QUELLE

DATUM1854-11-06   Suche   Suche DWUD
AUSSTELLUNGSORTBielefeld
TITEL/REGESTAufruf des Verwaltungsrats der Ravensberger Spinnerei "zur Betheiligung an einer hier unter dem Namen Ravensberger Spinnerei gebildeten Actien-Gesellschaft"
TEXT[S. 1] Aufruf zur Betheiligung an einer hier unter dem Namen Ravensberger Spinnerei gebildeten Actien-Gesellschaft

Es ist hinlänglich bekannt, daß unsere Leinen-Industrie seit längerer Zeit im Sinken begriffen ist, und daß mithin die Hauptquelle des Wohlstandes für die hiesige Gegend zu versiegen droht. - Während das Leinengeschäft früher für alle daran Betheiligte einen reichlichen und lohnenden Erwerb abwarf, und unser Ravensberger Land ein blühendes und gesegnetes mit vollem Recht genannt werden konnte, haben jetzt die Weber kaum ihr nothdürftiges Auskommen, und die Spinner sind vollends dem bittersten Elend preisgegeben. - Die Armuth steigt auf dem Lande in furchterregender Weise, und Mangel an Arbeit zwingt jährlich hunderte fleißiger Menschen, durch Auswanderung ihre Kräfte, so wie große Summen Geldes der Gegend zu entziehen. -

Es ist wohl keiner unter uns, der nicht genugsam Gelegenheit gehabt hätte, sich von der Wahrheit dieser Bemerkungen durch eigenen Augenschein zu überzeugen. - Ein Jeder sieht ein, daß unsere Leinen -Industrie, in der bisher beibehaltenen Weise, ihren Mann nicht mehr nährt, und daß eine neue Bahn nothwendig eingeschlagen werden muß, wenn die Industrie der hiesigen Gegend erhalten bleiben, und dem großen Theil der Bevölkerung, der vom Ackerbau nicht leben kann, ferner die Mittel zur Existenz geben soll. - Die traurige Lage der Spinner und Weber entspringt aber nicht aus augenblicklichen ungünstigen Verhältnissen, sondern sie hat sich allmählig entwickelt, und liegt der Grund einfach darin, daß unsere Leinen nicht mehr mit den Leinen anderer Gegenden und Länder concurriren können. - Ohne eine durchgreifende Aenderung in dem ganzen Betriebe der Leinen-Industrie liegt daher die Befürchtung nur zu nahe, daß sich letztere in wenigen [S. 2] Jahren völlig aus Westfalen wegziehen, und daß dann unser Arbeiterstand in ein noch größeres Elend hineingerathen wird. -

Um dieser Eventualität nun, wenn möglich und so weit es in unsern Kräften steht, vorzubeugen, um ferner von vornherein durch ein großartiges, aus vereinten Kräften entstandenes, Etablissement unserer Industrie nebst der neuen Richtung auch einen nachhaltigen Impuls zu geben, sind die Herren W. R. Velhagen, Friedr. Möller, C. A. Delius & Söhne, Theod. Tiemann (für sich und im Namen seines Vaters des Herrn Dr. Tiemann sen.), H. M. Wittgenstein, Gassel, Ferd. Lueder & Kisker, F. W. Rabe, Bertelsmann & Sohn, F. W. Krönig, Chr. Niemann, I. Bansi, ferner die Herren Commissionsrath Kaselowsky in Leeds, Geh. Commerzienrath Diergardt in Viersen und Geh. Commerzienrath Carl in Berlin zusammengetreten, und haben unter Vorbehalt der landesherrlichen Genehmigung eine Actien-Gesellschaft zur Errichtung einer Flachsspinnerei von vorläufig 20,000 Spindeln unter dem Namen "Ravensberger Spinnerei" gebildet. -

Obgleich sich die genannten Herren ein gewinnreiches Resultat von ihrem Unternehmen versprechen - wovon die Summe ihrer Zeichnungen, nämlich 23,000 Thaler, Zeugniß gibt - so ist dies doch nicht der Gesichtspunkt gewesen, von welchem sie bei der Gründung der Gesellschaft ausgegangen sind; sie haben vielmehr, wie schon oben bemerkt, geglaubt, daß ein derartiger Schritt im Interesse der Stadt und der ganzen Gegend geschehen müsse. Denn was erstere betrifft, so braucht wohl nicht auseinandergesetzt zu werden, welch ein unberechenbarer Nachtheil das Aufhören der Leinenweberei für die Stadt sein würde. - Der Wohlstand der gesammten Einwohnerschaft, mit Ausnahme vielleicht der Beamten, ist mit dem Bestehen des Leinengeschäfts auf das Innigste verbunden; je mehr die Umgegend verarmt, je weniger Geld von auswärts nach Bielefeld für Leinen etc. zurückfließt, je schlechter wird auch jeglicher Verdienst in der Stadt werden. Darum ist es in unser Aller Interesse, ein Unternehmen, wie das vorliegende, zu unterstützen und zu fördern. Kömmt es in der beabsichtigten vorläufigen Ausdehnung zu Stande, so wird dadurch nicht allein beim Bau und beim Betrieb Massen von Menschen Arbeit gegeben, sondern es wird auch, was wohl zu erwägen ist, mehr als eine halbe Million Thaler fremdes Geld hierhergezogen, und dieses der ganzen Gegend zu Gute kommen. - Die Hauptsache aber, die wir durch vermehrte Flachsspinnereien zu erreichen hoffen, ist die, daß sich die gesammte Leinen-Industrie wieder heben, daß sie Arbeiter in größerer Anzahl und lohnender wie bisher beschäftigen, und daß sich damit der Wohlstand von Stadt und Land dauernd bessern wird.

