Frauen- und Geschlechtergeschichte > Einführung


 

1. Die Entstehung einer neuen Sichtweise
von Geschichte

 
 
 
Mit der Frage "Was wäre die Geschichte, wenn sie mit den Augen der Frauen betrachtet und nach von ihnen definierten Maßstäben geordnet würde?“ umriss die amerikanische Historikerin Gerda Lerner Mitte der 1970er Jahre das Programm einer neuen Geschichtsbetrachtung, in deren Folge sich zahlreiche Forscherinnen auf die Suche nach den "vergessenen“ Frauen aus der Vergangenheit gemacht haben. Werke von vermeintlich unbekannten Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen wurden wieder entdeckt und Zeugnisse über die Anfänge der Frauenbewegung gefunden, die den Nachweis führten, dass die bisherige männlich dominierte Geschichtsschreibung Frauen und ihre spezifischen Handlungs- und Erfahrungsräume aus der Kultur ausgeklammert hatten. Zunächst bestimmten Fragen nach den gesellschaftlichen Orten, nach den Auslassungen und Fehldeutungen die Historische Frauengeschichte: diese hatte sich als erstes zur Aufgabe gemacht, die Leerstellen in der von Männern dominierten Geschichtsschreibung zu füllen und Frauen als Handelnde sichtbar zu machen. Die Aufgabe der Historikerinnen bestand also darin‚ kompensatorisch, d.h. ergänzend, die bislang unberücksichtigten Quellen zu sichten, und sie in den Zusammenhang der 'allgemeinen’ Geschichte einzuordnen.
Dem kompensatorischen Ansatz folgt auch Gisbert Strotdrees in seiner Veröffentlichung "Es gab nicht nur die Droste“: In kurzen Artikeln beschreibt er - zeitlich weit gespannt - 60 Lebensläufe vorwiegend unbekannter, "gewöhnlicher“ Frauen aus Westfalen und versucht deren Handeln sichtbar zu machen. Im Rahmen eines  Projekts ist ein Großteil der Biografien über das Internet-Portal zugänglich.

Einen grundlegenden Überblick über Projekte in Rheinland und Westfalen gibt Birgit Beese in dem Aufsatz  "Frauenstadtgeschichte - Ansätze und Anliegen, Grenzen und Beschränkungen" sowie für das Ruhrgebiet das Internetportal
"FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE'"
 
 
In einem weiteren Schritt wurde danach gefragt, nach welchen Normen und Werten Männer und Frauen zusammen lebten und arbeiteten und wie sie an der Gestaltung ihrer politischen Umwelt teil hatten. Mit diesem erweiterten geschlechtergeschichtlichen Ansatz konnte gezeigt werden, dass die jeweiligen Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter immer wieder neu beschrieben und ausgehandelt werden mussten.

Es zeigte sich allerdings, dass eine Integration der Inhalte nur durch eine radikale Infragestellung der bisherigen Methoden und Begriffe der Geschichtswissenschaft möglich war. So wurde z. B. deutlich, dass gängige Epocheneinteilungen (Periodisierungen) hinterfragt werden mussten, wollte man angemessen die jeweilige Bedeutung und Funktion der unterschiedlichen Räume und Handlungsoptionen für Männer und Frauen in der Geschichte erforschen. Zudem kamen neue historische Themen hinzu, die die spezifischen Lebens- und Erfahrungswelten von Frauen erforschen halfen. Damit wurde der traditionelle politik- und verfassungsgeschichtliche Zuschnitt der herkömmlichen Geschichtswissenschaft aufgebrochen, und Fragen gestellt nach der Geschichte der 'Geschlechter’-Beziehungen und der Art und Weise, wie Weiblichkeits- und Männlichkeitsnormen hergestellt wurden und wie sie auf Menschen und Gesellschaften wirkten.
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 Marie Schmalenbach (1835-1924) heiratete 1857 den Theologen Theodor Schmalenbach, mit dem sie 1863 nach Mennighüffen / Löhne zog. Ihr Leben als Pfarrersfrau war geprägt von den bürgerlichen Idealen der Hausfrau, Mutter und Ehefrau und stellte für sie als dichterisch und schriftstellerisch ambitionierte Frau zeitlebens ein Konfliktpotential dar.
 
