QUELLE

DATUM1919-09-15   Suche   Suche DWUD
AUSSTELLUNGSORTHerford
TITEL/REGESTTarifvertrag der Herforder Textilindustrie von der Arbeitgebervertretung und Arbeitnehmervertretung Textilindustrie
TEXT[S. 1] Tarifvertrag.

Zwischen dem Arbeitgeberverband für Handel und Industrie Herford, Gruppe Textilindustrie, einerseits, und dem deutschen Textilarbeiterverbande, Verwaltung Bielefeld, sowie dem Zentralverbande christlicher Textilarbeiter, Verwaltung Jöllenbeck, andererseits, ist am 15. September 1919 folgender Vertrag abgeschlossen worden:

A.) Arbeitszeit.

Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 46 Stunden. Die Verteilung der Arbeitszeit und der Pausen auf die einzelnen Werktage der Woche bleibt den einzelnen Betrieben vorbehalten, die sich darüber mit ihren Arbeiterausschüssen verständigen müssen.

Sämtliche Arbeiter und Arbeiterinnen haben zur festgesetzten Zeit pünktlich in ihren Arbeitsanzügen an ihren Maschinen bezw. Arbeitsplätzen zu sein und die festgesetzte Arbeitszeit genau innezuhalten. Das Verlassen der Arbeitsmaschinen bezw. der Arbeitsplätze vor Schluß der Arbeitszeit ist unstatthaft.

B.) Arbeitsgruppen.

Mit Hilfe der Arbeiterausschüsse sollen in den einzelnen Betrieben für sämtliche Beschäftigungsarten auf den Grundlöhnen Lohnsätze aufgebaut werden, die den besonderen Leistungen jeder einzelnen Gruppe gerecht werden.

Es wird unterschieden zwischen Fach- und Hilfsarbeitern. Facharbeiter sind Arbeiter, zu deren Ausbildung ein Jahr erforderlich ist. Arbeiter oder Hilfsarbeiter die sich zum Facharbeiter ausbilden wollen, haben während der Ausbildungszeit keinen Anspruch auf den Lohn der Facharbeiter. Welch Gruppen zu den Facharbeitern und zu den Hilfsarbeitern zu rechnen sind, ist in den einzelnen Betrieben mit Hilfe der Arbeiterausschüsse zu entscheiden.


C.) Arbeitslohn.

Die nachstehenden Lohnsätze gelten nur für voll leistungsfähige Arbeiter. Die Feststellung der Stundenlöhne für solche Arbeitnehmer, die durch Alter, Invalidität, Krankheit oder sonstige Ursachen nicht voll leistungsfähig sind, erfolgt durch die Betriebsleitungen in Verbindung mit den Arbeiterausschüssen. Meinungsverschiedenheiten, ob ein Arbeitnehmer vollwertig oder weniger leistungsfähig ist, werden durch die Betriebsleitung und den Arbeiterausschuß des betreffenden Betriebes geregelt. Im Falle der Nichteinigung entscheidet der Schlichtungsausschuß.

Lohnsätze für Herford.

Männer:

Gruppe I: 14-16 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 40-55 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 55-65 Pfg.

Gruppe II: 16-18 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 87 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 93 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 100 Pfg.

Gruppe III: 18-20 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 115 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 124 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 133 Pfg.

Gruppe IV: über 20 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 130 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 140 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 150 Pfg.

Heizer und Maschinisten 160 Pfg.
Gelernte Handwerker, die eine ordnungsmäßige Lehrzeit durchgemacht haben, für Klasse III 150 Pfg., für Klasse IV 170 Pfg.


Frauen:

Gruppe I: 14-16 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 40-55 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 55-65 Pfg.

Gruppe II: 16-18 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 65 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 71 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 78 Pfg.

Gruppe III: 18-20 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 80 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 88 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 96 Pfg.

Gruppe IV: über 20 Jahre
Allgemeiner Grundlohn: 90 Pfg.
Zeitlohn für Facharbeiter und Durchschnittsstücklohn für Arbeiter: 100 Pfg.
Durchschnittslohn für Facharbeiter: 110 Pfg.

Der allgemeine Grundlohn in Gruppe I 40-55 Pfg. ist dahin zu verstehen, daß im ersten Halbjahre 40 Pfg. gezahlt werden und von da ab allmählich steigend bis 55 Pfg.


