QUELLE

DATUM1912   Suche Portal
URHEBER/AUSSTELLERSellmann, Adolf
TITEL/REGESTKino und Stadtverwaltungen
TEXTKino und Stadtverwaltungen.

Wie Pilze schießen neue Kinematographentheater in den Städten empor. Die Stadtverwaltungen können nicht mehr achtlos an ihnen vorübergehen; sie müssen sich um sie kümmern.

Zunächst scheinen die Städte großen Nutzen von den Kinos zu haben, denn es ist ja eine angenehme Sache für die Gemeinden, von ihnen die Lustbarkeitssteuer einzuziehen. Da diese "Lustbarkeitssteuer" Gemeindeangelegenheit ist, gibt es große Verschiedenheiten. In manchen Städten erhebt man für einen bestimmten Zeitabschnitt eine Pauschalsteuer, in andern eine Raumsteuer, in andern eine Billettsteuer, in noch andern nimmt man eine Doppelsteuer (Pauschal- und Billettsteuer, z. B. in Schöneberg). So sind die Einnahmen der Städte durch die Kinosteuer sehr verschieden, und es wäre interessant, wenn einmal eine Statistik der Kinosteuern in den verschiedenen Städten aufgestellt würde. Eine gewisse Einheitlichkeit liegt auch im Interesse der Kinobesitzer. Wie groß diese Steuer für eine Stadt sein kann, dafür nur ein Beispiel: Die Lichtbildtheaterbesitzer von Hannover und Umgegend rechnen in einer Eingabe vom 19. März 1912 dem Magistrat von Hannover vor, daß sechs Lichtbildtheater in den letzten drei Monaten in Hannover an Lustbarkeitssteuer, Gewerbesteuer und elektrischem Strom etwa 28 000 M. an die Stadt bezahlt haben, das sei ein Jahresbetrag von etwa 112 000 M. Oder noch ein anderes Beispiel: Die Neuköllner (Rixdorfer) Kinosteuer soll vom 1. April 1912 ab betragen bei einem Zuschauerraum bis zu 100 Plätzen 3 M. und für jede weitern angefangenen 100 Plätze 2 M. mehr für jeden Vorstellungstag.

Trotz dieser Einnahmen sind viele Stadtverwaltungen nicht von der Zunahme der Kinotheater erbaut, weil sie in ihnen eine schädigende Konkurrenz der Stadttheater erkennen. Es ist ja eine allgemein anerkannte und auch durch statistische Angaben erwiesene Tatsache (z. B. in Düsseldorf), daß seit der Zunahme der Kinematographen die Zahl der Besucher von eigentlichen Theatern und Konzerten vielfach abnimmt. Es ist das sicherlich keine erfreuliche Erscheinung; sie wirft, sofern die Theater nicht selbst schuld sind durch zu hohe Eintrittspreise, niedriges künstlerisches Niveau usw., ein schlechtes Licht auf die Bildungshöhe unseres Volkes. Der Stadttheatersekretär Karl Hedinger in Mülhausen (Elsaß) hat eine kleine Broschüre über "Städtische Theaterfragen" herausgegeben, die sich in der Hauptsache mit dem Verhältnis zwischen Stadttheater und Kinematograph beschäftigt. Er vertritt dort den Standpunkt, daß die Kinematographentheater, die den Namen Theater gar nicht verdienten, eine große Gefahr für die eigentlichen Theater darstellten (vgl. "Lichtbildtheater" Nr. 12, Jahrg. 4). Gerade das Mülhauser Theater leide erheblich unter dieser Konkurrenz. In einer Stadtverordnetenversammlung in Münster i. W. wurde bei der Etatberatung kürzlich festgestellt, daß die Einnahmen des städtischen Theaters bedeutend zurückgegangen seien, so daß der Zuschuß im nächsten Jahre um viele Tausende erhöht werden müsse. Dieser Einnahmeausfall sei wohl hauptsächlich auf die zunehmende Beliebtheit der Kinos zurückzuführen. Wir sehen demnach, daß der Gewinn des Stadtsäckels unter Umständen nur ein vermeintlicher ist, denn dem Gewinn auf der einen Seite entspricht auf der andern Seite ein um so größerer Verlust.