 
 

2. Die Kategorie 'Geschlecht’

 
 
 
Mit der Einführung der Kategorie 'Geschlecht’ (gender), die ähnlich wie Schicht/Klasse (class) und Ethnie (race) zur Grundkategorie historischer Forschung erklärt wurde, erweiterte der frauengeschichtliche Ansatz sein analytisches Werkzeug. Im Mittelpunkt der Forschungen standen nun Fragen nach den jeweiligen Werteübereinkünften einer Gesellschaft, wie auch danach, auf welche Weise und mit welchem Ergebnis solche Vorstellungen ausgehandelt und durchgesetzt wurden. So führten gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen, wie sie z. B. durch Erziehung und Bildung geprägt wurden, zu ungleichen Voraussetzungen zwischen Männern und Frauen.

Ebenso prägend wurde die strikte Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit, die Frauen in den privaten, Männer in den öffentlichen Raum verortete. Welche Erwerbsarbeiten darüber hinaus von Frauen geleistet werden konnten, wurde oftmals weniger von ihren Interessen bestimmt als vielmehr von aktuellen Notwendigkeiten. Entsprechend waren die Formen der politischen Teilhabe von Frauen und Männern auch unterschiedlich und verliefen zum Teil quer zu gängigen Handlungsweisen.
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Nach dem Krieg halfen Frauen - wie hier bei der  Schuttbeseitigung in Münster - als Trümmerfrauen beim Wiederaufbau und hielten die Familie zusammen. Das neue Rollenverständnis war jedoch nur 'aus der Not geboren’ und daher vorübergehend: Nach der Normalisierung der Verhältnisse dominierten recht schnell auch wieder traditionelle Vorstellungen von den Aufgaben, die Männer und Frauen zu übernehmen hatten.
 
 
 

3. Aktueller Forschungsstand in
Westfalen-Lippe

 
 
 

3.1 Publikationen

 
 
 
Überblickt man nun die historische Forschung der letzten Jahre zum Thema "Frauen“ im westfälischen und lippischen Raum, so fallen zu aller erst Titel von lokalen Stadtrundgängen bzw. Ausstellungen ins Auge wie "Frauen machen Geschichte“, "Keine Geschichte ohne Frauen“ oder "Hexe, Hausfrau, Heilige“. Diese Titel verweisen eher auf eine additive Perspektive, neben wichtigen Männern herausragende Frauen sichtbar zu machen.

Daneben finden sich aber auch Publikationen, die anhand ausgewählter Portraits exemplarisch unterschiedliche Lebenszusammenhänge von Frauen vorstellen. Im Mittelpunkt dieser Beiträge stehen sowohl bekannte wie weniger bekannte Frauen der jeweiligen Lokalgeschichte, deren Biografien erzählt und zumeist in den Kontext der städtischen Alltags-, Kultur- und Sozialgeschichte eingeordnet werden.
 
 
Diese nachgezeichneten Portraits möchten nicht nur einen Einblick in individuelle Handlungs- und Lebensmuster weiblicher Stadtbewohnerinnen (meist vom 16. bis 20. Jahrhundert) geben, sondern versuchen darüber hinaus, über die Darstellung unterschiedlicher Aktions- und Erfahrungsfelder, Handlungsspielräume von Frauen zu analysieren. Themenfelder sind hier v.a. Familie, Erwerbsarbeit, Politik, Kultur, (Aus-)Bildung und Religiosität.

Beispiele für eine solche Geschichtsbetrachtung finden sich z. B. in dem 1998 vorgelegten Sammelband  "Frauengeschichte(n) aus Ostwestfalen Lippe“, der im Verbund der Gleichstellungsstellen der Region entstanden ist. Anstelle der Auflistung einmaliger individueller Lebensläufe, werden in ihm nach Karriereverläufen, sozialen Verhaltensräumen und den Auswirkungen sozialer, ökonomischer und kultureller Verhältnisse auf das historische Leben von Frauen gefragt. Zudem geht es in diesen Beiträgen um 'Differenzen’, d. h. um die Unterschiede in den verschiedenen Lebenslagen und Alltagserfahrungen von Frauen. Diese werden verstanden als Vielfalt weiblichen Handelns, die sich eindimensionalen Betrachtungen im Sinne einer Leidens- und Verlustgeschichte entziehen.
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Handlungsspielräume von Frauen bei der Erwerbsarbeit: Viele Frauen üben nach wie vor einen 'typisch' weiblichen, pflegerischen oder sozialen Beruf aus. Anschauliches Beispiel:  Krankenschwestern im Wickelraum der Landesfrauenklinik Bochum
 
