QUELLE

DATUM1945   Suche   Suche DWUD
URHEBER/AUSSTELLERReisener, Klara
AUSSTELLUNGSORTFlaesheim
TITEL/REGESTKriegsende und erste Nachkriegszeit aus deutscher Sicht: Bericht der Flaesheimer Lehrerin Klara Reisener, 1945
TEXT[S. 97] Schon zu Beginn des neuen Jahres ließ sich erkennen, wie die Ereignisse mehr und mehr auf ein Ende des furchtbaren Krieges hinwiesen. Flaesheim war ständig mit Militär belegt. Die Truppe, die am 23. Dezember 1944 nach hier gekommen war, rückte am 9. Januar 1945 wieder ab. Schon am 10. Januar kamen etwa 250 Mann mit etwa sieben Offizieren wieder. Es war die vierte schwere Kompagnie A.4., eine Ausbildungskompagnie. Alle Klassen und Säle wurden belegt. Mitte Januar wurde auch der Kindergarten geschlossen und der Raum vom Militär benutzt. Für den Unterricht der Volksschule blieb nur der Modellraum übrig. Es konnte aber doch nicht viel unterrichtet werden. Die immer häufiger werdenden Alarme und plötzlich heranbrausende Tiefflieger störten zu oft. Zudem mußten die Kinder der Oberstufe mit den Lehrpersonen an der Straße Haltern - Datteln Einmannlöcher auswerfen, die Fußgängern, Rad- und Autofahrern Schutz vor Tieffliegern bieten sollten. Als stärkerer Frost auftrat, mußte diese Arbeit unterbrochen werden. Anfang März wurde sie aber wiederaufgenommen, da die Front immer näher rückte und die feindlichen Angriffe immer zahlreicher wurden.

Am 15. März 1945 wurde die Schule wegen zu großer Gefahr geschlossen. Die Schanzarbeiten wurden jedoch fortgesetzt. Sie wurden aber sehr oft durch Fliegeralarm unterbrochen. Jetzt mußten auch kriegsgefangene Russen, Ostarbeiter und Franzosen beim Schanzen helfen. Sie machten Maschinengewehr- und Geschützstände fertig und zogen Laufgräben. Ab 19. März war kein Strom mehr da. Am 22. März sah man Haltern an vier Stellen brennen. Die Angriffe kamen immer näher. Am selben Tag fiel eine Kette Brandbomben hier an der Vogelstange bis zum Dorf. Lülfs Scheune brannte ab.

Die Zwangsevakuierung wurde vorbereitet. Aber niemand hatte Lust, sich auf der Landstraße dem Verderben auszusetzen. Am Baggerloch bauten die Leute einen Bunker. Die Männer aus dem Stift begannen mit einem Stollen am Dachsberg, der uns im Notfall Unterkunft geben sollte. Frauen und Mädchen halfen dabei, während die Feindflieger über den Kronen der Bäume dahinrasten und Haltern durch Bomben zerstörten.

Am 24. März 1945 ging keine Post von hier mehr ab. Es kam auch nichts mehr herein. In Haltern war viel zerstört. Flüchtlinge kamen durch Flaesheim. Die Sorge vor der Zukunft wuchs immer mehr. Um 17.30 läuteten die Glocken Sturm. Alle hatten Angst vor der Zwangsevakuierung. Freiwillig wollte keiner gehen. Aber alle hatten das Notwendigste zum Mitnehmen zusammengepackt. Nachts zogen viele Soldaten ab.

Am Palmsonntag, dem 25. März 1945, waren alle Bewohner Flaesheims in großer Aufregung. Es war die Angst vor dem Kommenden. Doch der Tag verlief ruhig.

Wegen der drohenden Gefahr wurde die Erstkommunion der Kinder, die eigentlich erst am Weißen Sonntag gefeiert werden sollte, am Montag, dem 26. März in einer kurzen, schlichten Feier gehalten. Der Tag verlief verhältnismäßig ruhig. Nur die Tiefflieger waren besonders am Nachmittag sehr tätig und beunruhigten die Bevölkerung.

