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(108 KB)   Hertha Koenig (1884-1976) / Bielefeld, Pendragon-Verlag   Informationen zur Abbildung

Hertha Koenig (1884-1976) / Bielefeld, Pendragon-Verlag
FAMILIEKoenig
VORNAMEHertha


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1884-10-24
GEBURT ORTGut Böckel/Roedinghausen
EHEPARTNER1910-1913: Woerner, Prof. Roman (1863-1945), Literaturwissenschaftler
TOD DATUM1976-10-12
TOD ORTGut Böckel/Roedinghausen


VATERKoenig, Carl, Gutsbesitzer (gest. 1927)
MUTTERHelfferich, Julie (gest. 1937)


BIOGRAFIE

"Die vollkommensten Anfänge..."
Hertha Koenig (1884-1976),
die westfälische Dichterin

"Sie sind immer wieder vor die vollkommensten Anfange gestellt in allem und sind dann jedesmal in der Lage einer glücklichen Jahreszeit, der sich von einem Tag auf den anderen das Vielfältigste entfaltet. Sie haben unbeschreiblich ungebrauchte Kräfte und Antriebe, Lust, Blick, Bereitschaft und eine in aller Heimlichkeit gediehene Reife, die unter dem Schutzlanger, fast schon definitiv gewordener Schüchternheit zur Entscheidung gekommen ist."[1]

Als ihr langjähriger Freund Rainer Maria Rilke 1918 dies Zeilen an Hertha Koenig schreibt, ist sie 34 Jahre alt und hat bereits zwei Gedichtbände und zwei Romane mit großem Erfolg veröffentlicht.[2] Dennoch: Eine gestandene Schriftstellerin ist Hertha Koenig vom eigenen Selbstverständnis her nie gewesen. Ebensowenig entsprach sie den Vorstellungen ihrer damaligen Zeit in bezug auf Bestimmung und Gestaltung eines Frauenlebens: Nach kurzer Ehe geschieden, blieb sie ihr weiteres Leben unverheiratet und kinderlos.

Das wertvollste Verdienst von Hertha Koenig liegt meines Erachtens darin, daß sie die größten Widersprüchlichkeiten in ihrer Persönlichkeit zu einem Ganzen vereinigte, indem sie diese Widersprüche konsequent in Lebensmaximen von überraschender Klarheit umsetzte. Sie gestaltete ihr Dasein auf eine Art und Weise, daß es sich bereits zu ihren Lebzeiten den Bewertungskriterien von "männlich" und "weiblich" ebenso entzog wie den von Konvention und Norm vorgegebenen Maßstäben.

Eine 'femme fatale' war Hertha Koenig nicht - im Gegenteil. Sie war eine Frau, der 'leisen Töne', eine hervorragende Zuhörerin, eine scharfe Beobachterin, die sich niemals in den Vordergrund drängte. In Gesellschaft wirkte sie häufig geradezu schüchtern. So soll ihr Mann, der Literaturprofessor Roman Woerner, angesichts ihrer ersten schriftstellerischen Arbeit voller Überraschung ausgerufen haben: "Wie, reden kannst Du nicht, aber schreiben!"[3] Die aufrichtige Bescheidenheit ihres Wesens war jedoch gepaart mit einem energischen Charakter.

Zeit ihres Lebens hat sie sich um Bewußtheit und Klarheit ihres Handelns bemüht, indem sie alles Erreichte immer wieder aufs Neue in Frage gestellt hat, weil sie nichts ungeprüft zur Selbstverständlichkeit werden ließ und jegliches Tun gründlich durchdachte. Wie Rilke zu Recht feststellte, war die ungebrochene Schaffenskraft von Hertha Koenig vor allem in ihrer Bereitschaft begründet, stets offen zu sein für einen neuen Anfang, der ihr dann tatsächlich zumeist auf das Vollkommenste geriet


Kindheit und Jugend einer 'Weltbürgerin' in Westfalen

Hertha Koenig kann als 'Weltbürgerin' bezeichnet werden, soweit die Herkunft ihrer Familie und deren Einfluß auf ihre Kindheit und Jugend als Wertmaßstäbe herangezogen werden. Als sie am 24.10.1884 auf dem zwischen Herford und Bünde gelegenen Rittergut Böckel geboren wird, befindet sich dieses alte, schöne Anwesen erst seit zehn Jahren im Besitz der Familie Koenig. Somit wird mit ihrer Geburt in Westfalen zwar eine lebenslange Liebe zu dieser Landschaft und dem Geburtsort begründet, aber die Familientradition hat andere Wurzeln.