 

3.2 Aktivitäten und Veranstaltungen

 
 
 
Wirft man nun einen Blick auf die Aktivitäten und Veranstaltungen - wie Ausstellungen, Stadtrundgänge und Vorträge -, so lässt sich seit Anfang der 1990er Jahre im Raum Westfalen-Lippe ein gestiegenes Interesse an frauengeschichtlichen bzw. geschlechtergeschichtlichen Themen ausmachen. Dabei erhält das Erforschen und Präsentieren von historischen Zeugnissen vergangenen Frauen-Lebens gerade durch seinen lokalen Bezug seinen spezifischen Stellenwert:
Zum einen fungiert die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Frauen als Identifikationsgeschichte, die auf der "Suche nach den Spuren von Frauen“ das kulturelle Gedächtnis einer Stadt oder Region um den weiblichen Anteil erweitert. Zum anderen verortet und begründet sie aber auch frauenpolitische Partizipationsforderungen der Gegenwart.
 
 
 

3.3 Frauengeschichtsvereine

 
 
 
Schon die ersten, Ende der 1980er Jahre aus der Taufe gehobenen Frauengeschichtsvereine in Westfalen setzten sich mit der diskriminierenden Wirkung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auseinander. Einstimmig machten die Mitglieder vor allem die Entwertung der privaten Frauenarbeiten, insbesondere der Hausarbeit, dafür verantwortlich, dass weibliche Lebensentwürfe und Sichtweisen in der Öffentlichkeit zu wenig Berücksichtigung finden.

Auf bundes- und landesweiter Ebene bestehen 'Netzwerke historisch arbeitender Frauen’ (s. "Institutionen"). Seit den Anfängen hat die Idee, mit und für Frauen die lokale Frauengeschichte aufzuarbeiten, ein wachsendes Interesse gefunden. Das Engagement, die kontinuierliche Arbeit und die Breitenwirkung haben wesentlich dazu beigetragen, dass heute Historische Frauenforschung zum Thema in der Region geworden ist.

Inzwischen gibt es unzählige Veröffentlichungen, Stadtrundgänge und Ausstellungen zur Frauengeschichte einzelner Städte und Teilregionen in Westfalen-Lippe. Eine der ersten Bestandsaufnahmen für das Rheinland und Westfalen hat Birgit Beese erstellt:  Frauengeschichte - Ansätze und Anliegen. Für Lippe lohnt sich ein Blick in die bereits genannte(n)  "Frauengeschichte(n)“, wo auf entsprechende Literatur und Projekte in Lippe verwiesen wird. Eine Auswahl lokaler Publikationen befindet sich in der Literaturdatenbank im Bereich "Dokumentation“ dieses Portals und kann dort recherchiert werden.

Im Jahre 1999 führte das Referat für Historische Frauen- und Geschlechterforschung des LWL-Instituts für Regionalgeschichte eine Fragebogenaktion zu laufenden Initiativen zur lokalen und regionalen Frauengeschichte in Westfalen-Lippe durch. Die Auswertung bestätigte die Einschätzung: So findet sich eine Vielzahl von Themen zum politischen Handeln von Frauen, zum Thema geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und zur Religions- und Bildungsgeschichte. Ergänzend lassen sich neue Formen von Interessensgruppen ausmachen, die z. B. das Thema Frauengeschichte als Tourismusthema für sich entdecken.
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In Münster bietet z.B. die Geschichtswerkstatt "ZeitenLauf'" neben anderen Projekten Stadtrundgänge zur Geschichte von Frauen in Münster an. Zu sehen ist hier das Titelbild einer  Informationsbroschüre. Weitere Informationen zu frauengeschichtlichen Stadtrundgängen finden sich auf der Website von Miss Marples Schwestern.


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Mädchen beim  Nähkurs im St. Johannes-Stift Marsberg