Am 27. März war Ruhe vor dem Sturm. Die Front war bedenklich näher gerückt. Doch es war beängstigend still. Kein Flieger war zu [S. 98] sehen, kein Schuß von der Front zu hören. Die Soldaten standen marschbereit.

Am 28. März hieß es, die Engländer und Amerikaner stünden zwei Kilometer vor Haltern. An den Brücken war alles für die Sprengung vorbereitet. Die deutschen Soldaten zogen abends fort. Gegen 22 Uhr explodierte ein Tankschiff, das nahe bei Luttmann im Kanal lag. Nachts haben wohl alle Einwohner Flaesheims in ihren Kellern geschlafen. Um ein Uhr begann ein wahnsinniges Zerstörungswerk: Kanal- und Lippebrücke hier in Flaesheim und auch in Haltern, Hamm-Bossendorf und Ahsen, wurden gesprengt. Viele Dächer wurden beschädigt und Scheiben zerstört, besonders an der Kirche und den Häusern in der Nähe der Brücken.

Am Gründonnerstag, dem 29. März kamen gegen Abend drei Amerikaner ins Stift. Sie waren über die zerstörten Brücken geklettert. Als sie erfahren hatten, daß keine deutschen Soldaten mehr im Stift waren, gingen sie wieder zurück. Nachts hörte man starkes Artilleriefeuer. Am anderen Morgen, Karfreitag, dem 30. März 1945, hatte ein deutscher Beobachtungsposten den Kirchturm besetzt. Das verhieß uns nicht Gutes, denn an der Seilbahn lagen amerikanische Truppen und Panzer bereit. An Gottesdienst konnte an dem Tage nicht gedacht werden. Kurz nach 19 Uhr begann die Artillerie zu schießen, die deutsche und die feindliche. Wohl alle Flaesheimer haben diese Nacht wieder im Keller verbracht. Viel Schlaf bekamen wir nicht. Man hörte immer wieder den Einschlag der Artilleriegeschosse, bald näher, bald ferner.

Am Karsamstag, dem 31. März 1945, konnten wir feststellen, daß in Flaesheim glücklicherweise kein größerer Schaden angerichtet worden war.

Der Ostersonntag, der 1. April 1945, wird allen Einwohnern Flaesheims unvergeßlich bleiben. Am Morgen war der Posten vom Kirchturm verschwunden, alle deutschen Soldaten fort. Nach einigen kleinen Aufräumungsarbeiten konnte in der Kirche eine hl. Messe gelesen werden: Jede Feierlichkeit unterblieb aber angesichts der bestehenden Gefahr. Es war ein trauriges Osterfest. Kurz nach 13 Uhr fuhren plötzlich amerikanische Panzer ins Stift ein. An allen Häusern erschienen weiße Fahnen. Nun gingen die amerikanischen Soldaten in alle Häuser und durchsuchten sie nach deutschen Soldaten und Waffen. Später wurden noch einmal die Wohnungen genauer nachgesehen. Viele Bewohner Flaesheims mußten ihre Wohnungen für die Amerikaner räumen und bei Verwandten, Bekannten oder guten Freunden Unterkunft suchen. Was eben ging, wurde mitgenommen. In manchen Häusern waren 30 und mehr Personen zusammengepfercht. Das Schulgebäude mußte ganz geräumt werden.

Ostermontag kamen immer neue Truppen. Immer mehr Familien wurden ausquartiert. Nur von 10 bis 13 Uhr war Ausgehzeit, sonst durfte man sich ohne besondere Erlaubnis nicht auf der Straße sehen lassen. Wir hatten kein Licht, kein Radio, keine Zeitung, keine Post, kein Leitungswasser.