Der unterzeichnete Verwaltungsrath fordert nun seine Mitbürger auf, sich durch Actien-Zeichnungen an diesem gewiß gemeinnützigen Unternehmen zu betheiligen. - Je größer und reichlicher die Zeichnungen sein werden, je mehr Aussicht ist vorhanden auf ein rasches Zustandekommen der Sache. - Das Actien-Kapital ist vorläufig auf eine Million Thaler festgesetzt worden, und beträgt jede einzelne Actie 200 Thaler, welche aber nur successive im Laufe der nächsten Jahre eingezahlt zu werden brauchen. -

[S. 3] Namentlich werden auch die Oekonomen und Grundbesitzer eingeladen, sich an dem Unternehmen reichlich zu betheiligen; sie sind nicht allein bei der Erhaltung der Leinenweberei wesentlich interessirt, sondern eine Flachsspinnerei, wie die projectirte, von 20,000 Spindeln bietet ihnen auch die größten Vortheile in Betreff der leichteren und besseren Verwerthung des gewonnenen Flachses dar, und wird der Flachsbau im Allgemeinen wieder lohnender werden.

Die hiesigen Mitglieder des unterzeichneten Verwaltungsraths, nämlich die Herren Friedr. Möller, Hermann Delius, Theod. Tiemann, C. A. Wittgenstein, Gassel, A. W. Kisker, Emil Rabe, F. W. Krönig, Niemann, I. Bansi, sind gern bereit, Actien-Zeichnungen entgegenzunehmen, so wie auf Verlangen nähere Auskunft zu ertheilen. - Auch sind bei denselben Exemplare des Statuts zur gef. Abnahme niedergelegt. -

Mögen sich nun recht Viele aus der Stadt und Umgebung, wenn auch nur mit niedrigen Summen, ein Jeder nach seinen Kräften, an der Sache betheiligen, und uns, die wir mit den Actien-Zeichnunen den Anfang gemacht haben, den Beweis liefern, daß das Unternehmen, als ein zeitgemäßes und, für die Zeichner sowohl als für die Gegend, nützliches, in allen Kreisen Anklang gefunden hat. -

Bielefeld, den 6. November 1854.

Der Verwaltungsrath der Ravensberger Spinnerei.
ERLÄUTERUNGMitte des 19. Jahrhunderts befand sich die Textilindustrie Westfalens in einer tiefen Strukturkrise. Diese Krise wurde u.a. durch die Konkurrenz von mechanisch hergestellten und damit preisgünstigeren Produkten aus dem Ausland ausgelöst. Um mit dieser Entwicklung mitzuhalten wurde auch in Westfalen die Produktion mehr und mehr von der Handarbeit auf mechanische Herstellung umgewandelt.

Auf Initiative des Bielefelder Leinenhändlers Hermann Delius gründeten mehrere Bielefelder Textilkaufleute die Ravensberger Spinnerei. Die Kaufleute verfügten über Kapital, das sie in die Neugründung investierten. Eine solche Investition versprach ein lohnendes Geschäft: Die Nachfrage nach Maschinengarnen war hoch, zudem gab es im Raum Bielefeld zahlreiche Spinner, die mit den grundlegenden Arbeitsprozessen vertraut waren. Die Initiatoren des Projekts konnten mit ihrem Aufruf etliche Bielefelder Leinenhändler zur Investition bewegen, so dass die Aktiengesellschaft mit 1 Mio. Taler Stammkapital gegründet werden konnte. Kurze Zeit später wurde das Stammkapital sogar verdoppelt.


PROVENIENZ  Stadt Bielefeld
SIGNATURZWK 6


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.8   1850-1899
Ort1.4   Ostwestfalen-Lippe
2.1   Bielefeld, Stadt <Kreisfr. Stadt>
Sachgebiet10.2   Wirtschaftsförderung, Wirtschaftspolitik, Gewerbepolitik
10.6   Wirtschaftsstruktur, Wirtschaftsorganisationen
10.6.1   Unternehmen, Unternehmer
DATUM AUFNAHME2004-05-23
AUFRUFE GESAMT2843
AUFRUFE IM MONAT297