PERSON

FAMILIESchildesche, von
VORNAMEMarcswidis


GESCHLECHTweiblich


BIOGRAFIEEine Frau namens Marcswidis gründete im Jahr 939 in Schildesche, heute ein Stadtteil von Bielefeld, ein Frauenstift. Rund 300 Jahre später schrieb ein unbekannter Autor - wahrscheinlich in Schildesche - einen Text nieder, der Näheres über die Anfänge des Stifts und vor allem über Leben und Werk der Marcswidis überliefert.

Historisch exakt wird man diese in lateinischer Sprache abgefasste Schilderung kaum nennen können - der Bielefelder Historiker Gustav Engel hat sie sogar als ein "Kindermärchen voll plumper Wundergeschichten" bezeichnet und als eine "wertlose Quelle" abgetan. Man kann allerdings fragen, warum sich jemand um das Jahr 1200 hinsetzt und ein derart ausführliches, vor allem aber ein so außergewöhnliches Lebensbildnis verfasst. Denn Marcswidis wird dargestellt als eine fromme Frau, die einem hohen Paderborner Domherrn die Stirn bot und keinen Geringeren als den Papst in Rom des Betrugs überführte. Vor allem aber wird eine Frau geschildert, deren Leben und Werk einer gängigen mittelalterlich-theologischen Auffassung grundlegend widersprach: der Auffassung nämlich, daß Frauen das "schwache, schuldbeladene Geschlecht" seien.

Harmlos und unverfänglich freilich beginnt die Lebensbeschreibung: "Es ist gewesen eine adlige Dame im Gau namens Wassega, genannt Marcswidis, welche an zierlichen Sitten und liegenden Gütern überflüssig reich gewesen." Das Geburtsdatum der Marcswidis wird nicht überliefert. Ohne Geschwister wuchs Marcswidis auf. Jung sei sie gewesen, als ihre Eltern sie mit einem Adligen verheirateten, "um ihr hohes Geschlecht zu vermehren" und um "durch die göttliche Gütigkeit" einen Erben der so überaus großen Ländereien zu erhalten.

Doch die Ehe blieb kinderlos. " Marcswidis war ihrem Eheherrn unfruchtbar", so urteilt die Lebensbeschreibung, "damit aus ihrem Herzen eine unaufhörliche geistliche Geburt desto nützlicher konnte herausgehen."

Nach dem Tod ihrer Eltern und ihres Ehemannes lag allein in ihrer Hand die freie Verwaltung und Vollmacht über den ererbten Besitz. In dieser Zeit reifte in ihr der Entschluss, sich selbst mit ihrem umfangreichen Hab und Gut Gott zu weihen. Nach dem Vorbild des Herforder Klosters, vom sächsischen Adligen Waltger gegründet, habe sie beschlossen, das Fundament für ein Frauenstift zu legen.

Doch Marcswidis, so wird weiter berichtet, stieß auf erheblichen Widerstand - und das ausgerechnet von Seiten zweier geistlicher Verwandter: Ein Vetter der Marcswidis, der Paderborner Domherr Hogerus, und seine Schwester Emma, Ordensfrau im genannten Kloster zu Herford, setzten alles daran, Marcswidis umzustimmen.

Das Streitgespräch zwischen Hogerus und Marcswidis ist eine Schlüsselszene des Lebensberichts. Es enthält eine für das Mittelalter ungeheure Provokation, die freilich erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist.

In dem Streitgespräch fordert Hogerus von Marcswidis, sie solle ein weiteres Mal heiraten und einen Erben für den Besitz gebären. Hogerus spricht damit im Interesse der Adelsfamilie, führt aber als Begründung die natürliche und göttliche Ordnung an: Durch die Sünde Adams und Evas, so sein Argument, sei der Tod in die Welt gekommen, doch der Tod sei nicht so mächtig, dass er die Weitergabe des Lebens verhindern könne. Hogerus fügt hinzu: "Wenn alle anderen Weibspersonen von so unerhörter Grausamkeit wären, so hätte der Erschöpfer das große Bauwerk dieser Welt umsonst aufgerichtet." Der Paderborner Domherr beschließt seine Rede mit dem Appell an Marcswidis: Genüge Deiner weiblichen Pflicht, werde Mutter, und Du wirst vom ganzen Volk gerühmt und gepriesen."

Eben diese göttliche und weltliche Ordnung stellt Marcswidis in ihrer Erwiderung grundsätzlich in Frage. Sie führt ein seltsames, auf den ersten Blick düster-pessimistisches Argument gegen den Paderborner Domherren an: Gebären - das heiße letztendlich, dem Tod Tribut zu zollen; "der Mensch", so seufzt sie, "geht vom ersten Tag der Geburt an mit gleichem Schritt dem Leben und dem Tod zu."