Am Mittwoch, dem 4. April 1945 waren morgens die Amerikaner fort. Nun konnten wenigstens alle Leute wieder in ihre Häuser gehen. Aber es fehlte an allem. Kaufen konnte man nichts, nicht einmal Brot. Viele waren auf die helfende Liebe von Nachbarn oder Freunden angewiesen.

Bis zum 11. April hörte man täglich den Geschützdonner der Front. Genaue Nachrichten gab es nicht, da wir ja von allem abgeschnitten [S. 99] waren. Die Ausgehzeit wurde nach und nach verlängert.

Am 18. April war Ausgehzeit von 7 bis 20 Uhr.

Am 19. April war große Freude in ganz Flaesheim: das Wasser war wieder da. Damit war viel Arbeit gespart.

Am 23. April wurde jeglicher Unterricht von der Militärbehörde verboten.

Am 26. April bekam Flaesheim einen neuen Ortsbürgermeister, den Pächter Ludger Brüse.

Anfang Mai kam die Nachricht von dem totalen Zusammenbruch des Nationalsozialismus in Deutschland und der bedingungslosen Kapitulation.

Wie überall, so begann man auch hier in Flaesheim die Schäden des Krieges zu beseitigen. Die größten Schwierigkeiten entstanden hier in Flaesheim durch das Fehlen der Brücken, da viele Flaesheimer ihre Äcker und Wiesen zwischen Lippe und Kanal, teils sogar nördlich der Lippe haben. Den Personen wurde der Übergang über die Stege an den Schleusentoren gestattet. Auch Kühe wurden oft herübergetrieben. Um auch mit Pferden und Wagen über den Kanal zu kommen, wurde unterhalb der früheren Kanalbrücke bei Fischer ein Damm durch den Kanal geworfen. Er ist aber nicht lange benutzt worden. Der Kanal sollte für die Schiffahrt wieder freigemacht werden. Engländer haben die Brückenteile, die im Kanalbett lagen, mit Panzern herausgezogen bis oben auf den seitlichen Damm. Der neue Damm wurde wieder gesprengt. Viele Leute brachten Heu und Korn mit Schiebkarren und Bollerwagen über die Schleuse. Es war eine mühsame Arbeit. Bauern, die ihre Wiesen nördlich der Lippe hatten, mußten mit ihren Handwagen über Haltern fahren.

Nach Beendigung des Krieges kamen bald die Arbeitsmaiden zu Fuß aus ihren letzten Lagern heim und dann auch bald die ersten Soldaten. Um sich vor Plünderungen durch Polen und Russen zu schützen, wurden Ortspolizisten ernannt. Bei der Verfolgung eines Russen wurde am 27. Mai der Ortspolizist Wilhelm Lülf erschossen.

Am 31. Mai war Fronleichnam. In diesem Jahre konnte die Prozession wieder ihren gewohnten Weg durch die Felder nehmen. Das war seit vielen Jahren nicht mehr möglich gewesen, weil die nationalsozialistische Regierung die Prozession verboten hatte. Die Besatzungsmacht hatte sie nur auf Militärstraßen verboten. Die Leute hatten überall besonders festlich geschmückt.

Am 14. Juni war endlich in ganz Flaesheim das elektrische Stromnetz wieder in Ordnung. Nun hatten wir doch wieder Wasser und Licht. Das war schon wieder ein Fortschritt! Die alte große Kirchenglocke aus dem Jahre 1526 konnte am 15. Juni wiedergeholt werden. Die kleine Glocke war leider schon eingeschmolzen. Die große Glocke wurde schon bald eingesegnet und hochgezogen. Als wir am 22. Juni nachmittags draußen auf den Feldern nach Kartoffelkäfern suchten, hörten wir das Geläute unserer großen Glocke zum erstenmal wieder.