Die Stadtverwaltungen müssen demnach schon aus materiellen Gründen sich um die Kinos kümmern. Wichtiger sind jedoch die ideellen Gründe. Der Stadtgemeinde muß doch daran liegen, daß die Bildungsmöglichkeiten der Bürger immer reicher und trefflicher ausgestaltet werden. Ist aber der Kinematograph, wie er heute noch durchweg beschaffen ist, ein vorbildliches Bildungsinstitut? Jeder Sachkenner wird das verneinen. Als Produkt von Masseninstinkt und Privatspekulation ist der Kino vielfach zu einem Verbildungsinstitut hinabgesunken. Das gilt besonders von den sensationellen Dramen, deren größter Teil nicht anderes ist als ästhetischer Schund. Das Hinabgleiten des Kinos auf dieses Niveau ist um so mehr zu bedauern, als der Kinematograph, der "Bewegungsschreiber", richtig gebraucht, einen außerordentlichen Kulturfortschritt und ein sehr wertvolles Bildungsmittel bedeutet. Das hat auch eine große Reihe von Stadtverwaltungen erkannt und sich daher ernstlich mit dieser Sache beschäftigt. Zum Teil erwägen sie bereits die Errichtung eigner Kinos mit Mustervorstellungen. Sie erkennen, daß sie am wirksamsten die Schundfilme durch die Vorführung guter Filme bekämpfen, und daß Muster- und Reformkinos der Tod sind für Schundkinos. So hat Mannheim eine "Akademie für jedermann" (Dr. Wichert) mit ausgiebiger Benutzung des Kinos errichtet; Breslau will ein Kinohaus im Innern der Stadt mit Vortragsräumen errichten, in Hannover, Hamburg, Görlitz, Altona liegen schon beachtenswerte Versuche vor. Die Primärschule III in der Brüsseler Vorstadt Saint-Gilles hat schon ein besonderes Zimmer für kinematographische Vorführungen. Der Berliner Stadtverordnete Bruns hat in einer Stadtverordnetensitzung am 29. Februar 1912, indem er von den Bestrebungen zur Bekämpfung der Schundliteratur ausging, ausgeführt: "Wir können, meine Herren, auf diesem Wege auch noch in einer andern und sehr wirksamen Weise vorgehen. Wir könnten mit den Vororten zusammen ein großes Berliner Kino gründen, in das die Schuljugend nicht alle Jahre einmal, sondern möglichst oft hingeht... Wer je gesehen hat, mit welcher Spannung und mit welchen Blicken die Kinder jenen Vorführungen zuschauen, der muß zugeben, daß dies eine neue Art des Anschauungsunterrichts ist, der zum Vorteil der Schulkinder benutzt werden könnte" ("Lichtbildtheater" Nr. 10, Jahrg. 4). Wie bereits im vorigen Hefte von "Bild und Film" erwähnt wurde, hat Oberbürgermeister Ackermann von Stettin im Frühjahr dieses Jahres eine Rundfrage in den "Mitteilungen der Zentrale des Deutschen Städtetags" veranstaltet, um zu wissen, welche Stadtverwaltungen schon städtische Kinos errichtet haben oder einen derartigen Plan haben, damit man gegenseitig Absichten und Erfahrungen austauschen und vor allen Dingen auch gute Filme gemeinsam herstellen könne. Dabei denkt er hauptsächlich an Kinoaufnahmen von wertvollen und lehrreichen naturwissenschaftlichen, technischen, zeremoniellen und sonstigen zeitgeschichtlichen Vorgängen.

Es mögen diese Beispiele genügen. Man sieht, daß die Kinofrage früher oder später an alle Verwaltungen größerer und auch wohl kleinerer Städte herantritt. Es ist daher wünschenswert, daß schon jetzt ein Dezernent bei jeder Stadtverwaltung beauftragt wird, sich mit der Kinofrage ernstlich zu befassen und sich in den ganzen vielfach verschlungenen Komplex verwaltungstechnischer und volksbildnerischer Fragen dieses Gebietes, von denen wir nur einen Teil kurz streifen konnten, einzuarbeiten.

Prof. Dr. Sellmann, Hagen.


QUELLE     | Bild und Film | 1. Jg., Heft 2, S. 51-53


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.9   1900-1949
Sachgebiet14.14   Film, Kino
DATUM AUFNAHME2004-05-10
AUFRUFE GESAMT2400
AUFRUFE IM MONAT233