BIOGRAFIE

FAMILIEWeddigen
VORNAMEOtto


GEBURT DATUM1882-09-15
GEBURT ORTHerford
TOD DATUM1915-03-18
TOD ORTPentland Firth/vor Schottland


BIOGRAFIE

Von der Verfallszeit des Ruhmes

Der Spross einer Herforder Patrizierfamilie kam dadurch zu zweifelhaftem Ruhm, dass er im Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant an einem Tag drei englische Schlachtschiffe versenkte.

Was ist eigentlich - unzeitgemäß gefragt - Heldentum? Eine von mehreren denkbaren Antworten könnte lauten: die große Tat plus Charisma. Beide zusammen sind es zumeist, die die Nachgeborenen dann mit propagandistischen Mitteln zunächst in Legenden und, mit größer werdendem Zeitabstand, in - wie man hofft - möglichst unsterbliche Mythen verwandeln. Apropos Propaganda. Helden entstehen kaum aus eigener Kraft - sie wurden und werden gemacht zum Zweck höherer Identitätsstiftung. Aber dafür müssen sie in der Regel zunächst einmal tot sein. Erst so lassen sie sich von ihren Apologeten ungefragt in Dienst nehmen. Das gilt, um im Lande zu bleiben, für den ältesten Westfalenheros, den Cheruskerfürsten Hermann, ebenso wie für einen der jüngeren, und der hieß Otto Weddigen. Es gab eine Zeit, da kannte hier jedes Kind seinen Namen und die Geschichte, die sich mit ihm verband. Heute ist er gründlich vergessen.

Sein Leben war kurz genug. Otto Weddigen wurde 1882 im ostwestfälischen Herford als Sohn einer alteingesessenen und kinderreichen protestantischen Patrizierfamilie geboren, aus der im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Geistliche, Intellektuelle und erfolgreiche Kaufleute hervorgegangen waren. Sein Vater war ein vermögender Textilfabrikant. Nach dem Besuch des Friedrichsgymnasiums meldete er sich 1901 als Kadett zur Kaiserlichen Marine. Da war er gerade 19 Jahre alt, ein sportlicher, gut aussehender Abiturient, wenn man den hinterlassenen Fotografien glauben darf (und sicher auch der Traum mancher Schwiegermutter). Die Reichsmarine bediente damals nicht nur die Abenteuerlust junger Männer, sondern bot auch - anders etwa als das nach wie vor vom preußischen Adel dominierte Heer - sehr reale Aufstiegschancen für ambitionierte bürgerliche Aufsteiger. Als junger Leutnant zur See ging er 1906/1907 zum ersten Mal auf große Fahrt, die ihn zur deutschen Kolonie Tsingtau nach China führte. Die Marineführung wurde aufmerksam auf den ehrgeizigen Seeoffizier. Wieder zurück in Deutschland, fand er bei der noch jungen U-Boot-Waffe weitere Verwendung. 1910 erhielt er sein erstes eigenes Kommando. Ein Jahr später, 1911, wurde Weddigen Kommandant des U 9, einem kriegstauglichen Unterseeboot der jüngsten Generation.

Der Tag, an dem Otto Weddigen zum Helden wurde, ist später immer wieder neu beschrieben worden. Das war der 22.09.1914. Zwei Tage zuvor war das deutsche U 9 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Weddigen von Helgoland aus bei schwerer See zu einer Aufklärungsfahrt gen Westen aufgebrochen. Der Erste Weltkrieg zählte gerade wenige Wochen, und die deutsche Seekriegsführung suchte dringend propagandistisch verwertbare Erfolge. Nach rund 200 Seemeilen sichtete der Ausguck im Ärmelkanal in den frühen Morgenstunden auf der Höhe von Hoek van Holland an jenem 22. September drei englische Panzerkreuzer. Der Kommandant griff an und versenkte zuerst die HMS Aboukir und dann kurze Zeit später HMS Hogue und HMS Cressy, die dem angegriffenen Schwesterschiff zur Hilfe kommen wollten. Jeder Kreuzer war mit 12.000 Bruttoregistertonnen vermessen. Etwa 1.500 Besatzungsmitglieder fanden den Tod, 800 konnten gerettet werden. Weddigen erhielt für diesen seinerzeit in ganz Deutschland bejubelten Erfolg das Eiserne Kreuz 1. und 2. Klasse. Auch die Mannschaft wurde mit Orden geehrt.

Kaum drei Wochen später torpedierte er mit seinem Boot vor der schottischen Küste den englischen Kreuzer HMS Hawke. Daraufhin verlieh ihm der Kaiser als erstem deutschen Marineoffizier persönlich den "Pour le Mérite", den höchsten preußischen Verdienstorden (den die Briten in typischem understatement "blue Max" nannten). Damit war sein Ruhm begründet. Seine Heimatstadt Herford ernannte ihn zum Ehrenbürger. Da war er gerade frisch verheiratet, 32 Jahre alt. Aber das sollte nicht alles sein.