"Ihre Eltern, Carl Koenig und Julie Koenig, geb. Helfferich, hatten das Gut von Herthas Großvater geschenkt bekommen, der es 1874 von den Erben des Bielefelder Fabrikanten Delius gekauft hatte. Die Familie Koenig war im zaristischen Rußland des 19. Jahrhunderts durch industrielle Zuckerproduktion zu ungeheurem Reichtum gekommen. Neben riesigem Landbesitz und Gütern in der Ukraine und Palais' in Petersburg besaß Herthas Großvater Leopold Koenig für einige Jahrzehnte auch die spätere Villa Hammerschmidt in Bonn am Rhein, den nachmaligen Amtssitz des Bundespräsidenten. Ihr Onkel baute schräg gegenüber diesem Anwesen das 'Museum Alexander Koenig' und gründete dort ein weithin bekanntes zoologisches Forschungsinstitut."[4]

Herthas Mutter entstammte einem Stadtpfarrhaus in Schwäbisch Hall und war das jüngste von dreizehn Kindern. Vertraut mit der Heiterkeit der schwäbischen Landschaft und der fröhlichen Mentalität ihrer Landsleute in der Heimat, litt Julie Koenig zeitweilig sehr unter der nebeligen Schwere des alten Rittergutes im Herzen Westfalens. Dennoch ist es vor allem ihrem Einfluß zu verdanken, daß ihr Mann, Carl Koenig, dem Wunsch seines Vaters Leopold schließlich folgte und nach anfänglichem Widerstreben in seine Aufgabe als Gutsherr von Böckel hineinwuchs. Auch Julie Koenig fügte sich selbstverständlich in die Pflichten einer Gutsherrin und sorgte für eine standesgemäße Erziehung ihrer beiden Kinder Hertha und deren älteren Bruder Georg.

Obwohl beide Eltern einen gewissen Ernst ausstrahlten, der dem sensiblen Kind zeitweise ziemlich unbehaglich war, genoß Hertha eine unbeschwerte Kindheit auf Gut Böckel. Dem "ordentlichen" Spiel mit ihren Puppen, wie es die Mutter gern gesehen hätte, zog sie das ungezwungene Herumstreifen in der Natur vor. In der Umgebung des Anwesens hatte sie zahlreiche Schlupfwinkel für sich entdeckt, wohin sie sich gern zurückzog und ihrer Phantasie freien Lauf ließ. Da die Kinder zunächst Privatunterricht erhielten, endete dieses relativ freie Leben für Hertha erst, als sie 1898 mit vierzehn Jahren auf die höhere Töchterschule nach Bonn geschickt wurde. 1901 ging sie dann nach Freiburg und ließ sich dort als Krankenschwester ausbilden.

Es sollten viele Jahre vergehen, bevor Hertha Koenig als Gutsherrin schließlich endgültig nach Böckel zurückkehrte. Zunächst lernte sie die "große Welt" kennen: 1904 reiste Hertha Koenig mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Petersburg, 1906 unternahmen beide Frauen eine ausgedehnte Bildungsreise nach Italien. Außerdem sah man Hertha Koenig
"... als Zwanzigjährige in Moskau und später in Paris, Berlin und München, wo sie um 1914, bis weit in die zwanziger Jahre, als eine der schönsten Frauen der Gesellschaft galt; am 60. Geburtstage Gerhart Hauptmanns glich sie inmitten der Schar der Gäste einem bewundernswerten Stern."[5]