D.) Urlaub

Der Urlaub soll ab 1920 wie folgt geregelt werden:

I.
  1. Es erhalten Urlaub alle Arbeiter und Arbeiterinnen nach mindestens einjähriger ununterbrochener Beschäftigungsdauer in dem gleichen Betriebe und zwar:

    nach 1 jähriger Beschäftigungsdauer 3 Urlaubstage
    nach 3 jähriger Beschäftigungsdauer 5 Urlaubstage
    nach 5 jähriger Beschäftigungsdauer 6 Urlaubstage
  2. Der 1. Mai gilt bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer als Stichtag.
  3. Unverschuldete Krankheit oder unverschuldetes Aussetzen der Arbeit gilt hinsichtlich der Beschäftigungsdauer nicht als Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses.
  4. Die in einem Betriebe vor Inkrafttreten dieser Vereinbarung zurückgelegte Arbeitszeit, sowie die Kriegsjahre werden bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs auf die Beschäftigungsdauer angerechnet.
  5. Urlaub außer der Reihe und unentschuldigte und unberechtigte Arbeitsversäumnisse, die nicht unter § 616 B. G. B. fallen, können von der Urlaubszeit in Abzug gebracht werden.
  6. Hat ein Arbeiter das Arbeitsverhältnis gekündigt, so hat er keinen Anspruch mehr auf Urlaub.
  7. Die Zeit des Urlaubs bestimmt die Betriebsleitung nach Anhören der Berechtigten; ihren Wünschen soll, soweit sich dieses mit den Betriebsverhältnissen vereinbaren läßt, Rechnung getragen werden.
  8. Den Arbeitern wird für jeden Urlaubstag der durchschnittliche Tagesverdienst der letzten 6 Wochen vergütet.
  9. Der Lohn für die Urlaubstage wird bei Antritt des Urlaubs im Voraus entrichtet.
  10. Verzicht auf Urlaub gibt keinen Anspruch auf Vergütung.
  11. [S. 2] Die Annahme anderweitiger Lohnarbeit während der Urlaubszeit ist verboten. Bei Zuwiderhandlung ist der für die Urlaubstage gezahlte Lohn zurückzuerstatten. Das Recht auf Urlaub für das folgende Jahr wird verwirkt.
  12. Wo bereits längerer Urlaub dauernd zugestanden ist, hat es dabei zu verbleiben.
  13. Sollten der Durchführung des Urlaubs Schwierigkeiten begegnen, so bleibt es dem Arbeitgeber vorbehalten, den Betrieb für die Dauer des Höchsturlaubes stillzulegen. In diesem Falle findet eine Vergütung an die Arbeiter nur im Rahmen des Urlaubsanspruches statt.



II.

Für 1919 sollen alle Arbeiter und Arbeiterinnen, die am 1. Juli beschäftigt waren, 4 Tage Urlaub ohne Rücksicht auf die Beschäftigungsdauer im Betriege erhalten. Diese Vereinbarung soll jedoch keine Gültigkeit haben für die Betriebe, die erst nach dem 30. Juni 1919 wieder in Betrieb gesetzt sind oder bei denen der Urlaub für 1919 bereits anderweitig geregelt ist.



Erläuterungsbestimmungen und besondere Bedingungen.

Beibehaltung höherer Lohnsätze.
Bereits bestehende höhere Lohnsätze werden nicht gekürzt.


Lehrlinge.

Anzulernende Arbeiter und Arbeiterinnen können nach freier Vereinbarung eingestellt und entlohnt werden. Die Höhe des Lohnes während der Lehrzeit wird im Einvernehmen mit dem Arbeiterausschuß festgesetzt.

Nachprüfen neu festgesetzter Stücklöhne.

Neu festgesetzte Stücklöhne gelten als angemessen, wenn der Durchschnittsverdienst von 6 Wochen den Grundlohn um 10 % über steigt.

Die Durchschnittslohnsätze werden auf Grund der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden errechnet. Nicht voll leistungsfähige Arbeiter und Arbeiterinnen werden bei Ermittlung der Durchschnittslohnsätze ausgeschieden. Solche Arbeiter haben keinerlei Anspruch über ihren tatsächlich verdienten Stücklohn hinaus. Dem Arbeiterausschuß sind auf Wunsch die Berechnungsunterlagen vorzulegen.
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Zeitlohn.

Bei Zeitlohnsätzen werden nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bezahlt.


Entschädigungen für Arbeitsunterbrechungen.