Nachdem die deutsche Reichsregierung der Welt im Februar 1915 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg erklärt hatte, der es der neuen Unterseewaffe erlaubte, Handelsschiffe der Entente-Mächte und ihrer Verbündeten ohne Vorwarnung zu torpedieren, versenkte Weddigen innerhalb kurzer Zeit drei britische Handelsschiffe. Am 18.03.1915 ereilte ihn schließlich das Schicksal, als sein neues Boot U 29 von dem englischen Schlachtschiff HMS Dreadnought im Pentland Firth zwischen dem schottischen Festland und den Orkney Inseln auf Tauchfahrt gerammt und versenkt wurde. Hierbei fand die gesamte Mannschaft den Tod.

Heute kann man sehr berechtigt darüber streiten, ob es denn eine Heldentat ist, hinterrücks einen unvorbereiteten Feind anzugreifen und blind so viele Menschenleben zu vernichten. Das wurde damals, im nationalistischen Nebel, von unseren Vorfahren anders gesehen. Längst ging es nicht mehr um Ritterlichkeit und den Kampf Ebenbürtiger auf Augenhöhe, sondern um die Effizienz moderner Waffensysteme. Und da war jedes Mittel recht. Als die deutsche Führung im Januar 1915 den Seekrieg auf die neutrale Handelsschifffahrt ausweitete, traf sie eine verhängnisvolle Entscheidung, die letztendlich den kriegsentscheidenden Eintritt der USA auf Seiten der Ententemächte provozierte. So erwies sich Weddigens frenetisch gefeierter Sieg schließlich als tragischer Bumerang, als Phyrrussieg.

Die deutsche Niederlage konnte indes den durch die Propaganda ins Leben gerufenen Legenden nichts anhaben. Da dem fabrikmäßig organisierten Tod auf den Schlachtfeldern Flanderns und Frankreichs wenig Heldisches abzugewinnen war, verfiel man in den nationalen Redaktionsstuben bald auf den Heros Weddigen oder den 1918 im Luftkampf abgeschossenen Jagdflieger von Richthofen, die, ein jeder für sich, die neuen, modernen Waffensysteme verkörperten.

Ähnlich wie einhundert Jahre zuvor, als in den Befreiungskriegen Theodor Körner oder die Schill'schen Husaren zu Helden hochgeschrieben worden waren, schuf man jetzt neue nationale Vorbilder für die Zeit danach. In millionenfach verbreiteten Erinnerungsbüchern und Boulevardzeitungen wurde Weddigens Leben und Sterben in Massenauflagen kolportiert. Porträtbüsten, Wandteller mit seinem Konterfei, künstlerisch gestaltete Bronzemedaillen für Sammler taten ein Übriges. In den folgenden Jahren der Weimarer Demokratie hielten sie die Erinnerung an den Krieg wach. Als die Nationalsozialisten mit tätiger Unterstützung des deutschen Bürgertums die Republik beerbten, nannten sie die gleichgeschaltete Studentenschaft ausgerechnet nach einem, der nie eine Universität von innen gesehen hatte: Otto Weddigen.

Auch die Heimat vergaß ihn nicht. Schon 1915 hatte der Provinzialverband Westfalen auf Empfehlung von Landeshauptmann Dr. Hammerschmidt im Berliner Kunsthandel ein Porträt von der Hand des Kunstmalers Fritz Reusing erworben, das dann als Ikone während der Kriegsjahre den Plenarsaal des westfälischen Provinzialparlaments in Münster schmückte. Nach der Weltkriegsniederlage "entsorgte" man das Porträt zunächst ins Westfälische Provinzialmuseum, wo es offenbar zunächst einen angemessenen Platz in der Schausammlung fand. Es bedurfte eines zweiten, noch ungleich grausameren Krieges, der dann den Helden von einst in die Kellermagazine vertrieb. Dort befindet sich Weddigen noch heute. Nur auf Trödelmärkten kann man ihm hin und wieder begegnen - auf Postkarten aus "großer Zeit".

Was lässt sich nun aus dieser Geschichte lernen? Zunächst einmal dies: Helden haben ihre Verfallszeit, sie unterliegen gewissen Konjunkturen, aber es gibt sie noch heute. Die Medien verkaufen sie uns tagtäglich. Nur sind sie austauschbarer und beliebiger geworden. Ihr Pathos heißt Glamour, ihr Glanz verblasst rasch und immer rascher. Und wir nennen sie im zeitgemäßen "Denglisch" anders: Superstars. Sie kommen und gehen und werden schließlich gnädig vergessen. Aber sie müssen in unserem Kulturkreis für ihren beliebigen Ruhm nicht mehr töten. Und nicht mehr vor der Zeit sterben. Immerhin etwas.

Volker Jakob, Westfalenspiegel 1, 2006

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