photographie. Er ist ja nichts anderes als die "lebende Photographie". Aber der Kino von heute zeigt außerordentliche Auswüchse. Besonders gefährlich ist er für die Jugendpflege geworden. Überall, auch in der Provinz Westfalen, regt sich in erfreulichem Maße das Bestreben, unsere Jugend durch eine wohlorganisierte, energische Jugendpflege zu sittlich-religiöser Kraft, zu charaktervoller Selbständigkeit und zu vaterländischer Gesinnung heranbilden. Der Kino, wie er heute vielfach noch ist, arbeitet uns da nicht selten entgegen. Durch so manche Geistlosigkeiten, die der Kino bietet, macht er oberflächlich und stumpf. Er schwächt ethisch durch die in krimineller und sexueller Beziehung oft nicht einwandfreien Sensationsdramen. Er raubt den ruhigen und klaren Wirklichkeitssinn durch die wilde Phantastik der Stücke. Er erzieht nicht im vaterländischen Sinne, weil die ausländischen Filme überwiegen und diese süßliche Senimentalität, prickelnde Pikanterie und burleske Albernheit in unser Vaterland spülen. Ebenso gefährlich sind die schreienden Reklamebilder.

Allgemein ist heute der Notschrei über dieses Kinoelend, diesen Kinounfug. Doch wie helfen? Das zweckmäßigste wird es sein, uns den Feind zum Freunde zu machen. Praktische Arbeit leisten durch eine energische Reform der Kinos. Wir müssen den Kino zum Bildungsinstitut umgestalten. In dem Kino stecken ganz außerordentliche Bildungsmöglichkeiten. Darum muß er mit allen Mitteln dem Masseninstinkt und der Privatspekulation entrissen und einer edlen Volksbildung zurückgewonnen werden. Und dazu muß auch die Gemeinde helfen. Am besten und gründlichsten durch Errichtung von Gemeindekinos. Eine jede moderne Gemeinde ist ja heut darauf bedacht, die Bildung der Bürger und auch die Erholung und das Vergnügen auf ein edleres Niveau zu haben. Die großen Städte errichten Museen, Bibliotheken, Theater. Kleinere Gemeinden können derartige Institute nicht gründen. Aber sie könnten ohne allzu große Geldmittel ein Kino schaffen. Durchweg bei gechickter Leitung wird es sich finanziell selbst erhalten. Natürlich muß dieses Kinotheater so eingerichtet sein, daß es gleichzeitig als Versammlungslokal und auch für Vorträge und für Lichtbildervorführungen benutzt werden kann. Der Hauptfortschritt ist: es ist für die ganze Gemeinde eine große, allgemeine Bildungsstätte, ein Herd und Heim edler Volksbildung geschaffen. Man verhütet aber nebenbei auch, daß die Gemeindeglieder ihr Geld in den Kino der Nachbarstadt tragen. Besonders Samstags und Sonntags.

Kann eine Gemeinde sich ein eigenes Kino nicht leisten, so ist ein Wanderkino für die Provinz oder für einzelne Teile der Provinz ins Auge zu fassen. Ein Provinzialtheater hat sich, soweit ich unterrichtet bin, in Westfalen nicht halten können. Ein Kinotheater aber würde eine bessere Zukunft haben. Wünschenswert wäre es, innerhalb der Provinz eine Filmverleihzentrale zu gründen oder an eine schon bestehende, ideal geleitete, auf eine Kinoreform hinarbeitende sich anzuschließen, z. B. an die Lichtbilderei M. Gladbach. Dadurch wäre man in der Lage, sich wirklich gute Filme zu verschaffen und auch direkt auf eine Reform der Filmfabrikation einzuwirken. Ich denke dabei vor allem an heimatkundliche Filme (Filme mit Bildern aus der Provinz, Trachtenbilder, Festaufnahmen, Landschaftsbilder, Sitten, Gebräuche, Industrie, Natur- und Kunstdenkmäler). Es müßte die Aufgabe gerade der Landgemeinden sein, Heimatkunde und Heimatkunst zu pflegen. Später würde man sogar an Filmbibliotheken, an Filmarchive innerhalb der Gemeinde oder innerhalb der Provinz denken können, wo gute Heimatfilme als geschichtliche Dokumente aufbewahrt würden.