In München, wo Hertha Koenig seit 1905 eine eigene Wohnung besaß, unterhielt sie einen kleinen "literarischen Salon". Aus dieser Zeit datieren ihre Kontakte zu Marie von Ebner-Eschenbach, Lou Andreas-Salomé, Regina Ullmann, Otto von Taube, Hermann Keyserling, Wilhelm Schenk zu Stauffenberg, Heinrich Vogeler, Elsa Bruckmann, Katharina Kippenberg und Clara Rilke-Westhoff. Rainer Maria Rilke hat sie 1910 bei einem Fest des Verlegers Samuel Fischer in Berlin kennengelernt und begegnete ihm später in München wieder. Zu einigen dieser Menschen entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Man kann ohnehin sagen, daß Hertha Koenig ein ganz besonderes Talent für Freundschaften hatte. Nicht nur, daß es ihr offensichtlich gelang, die jeweils eigentümliche Art ihrer Freunde zu erkennen und zu akzeptieren, sie drängte sich ihnen auch niemals auf. Andererseits reagierte sie jederzeit spontan und hilfsbereit, wenn ihre Freunde sie brauchten, wann und worum sie auch immer gebeten wurde. Eine Freundschaft ganz besonderer Art beschreibt sie 1963 in einem Brief an einen unbekannten Empfänger:
"...Bei Ihnen und Dr. Schmidt muß ich an Roman Woerner denken -: wenn wir auch Freundschaft und Ehe verwechselt hatten - es war doch wunderschön dies Zusammensein (...) Mir hat mal eine Münchener Bekannte erzählt, es gingen so drollige Zitate von uns um. Direkt nach der Scheidung sei ich ihm um den Hals gefallen und hätte gesagt: 'Jetzt wird es erst ganz schön.' Und es stimmt, daß unsere Freundschaft bis zuletzt die gleiche geblieben ist. (...)"[6]

Die Ehe mit dem Literaturprofessor Roman Woerner dauerte insgesamt nur drei Jahre, von 1910 bis 1913. In diese Zeit fällt auch Hertha Koenigs literarisches Debüt. 1910 erscheint der Gedichtband "Sonnenuhr" im O. Beck-Verlag, München, 1913 veröffentlicht sie im S. Fischer-Verlag in Berlin den Roman "Emilie Reinbeck".


Die 'Westfälische Dichterin'

Gladiole,
Meine Kraft trägt mich noch höher.
Muß ich gleich an meinem Glühen
Ungezählte Tode sterben -
Meine Liebe überdauert.
Ungestillt am vollen Mittag
Ragt sie in die leichten Lüfte,
und vom Wind herabgebogen,
bricht sie flammend aus dem Dämmer.
Welten wirbeln.
Wenn sich auch im Ungewissen
Heimatlos der Glanz verschwendet -
Ich muß lieben.

Koenig, 1919[7]

Hertha Koenig erhielt für ihr literarisches Schaffen das Prädikat 'westfälische Dichterin'. Das ist nicht unproblematisch. Es wäre nämlich grundlegend verkehrt, wenn ihr Werk, wie es in derartigen Fällen gern geschieht, in einem eingrenzenden Sinn als 'Heimatdichtung' aufgefaßt würde. Hertha Roenig behandelt in ihren Büchern keine "Heimatthemen", die lediglich eine regionale Bedeutung hätten. Ihre Sujets sind von allgemeiner Gültigkeit. Ebenso falsch wäre es andererseits, den Einfluß der westfälischen Landschaft lediglich als Kontrastfolie zu bewerten. Auch hier würde man den ganz spezifischen Reiz ihrer Dichtung verfehlen. Die Annäherung an das Prädikat 'westfälische Dichterin' fällt noch aus einem weiteren Grund schwer: Sowohl dem Roman "Emilie Reinbeck" als auch dem Spätwerk "Der Fährenschreiber von Libau" hat Hertha Roenig wahre Lebensgeschichten ihrer Vorfahren zugrunde gelegt, deren Schicksal sich weitab von Westfalen erfüllte.