Die ewige Unvergänglichkeit, die Gott seinen Geschöpfen ursprünglich zugedacht habe, habe durch Eva "schier unersetzlichen Schaden erlitten"; durch sie habe der Teufel, "der alte Feind", zum erstenmal gesiegt. Marcswidis nun sieht gerade hier ihre weibliche Pflicht: Es gehe nicht darum, neues Leben zu gebären und dadurch die Folgen der Ursünde abzumildern; es gehe vielmehr darum, dem Teufel keinen weiteren Sieg zu gestatten - und das sei vornehmlich Aufgabe der Frau, denn: "So wie der alte Feind bei dem schwachen Geschlecht seinen Erfolg errang, so soll er auch bei eben diesem Geschlecht seine Niederlage erleiden."

"Dieser Gedanke ist außergewöhnlich", urteilte der Bielefelder Historiker Heinrich Rüthing in seinem Festvortrag anlässlich der 1050-Jahr-Feier von Stift und Kirche in Schildesche. "In der mittelalterlichen Theologie, die - das sei zugestanden - vornehmlich von Männern formuliert wurde, gelten die Frauen als das schuldbeladene Geschlecht. Die meisten Theologen waren sich sicher, dass der Teufel den Mann mehr zu fürchten habe als die Frau." Und nun also, folgt man dem lateinischen Gründungstext, behauptet Marcswidis rundweg das Gegenteil!

Doch die Provokation wird schärfer, wenn man folgendes bedenkt: Nach einhelliger Meinung der mittelalterlichen Theologen hatte nur eine Frau der Schuld Evas etwas entgegenzusetzen - nämlich Maria. "Diesen Hintergrund", so Rüthing, "muss man im Auge haben, wenn man den oben angeführten Satz von Marcswidis in seiner vollen Tragweite und Bedeutung erfassen will." Der Bielefelder Historiker urteilt weiter: "Ich kenne aus dem Mittelalter wenige Äußerungen, die die Rolle des schwachen Geschlechts - dieser Ausdruck ist in der mittelalterlichen Theologie gängig - so entschieden und so selbstbewußt aufwerten wie die der Marcswidis. Ich frage mich manchmal, ob wir wie üblich so einfach von den unbekannten Verfasser der Vita Marcswidis sprechen dürfen, oder ob wir nicht auch die Möglichkeit erwägen müssen, dass der bedeutendste Text aus der Schildescher Geschichte von einer Frau verfasst oder doch grundgelegt worden
ist."

Die Erzählung berichtet weiter, dass Marcswidis gemeinsam mit ihrem Vetter Hogerus nach Paderborn reiste. Dort erhielt sie für ihre Stiftsgründung das Einverständnis des Bischofs Dudo von Paderborn.

"Im Jahr nach des Herrn Fleischwerdung neunhundert neun und dreißig" begann der Bau der Kirche am Ufer des Johannesbaches in Schildesche, "einem über alle Maßen fruchtbaren und von allen Sachen überfließenden Ort" Diese Anspielung an das biblische Paradies ist kein Zufall, sondern hebt noch einmal die Verbindung hervor zwischen Eva, der "Ursünderin", und Marcswidis, der Stiftsgründerin und Streiterin wider den Teufel.

Ehrsame Meister aus Frankreich, so die Beschreibung weiter, seien gerufen worden, um den Bau zu errichten. Im Jahr 940, ein Jahr nach der Stiftsgründung, habe sich Marcswidis auf dem Weg zur Reichsabtei Corvey gemacht, um dort bei Kaiser Otto I. vorzusprechen. Auf ihr Bitten stellte der Kaiser das neu gegründete Frauenstift unter seinen besonderen Schurz. "Mit dem Zeugnis des erteilten Privilegs", so die Vita Marcswidis, "zündete sie nun ganz schleunigst die zum Kirchenbau eifrigen Handwerker mit dem Feuer eines größeren Verlangens an. Soldaten und Geistliche, Waffenträger und Bauern legten ohne Unterschied Hand ans Werk Es war nicht notwendig, die Unwilligen anzutreiben, sondern vielmehr die Willigen aufzuhalten."

Nachdem sie das kaiserliche Schutzprivileg erhalten hatte, setzte Marcswidis alles daran, sich auch des machtvollen Schutzes eines Heiligen zu versichern. Da sie ihr Leben und Werk dem Heiligen Johannes dem Täufer anvertraut hatte, war sie fest entschlossen, eine Reliquie dieses Heiligen nach Schildesche zu holen. Sie bereitete sich auf eine Reise zum Papst in Rom vor.