Allmählich kam alles wieder in Ordnung. Vom 1. Juli an ging auch wieder Post von hier ab. Für die Privatpost waren zwar nur Postkarten zugelassen, die man am Schalter abgeben mußte. Einmal in der Woche erschien nun auch die "Neue Westfälische Zeitung"; später gab es zwei Zeitungen wöchentlich. Das Ausgehverbot wurde auf die Zeit von 22.30 bis 4.30 Uhr beschränkt. [S. 100]

Am 28. Juli rückte ein Sprengkommando von 40 Engländern und 25 Deutschen hier ein. Sie wohnten in Zelten. Ihre Aufgabe war es, das Kanalbett wieder freizulegen.

Am 3. August kamen 106 Engländer nach hier. Nun wurden die zwei alten Schulklassen belegt. Die neue Klasse und das Lehrerzimmer mußten auch geräumt werden, wurden dann doch aber nicht benutzt. Die Engländer fuhren jeden Tag zur Arbeit nach der Eisenbahnbrücke in Hamm-Bossendorf. Ende Oktober waren alle Engländer fort. Die beschlagnahmten Klassen und Häuser wurden wieder freigegeben.

Vom 1. September an durfte man auch wieder Privatbriefe schreiben und Pakete (bis zu zwei Kilogramm) verschicken und konnte auch wieder telegrafieren innerhalb der britischen Zone. Hier in Flaesheim wurde die Posthilfsstelle leider aufgehoben. Es kam jeden zweiten Tag ein Briefträger von Haltern, brachte Postsachen und nahm sie auch von hier mit. Erst am 1. Dezember wurde hier eine neue Posthilfsstelle eingerichtet.

Am 2. September wurde hier die erste Gemeinderatssitzung abgehalten. Die neuen Gemeinderäte waren Franz Brinkert, Klaus Niewerth, Josef Fimpler und Wolter.

Am 17. September erhielten beide Lehrpersonen von Flaesheim die Nachricht, daß sie zum Schuldienst wieder zugelassen seien. Mit dem Unterricht durfte aber noch nicht begonnen werden. Die Genehmigung für den Unterricht in der Grundschule kam zuerst. Am 29. Oktober konnte damit begonnen werden. In der Kirche war morgens eine feierliche hl. Messe. Dann gingen alle in einer Prozession zur Schule. Der Herr Pastor Rüping nahm die Einsegnung der Schule vor. Dann folgte eine kleine Feier mit Liedern, Gedichten und einer Ansprache des Herrn Pfarrers. 23 Schulneulinge wurden aufgenommen, 12 Knaben und 11 Mädchen. Die Grundschule zählte insgesamt 69 Kinder. Am 11. November durfte auch die Oberstufe wieder mit dem Unterricht beginnen. Es waren 53 Kinder darin. Um Kohlen zu sparen, wurde eine Klasse morgens und nachmittags abwechselnd benutzt.

Den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein suchten die Schulkinder fleißig nach Kartoffelkäfern und deren Larven. Auf vielen Feldern wurden Tausende von beiden gefunden. Auch Heilkräuter wurden gesammelt: 96 kg Birkenblätter, 60 kg Brombeerblätter und 15,5 kg Heideblüten.

Im Dezember 1945 kamen die ersten Ostflüchtlinge nach hier. Es waren 37 Personen. Im Jahre 1945 wurden in Flaesheim zehn Geburten, sechs Eheschließungen und zehn Sterbefälle registriert. Dazu kommen noch vier Gefallene:
Josef Bergjürgen starb am 19. Januar 1945 bei einem Fliegerangriff auf Lask, 30 Kilometer südwestlich von Litzmannstadt,
Josef Schulze Nichtring ließ sein blühendes Leben bei den Kämpfen in Libau in Kurland im März 1945,
Theo Große-Büning fiel am 15. März 1945 in Schömkain bei Gnadenfeld (Oberschlesien),
Josef Große-Büning folgte seinem Bruder nach drei Wochen im April 1945 bei den Kämpfen um Wien.
ERLÄUTERUNGKlara Reisener war bis 1962 Lehrerin in Flaesheim.


QUELLE    Kalfhues, Franz Josef (Red.) | Stunde Null und Neubeginn | S. 97-100


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DATUM AUFNAHME2004-07-20
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