Wäre es bei diesem Erklärungsaufwand nicht besser, auf die literarische (Orts-)Bestimmung 'westfälische Dichterin' ganz zu verzichten? Es mag überraschen, wenn die Antwort entschieden 'nein' lautet. Die in Westfalen verlebte Kindheit hat auf die Persönlichkeit von Hertha Koenig einen unwahrscheinlich prägenden Einfluß gehabt. Dieser Einfluß spiegelt sich in ihrer Dichtung so lebendig wider in der Beschreibung von Düften, Klängen, Farben, Menschen, Orten und Landschaften, daß die "Emilie Reinbeck" und der "Fährenschreiber" in dieser Hinsicht als Ausnahmen zu gelten haben. Es sind also nicht die Inhalte ihrer Dichtung, die Hertha Koenig als 'westfälische Dichterin' ausweisen, sondern die eindringlichen Assoziationen und Empfindungen, die sie auslöst und die bei westfälischen Leserinnen ohne Zweifel ein vertrautes Wiedererkennen bewirken:
Sonette
Herbstnebel schläfert Wald und Acker ein.
Die Stille tönt von feinen Silberklängen.
Von Tropfen, die an kahlen Zweigen hängen
Schmal zieht des Mondes Sichel blassen Schein.

Als war es Nacht. Ich wandre durch dies Land,
Das meine Heimat war. Des Bodens Schwere
Hemmt meinen Schritt, und schwarze Rabenheere
Umschwingen mich wie dunkles Schicksalsband.

Unheimlich wird mir, bang das Weitergehn
Auf meinem Wege, der so schwer zu finden;
werd ich den nächsten Schritt noch deutlich sehn?

Denn auch die Bäume neben mir entschwinden
Im Ungewissen, grauen Nebelwehen.
Ich muß die Dunkelheit überwinden.

Koenig, 1917[8]

Wenn insbesondere Hertha Koenigs Gedichte die Stimmung der westfälischen Landschaft auch sehr eindringlich widerspiegeln, ihre Bedeutung weist doch weit darüber hinaus: In dem Gedicht "Gladiole" wird sehr deutlich, wie wichtig der Autorin die Verpflichtung zur Vervollkommnung und Reifung im vorgegebenen Sein ist ("Meine Kraft trägt mich noch höher"). In diesem Gedicht läßt sich auch das Motiv wiedererkennen, das wir bei der Gestaltung ihrer Freundschaften schon beleuchtet haben: die Bereitschaft, sich zu verströmen, ohne Dank oder Gegenleistung zu erwarten ("Wenn sich auch im Ungewissen heimatlos der Glanz verschwendet - Ich muß lieben.").

Auch in dem Sonett leitet die unmittelbare Landschaftsbeschreibung metaphorisch zu existentiellen Seinsfragen über ("Werd ich den nächsten Schritt noch deutlich sehn?") Auffällig ist, daß die vertraute Landschaft zwar furchterregend erlebt wird, gleichzeitig aber Entschlossenheit für den nächsten Sehritt vermittelt ("Ich muß die Dunkelheit überwinden").

Hier erweist sich noch einmal aus einer anderen Perspektive die Berechtigung des Prädikats 'westfälische Dichterin': Die Erfahrungen der Kindheit haben Hertha Koenig offenbar ein Urvertrauen vermittelt, das sie auch in ungewissen, düsteren Lebenssituationen noch trägt. Die tiefen Wurzeln in der westfälischen Heimat entbinden sie zwar nicht von der Pflicht, auch anderenorts zu wachsen und sich zu vervollkommnen, aber sie bieten ihr den sicheren Grund, das nötige Fundament für diese Entfaltung. Bereits in ihren Gedichten erkennen wir dieses Motiv ganz deutlich in der Verschränkung von Landschaftsbeschreibung und Seinsfragen, aber in Hertha Koenigs Prosa tritt uns dieser Sachverhalt noch weitaus unverstellter entgegen.