In Rom angekommen, betete sie vor den Gräbern der Apostel Peter und Paul um Gelingen ihres Vorhabens. Anschließend, so die Schilderung, habe sie beim Papst Marinus II. ihre Bitte vorgetragen. Die westfälische Adlige erhielt seine Zustimmung, und wenig später, "an einem sicheren Tage", wurden vor ihren Augen die Reliquien einiger Heiliger in ein hölzernes Kistchen gelegt; heimlich aber entzogen päpstliche Kleriker die zuvor gezeigten Reliquien des Heiligen Johannes. Das Kistchen wurde verschlossen und der Frau überreicht.

Marcswidis entdeckte den Betrug auf der Rückreise. Als sie zum ersten Mal nachts vor dem Reliquienkästchen betete, soll ihr der Heilige Johannes erschienen sein und gerufen haben: "Ich bin nicht hier bei Dir!"

Unverzüglich kehrte Marcswidis nach Rom zurück. In einer flammenden Rede eröffnete sie dem Papst das Geschehene. Sie appellierte an seine Barmherzigkeit, "damit Deine Schäflein nicht verderben", und forderte noch einmal die Reliquien des Heiligen Johannes. "Der Papst war über das vorgefallene Wunder zutiefst entsetzt. Er bekannte seine Schuld und bat um Vergebung." Und weiter heißt es: "Er händigte ihr die Reliquien. aus, ließ die Frau mit großer feierlicher Pracht ihrer Wege ziehen, und er hat dieses denkwürdige Ereignis in das Hauptbuch eintragen lassen."

Dass Marcswidis jetzt tatsächlich die echten Reliquien erhalten hatte, wurde ihr auf der Heimreise bestätigt. Noch einmal sei ihr der Heilige Johannes erschienen - diesmal mit den Worten:"Gehe in Frieden, denn ich bin bei Dir!"

Diese Erlebnisse der Marcswidis kann man als eine "köstliche legendenhafte Erzählung" oder auch als eine typische mittelalterliche "Anekdote" lesen - man kann sie aber auch als eine handfeste, wenn auch hintergründig formulierte Kritik am Papst beziehungsweise am päpstlichen Klerus deuten, vor deren machtbesessener Hinterhältigkeit sich Marcswidis umso deutlicher abhebt; "hätte sie in Rom eine abschlägige Antwort bekommen", so heißt es in der Lebensbeschreibung mit durchaus spitzem Unterton, wäre sie weiter nach Konstantinopel, ja sogar bis ins Heilige Land gereist. Im übrigen wird der Papst dargestellt, als sei er "von allen guten Geistern", von allen Schutzheiligen, verlassen - ganz im Gegensatz zu Marcswidis, die keinen geringeren als Johannes den Täufer auf ihrer Seite weiß.

Marcswidis kehrte zurück nach Schildesche. Auffallend ist, dass die Lebensbeschreibung lediglich zwei Orte ihres Rückweges nennt: Zum einen die Bischofsstadt Paderborn, wo Marcswidis "unter der Begleitung vieler Menschen, die zu Ehren des Heiligtums zusammenliefen, herrlich ins Kloster aufgenommen wurde". Zum anderen wird als weitere Station der Rückreise seltsamerweise ein Ort namens "Silehusen" genannt; er liege in der "Wüste, welche man die Sinadi nennt". Gemeint ist der noch heute existierende Hof Selhausen am nördlichen Rand der Senne bei Lämershagen.

Unzähliges Volk sei in Selhausen bei der Ankunft der Marcswidis zusammengelaufen, um dem kostbaren Schatz zu huldigen. Marcswidis soll daraufhin den Menschen angeraten haben, die Erinnerung an die Überführung der Johannes-Reliquien alljährlich am Pfingstmontag mit einer Flur-Prozession zu feiern. Nach der herausgehobenen Rolle, die der Ort Selhausen in der Lebensbeschreibung spielt, wurde vermutet, er sei vielleicht der ursprüngliche Wohnsitz der Marcswidis gewesen. Diese Vermutung klingt durchaus plausibel, weitere Belege freilich gibt es nicht.

Auch in Schildesche, so die Lebensbeschreibung weiter, strömten die Menschen zusammen, als Marcswidis heimkehrte. Mit den Reliquien des Heiligen Johannes wurde die Stiftskirche geweiht.

Etliche Jahre später verstarb Marcswidis - "durch viele Mühe, durch Arbeit und hohes Alter abgemattet". Das Todesjahr ist unbekannt, allerdings ist in der Schilderung seltsamerweise ihr genauer Todestag - nämlich der 30. Juli - angegeben. Sollte dieser Tag nach dem Willen des unbekannten Autors oder der unbekannten Autorin als ein Tag besonderer Erinnerung im Stift begangen werden? Sollte er vielleicht sogar als Festtag einer Heiligen gefeiert werden?