Bei Instandsetzung der Maschinen und sonstigen Arbeitsunterbrechungen, die nicht als Erwerbslosigkeit im Sinne der Erwerbslosenfürsorge gelten und deren Ursache nicht in der Person des Arbeiters liegt, wird für die Ausfallzeit eine Entschädigung gewährt, sofern dem zuständigen Betriebsbeamten die Unterbrechung sofort gemeldet wird. Die Entschädigung erfolgt nach dem Zeitlohn. Warten auf Material kann unter den gegenwärtigen Umständen keinen Anspruch auf Vergütung begründen. Kettenwechsel ist nicht als Wartezeit anzusehen. Für Arbeitsunterbrechungen, die im einzelnen Falle weniger als eine Stunde dauern, wird eine Entschädigung nicht gezahlt, es sei denn, daß durch Häufung solcher Unterbrechungen in einem Lohnabschnitt eine besondere Härte für den Arbeiter entsteht.


Überstunden.

Überstunden sollen nach Möglichkeit vermieden werden. Für sie ist ein Zuschlag von 25 %, für Nachtarbeiten (außer Schichtwechsel) und für Sonntagsarbeit ein Zuschlag von 50 % zu gewähren. Als Nachtarbeit gilt die Zeit von 10 Uhr bis 2 Stunden vor Beginn der Arbeitszeit.


Notstandsarbeiten.

Die Bezahlung von Notstandsarbeiten muß in freier Vereinbarung mit dem Arbeiterausschuß geregelt werden.


Vergütungen.

Bleibt der Verdienst des einzelnen Stücklohnarbeiters infolge schlechten Materials oder aus sonstigen nicht in seiner Person liegenden Gründen um mehr als 10 % hinter seinem Durchschnittsverdienst aus den letzten 4 Wochen zurück, so steht ihm eine entsprechende Entschädigung bis zur Höhe seines Durchschnittsverdienstes zu. Die Frage, ob der Minderverdienst auf schlechtes Material oder auf sonstige nicht in seiner Person liegenden Gründe zurückzuführen ist, ist nötigenfalls unter Mitwirkung des Arbeiterausschusses zu entscheiden.

Ist ein Betrieb gezwungen, einen Fachstückarbeiter länger wie eine Woche mit Facharbeit im Stundenlohn zu beschäftigen, so erhält der Facharbeiter seinen durchschnittlichen Akkordlohn berechnet nach dem Ergebnis des letzten Vierteljahres.


Streicks und Aussperrungen.

Während der Gültigkeit dieses Vertrages sind Aussperrungen, Verrufserklärungen (Boykotts) und Streiks ausgeschlossen.


Ordnung im Betriebe.

Der Arbeiterausschuß hat darüber zu wachen, daß die Ordnung innerhalb der Betriebe nach jeder Richtung hin gewahrt bleibt.


Schiedsgerichte.

Streitigkeiten sollen möglichst durch Verhandlungen zwischen Betriebsleitungen und den gesetzlichen Arbeitnehmervertretungen geschlichtet werden. Zu diesen Verhandlungen können auf Wunsch einer Partei die Vertreter der beiderseitigen Organisationen hinzugezogen werden. Falls keine Einigung erzielt wird, soll der Schlichtungsausschuß zuständig sein.


Beginn des Vertrages.

Dieser Vertrag tritt in Kraft mit dem 15. August 1919.


Dauer de Vertrages.

Der Vertrag wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen mit einer jederzeitigen Kündigungsfrist von 4 Wochen, jedoch soll eine erstmalige Kündigung nicht früher als zum 31. Dezember 1919 zulässig sein.


Herford, den 15. September 1919.

Arbeitgeberverband für Handel und Industrie Herford (Gruppe Textilindustrie.)
Rechtsanwalt Punge, Geschäftsführer. Titgemeyer

Deutscher Textilarbeiterverband Verwaltung Bielefeld.
Herm. Bierwirth.

Zentralverband christl. Textilarbeiter Verwaltung Jöllenbeck.
Fritz Gehring.
ERLÄUTERUNGDie ersten Tarifverträge 1919 waren häufig noch lokal sehr eingeschränkt. So gab es beispielsweise keinen Tarifvertrag für die gesamte Textilindustrie in Westfalen, sondern einzelne Verträge zwischen regionalen Unternehmern und Gewerkschaftsgruppen wie hier in Herford.


PROVENIENZ  Bergbau-Archiv Bochum
BESTANDHandelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld
SIGNATURK 3 Nr. 704


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Ort1.4   Ostwestfalen-Lippe
2.1   Bielefeld, Stadt <Kreisfr. Stadt>
2.3.3   Herford, Stadt
Sachgebiet10.6.4   Arbeitgeberverbände
10.6.5   Gewerkschaften, Arbeitervereine, Interessenverbände
10.9   Arbeit, Beschäftigte
10.9.4   Einkommen, Löhne
10.13   Industrie, Manufaktur
DATUM AUFNAHME2004-05-15
AUFRUFE GESAMT5083
AUFRUFE IM MONAT320