Welcher weitere Nutzen würde aus den Gemeindekinos erwachsen? Man wird auf dem Lande den Kino für Schulzwecke verwenden können und müssen. In manchen Städten hat man schon einschlägige Versuche gemacht, z. B. in Mannheim, Hannover, Hamburg, Altona und Brüssel. Der Kinematograph ist dazu eine billige Lehrkraft, die die Aufmerksamkeit von Hunderten von Schülern stundenlang durch eine lebendige Anschaulichkeit fesseln kann, besonders auf naturwissenschaftlichem und geographischem Gebiete. Es gibt schon sehr wertvolle Filme dieser Art, wie z. B. der reichhaltige Katalog: "Belehrende Filme für Schule und Volk" der erwähnten Lichtbilderei und Filmverleihzentrale in M.Gladbach beweist. Auch kann der Kinematograph in besonderer Weise für die Jugendpflege nutzbar gemacht werden. Überall, wo Bewegung in Natur- und Menschenleben gezeigt werden soll, ist der Kinematograph, der "Schreiber der Bewegung", an seinem Platze. Es können Bilder aus dem Vaterlande und aus weiter Ferne, Bilder aus dem Wirtschaftsleben und aus der Industrie, Militär- und Marinebilder, Bilder von Sport und Spiel vorgeführt werden. Tritt das begleitende, erklärende Wort hinzu, so wird der Kinematograph ein Bildungsfaktor allerersten Ranges. Aber die Krönung ist: den Kino zu einem der wirkungsvollsten Bildungsmittel für die ganze Gemeinde zu machen durch Ausschaltung aller auf die Instinkte spekulierenden Sensation und vielgestaltigste Verwendung im Dienste edelster Geistes- und Seelenkultur, wobei herzerfreuender, erquickender Humor nicht ausgeschlossen ist.

Der Kinematograph hat sich lawinenartig ausgebreitet, leider aber regel- und zügellos, zum Schmerze jedes aufrichtigen Volks- und Vaterlandsfreundes, zum Schmerze jedes, der die wahre Kulturhöhe und den wahren Kulturfortschritt einer Nation in edler, alle Schichten durchsickernder Bildung, in feinhöriger, feinnerviger Empfänglichkeit für die Sprache der Kunst und den Sinn edlen Lebensgenusses erblickt. Dieses hohe und leuchtende Ziel, das des Schweißes jedes Edlen wert ist, sollte vor allem auch wert sein des ernstesten, angestrengtesten Mühens von Staat und Gemeinde. Periculum in mora. Aber noch ist es nicht zu spät. Erst recht nicht auf dem Lande und in der Landgemeinde. - Am Schlusse der Ausführungen wurden folgende Thesen des Referenten angenommen:
1. Auch die Landgemeinden müssen bei der überraschend schnellen Ausbreitung der Kinematographen der Kinofrage ihr erhöhtes Interesse zuwenden.
2. Sie müssen von vornherein auf eine angemessene Kinosteuer Bedacht nehmen.
3. Sie müssen bestrebt sein, die Gefahren, die durch Bild und Film besonders unserer Jugend drohen, in jeder Weise (durch Aufklärung, Zensur, Verordnung usw.) zu verhüten.
4. Es ist die Gründung von Gemeindekinos, die keine großen finanziellen Opfer fordern, in Erwägung zu ziehen. Diese Institute sind zu verwerten: a) im Interesse der Schulen (naturwissenschaftlicher, geographischer Unterricht), b) zugunsten der Jugendpflege (Bilder aus nah und fern, Industrie, Wirtschaftsleben, Sport, Spiel, Militär-, Marine-, Flugwesen), c) zur Unterhaltung und Belehrung der Gemeindemitglieder.
5. Die Errichtung eines Wanderkinos, einer Filmverleihzentrale und eines Provinzialfilmarchivs (für heimatkundliche Filme) ist ins Auge zu fassen.
6. Zur Untersuchung dieser Fragen ist eine Kommission zu ernennen.

Prof. Dr. Sellmann, Hagen


QUELLE     | Bild und Film | 1. Jg., Heft 3/4, S. 86-88


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.9   1900-1949
Sachgebiet14.14   Film, Kino
DATUM AUFNAHME2004-05-10
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