Beendet wird die Schilderung mit einem doppelten Angriff des "alten Feindes" - und einem doppelten Sieg der Schildescher Frauen. Kaum nämlich war Marcswidis verstorben und im Klosterumgang beigesetzt, da meldete sich ihr einstiger Widersacher, der Paderborner Domherr Hogerus zu Wort. Er wird nun in den finstersten Farben gezeichnet - wütend, geifernd, "von Hoffahrt aufgeblasen". Fast meint man, eine feine Ironie zu vernehmen: ein Mann, noch dazu ein Kleriker, in dem der "alte Feind" am Werke ist.

Wiederum tritt Hogerus als Sprecher der Adelsfamilie der Marcswidis auf und fordert von den Schildescher Frauen das Stiftungsgut zurück. Mit üblen Drohungen, die ihm der Teufel eingeflößt haben soll, überschüttet er das Stift. Doch bevor der Domherr seine Worte in die Tat umsetzen kann, stürzt er auf dem Weg von Paderborn nach Schildesche vom Pferd. Er bricht sich den Hals und verstirbt - damit scheitert der Teufel zum ersten Mal.

Nach diesem, wie es ausdrücklich heißt, "äußeren" Angriff folgt die "inwendige" Attacke des Teufels und seiner "neidigen Höllengeister": Sie beschießen die "keuschen Herzen" der Stiftsfrauen mit "giftbeschmierten Pfeilen", um die Eintracht der frommen Gebetsgemeinschaft zu zerstören. Doch auch damit scheitert der Teufel, und er verflucht sich selbst mit den bezeichnenden Worten: "Pfui meiner! Ich habe die ersten Eltern (Adam und Eva) ins ewige Verderben stürzen können. Nun aber kann diese schwarze verächtliche Gesellschaft der Frauen unsere Kräfte vernichten!"

Was der unbekannte Erzähler oder die unbekannte Erzählerin damit verdeutlichen will, liegt auf der Hand: Die Hoffnung der Stifterin Marcswidis, im Streit mit Hogerus geäußert, erfüllt sich letztendlich. Was Adam und vor allem Eva im Paradies nicht schafften, Marcswidis und die Schildescher Frauen holen es gleichsam nach: den Teufel zu besiegen. "Das Stift", so noch einmal Heinrich Rüthing, "wird zu einer von Frauen besetzten Festung der Frömmigkeit, an der die Pfeile des Bösen abprallen."

Nun bleibt freilich die Frage, warum dieser Text im 13. Jahrhundert, rund zehn Generationen nach der Stiftsgründung, niedergelegt wurde. Darüber wurden im Laufe der Zeit etliche Spekulationen angestellt.

Zwei Deutungen jüngeren Datums seien hier abschließend genannt. In der Festschrift zur 1050. Wiederkehr der Stiftsgründung wird folgende Vermutung angestellt: Der Text, in dem eine Reihe von Urkunden geschickt eingeflochten sind, sei niedergeschrieben worden, um den verfassungsrechtlichen Status und den Besitzstand des Stiftes Schildesche abzusichern.

Der unbekannte Verfasser habe den Kanonissen ihre hohen Aufgaben vor Augen führen wollen, meint hingegen der bereits mehrfach zitierte Heinrich Rüthing. In seinem Festvortrag erinnert er ferner daran, dass die Institution der Frauenstifte "immer eine schlechte Presse gehabt" habe. Die Skepsis gegenüber Kanonissenstiften habe eine lange Tradition, die weit ins Mittelalter zurückreiche. Die Päpste beispielsweise - so Rüthing - konnten es nur schwer verwinden, dass Frauen in religiösen Gemeinschaften lebten, ohne sich durch Gelübde dauerhaft an eine Ordensregel zu binden. Angesehene theologische Gelehrte wie Jakob von Vitry (gest. 1254) warfen den Stiftsgemeinschaften Hochmut, Heuchlerei und Besitzdenken vor.

Vieles deutet darauf hin, dass die Lebensbeschreibung der Marcswidis auch verfasst wurde, um diese und ähnliche Vorwürfe zu entkräften, um erzählend gegen sie zu argumentieren. Sicher scheint nur so viel: Zu den üblichen theologischen Schriften des Mittelalters, die Frauen generell als "schwaches, schuldbeladenes Geschlecht" verurteilen, entwirft die Schildescher Lebensbeschreibung ein außergewöhnliches und scharfsinniges Gegenbild.

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 12-15
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2003-07-31


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 12-15

DATUM AUFNAHME2003-07-31
DATUM ÄNDERUNG2019-06-05
AUFRUFE GESAMT15198
AUFRUFE IM MONAT79