Werden und Wachsen

"Das richtige Leben müßte sieh doch in dem kleinsten Geschehen auswirken können. In einem Gespräch, in der stillsten Berührung mit Menschen müßte all der Mut und die Stärke des Augenblicks Raum haben. (...) All das Große da draußen geschieht ja nur, weil es im kleinsten bei uns nicht stimmt..."[9]

Hertha Koenigs Lebensmaximen sind ebenso schlicht wie radikal. Sie besagen nicht mehr und nicht weniger, als daß der Mensch eine Verpflichtung zur Vervollkommnung seiner Anlagen und Fähigkeiten habe. Stehen der Entfaltung von Neigungen und Begabungen Normen und Konventionen entgegen, so entbindet ihn das keineswegs von dieser Aufgabe, wenn er nicht an sich selbst und anderen schuldig werden will. In diesem Fall soll sich der Mensch zwar nicht über gegebene Bedingungen einfach hinwegsetzen, sondern er muß dann seine gesamte Intelligenz und Kraft aufbieten, um geeignete Lösungswege zufinden. Nach Hertha Koenigs Überzeugung findet sich immer ein Weg, selbst wenn dieser bewußten Verzicht bedeutet. Auch wenn ein solcher Verzicht einen Menschen in die Armut führt, so ist das ihrer Ansicht nach noch immer dem vernichtenden Schaden vorzuziehen, den der Mensch erleidet, wenn er gegen seine Überzeugungen lebt und seine Begabungen gewaltsam unterdrückt.

Zwei Beispiele: Im Roman "Emilie Reinbeck"[10] scheitert Anfang des 19. Jahrhunderts eine junge Frau, weil sie aus falsch verstandenem Pflichtbewußtsein ihre künstlerische Begabung als Malerin unterdrückt. Dabei wird sie nicht nur an sich selbst schuldig, sondern auch an ihren Mitmenschen. Indem sie nicht im Einklang mit sich selbst lebt und wichtige Anteile ihrer Persönlichkeit mit Gewalt verdrängt, kann sie für ihre Familie und Freunde keine aufrichtige Liebe empfinden. Statt dessen macht sie sich zur Erfüllungsgehilfin im Leben anderer. Damit wird sie auch Gott gegenüber schuldig, weil sie sein Geschenk der großen Begabung nutzlos verschleudert. Als Emilie Reinbeck ihre Lebenslüge schließlich erkennt, ist es für sie zu spät: Sie ist todkrank und kann ihr Leben nicht mehr ändern.

Der reiche Gutsherr in der Novelle "Die Letzten"[11] erkennt seinen Irrtum rechtzeitig. Er entdeckt, daß er zur Leitung seines großen Gutes keinerlei Neigung verspürt. Durch sein mangelndes Interesse fügt er jedoch seinen Untergebenen ernsten Schaden zu. Schließlich reift sein Entschluß, auf seinen gesamten Besitz zu verzichten. Er überträgt ihn seiner Schwester, die alle erforderlichen Fähigkeiten hat, um die eigentlich ihm zukommende Aufgabe an seiner Stelle zu übernehmen. Auf diese Weise erfüllt sich Freiheit für beide von ihnen, allerdings in ganz unterschiedlicher und je spezieller Art. Der Entschluß steht in krassem Widerspruch zur überkommenen Tradition, wonach der männliche Nachkomme das Erbe verwaltet. Der Gutsherr befreit sich durch seinen Verzicht von dieser bedrückenden Pflicht; seine Schwester erkennt mit Überraschung, daß sie als Frau durchaus in der Lage ist, sich den nötigen Respekt und schließlich volle Anerkennung zu verschaffen.

Hertha Koenig problematisiert in ihren Büchern die Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft nicht. Für sie sind Mann und Frau gleich. Der Mensch ist daher ohne Einschränkung oder Vorbehalt hinsichtlich seiner Geschlechtszugehörigkeit verpflichtet, in vollem Selbstbewußtsein sein Leben im Einklang mit sich selbst zu gestalten. Scheitert der Mensch an einer Lebenslüge, so trägt er allein dafür die Verantwortung, die ihm weder Gott noch die Gesellschaft abnehmen können.

Ihre Überzeugung hat Hertha Koenig nicht nur in den unterschiedlichsten Variationen in ihren Romanen verarbeitet, sie waren auch handlungsleitend für ihr eigenes Leben. Ihre Romanthemen entsprangen daher auf die eine oder andere Weise ihrer eigenen, gelebten Erfahrung:
"In allem, was ich schreibe, kann und will ich immer nur vom Wirklichen, Persönlichen ausgehen; und wenn ich von einer Bettlerin oder von einem Kaiser erzählen sollte; - irgendwo, wenn auch im winzigsten Punkt, stecke ich doch selber darin. Kennen kann man ja nur sich selbst."[12]

Das literarische Werk, das Hertha Koenig hinterlassen hat, ist nicht sehr umfangreich. Das mag zum einen daran liegen, daß sie ihrem literarischen Schaffen immer sehr kritisch gegenüberstand. Das kann an ihrem hohen Anspruch sich selbst gegenüber gelegen haben, denn Kritiker und Freunde haben auf ihre Bücher durchweg sehr positiv reagiert. Vor allem Rilke hat sie geradezu unermüdlich immer wieder zum Schreiben ermuntert. Trotzdem hat sie niemals ausschließlich als Schriftstellerin gearbeitet.

Sie begann vielmehr sehr frühzeitig, ihren Vater bei der Verwaltung der Familiengüter in Bayern und Westfalen (Böckel) zu unterstützen. Seit seinem Tod im Jahre 1927 hat sie dann deren Leitung in alleiniger Verantwortung übernommen. Diese Aufgabe übte sie auf Gut Böckel bis an ihr Lebensende aus, wo sie am 12.10.1976 nach schwerer Krankheit starb.

Damit hat sich das Leben einer außergewöhnlichen Frau erfüllt, die ausschließlich sich selbst Vor- und Leitbild war. Für sie "geschah" Gottes Wille, indem sie bis zu ihrem letzten Atemzug nach größtmöglicher Entfaltung ihrer Begabungen und Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten strebte. Auch wenn Hertha Koenig niemals Verzicht in so krassem Sinn geleistet hat wie ihre Romanfigur in der Novelle "Die Letzten", so hat sie doch beispielsweise Projekte ihrer Freunde selbst dann noch großzügig unterstützt, wenn diese zu ihrer eigenen - mehr konservativen - Überzeugung in Widerspruch standen.

Hertha Koenig war es ernst: Sie lebte, was sie schrieb, und sie schrieb, was sie lebte.


Anmerkungen

[1] Rilke 1918 in einem Brief an Hertha Koenig. Zit. n. Kaldewei 1986, S. 90.
[2] Hertha Koenig wird oftmals im Spiegel ihrer Freundschaften beschrieben, vor allem ihre enge Verbindung zu Rilke bleibt in kaum einer Veröffentlichung unerwähnt. Ihre eigenen Gedanken über diese Freundschaft hat Hertha Koenig in ihren "Erinnerungen an R. M. Rilke" beschrieben. Außerdem hat sie seiner Mutter 1963 die Erzählung "Rilkes Mutter" gewidmet. Beide Texte werden von Joachim W. Storck neu herausgegeben und erscheinen im Herbst 1993 im Bielefelder Pendragon Verlag.
[3] Zit. n. Benzing 1955, S. 20.
[4] Kaldewei 1986, S. 12.
[5] Petzet/Tausend 1976/77, S. 97.
[6] Koenig 1963 in einem Brief. Zit. n. Kaldewei 1986, S. 38.
[7] Koenig 1919. Zit. n. Kaldewei 1986, S. 88.
[8] Koenig 1917. Zit. n. Kaldewei 1986, S. 82.
[9] Koenig 1920, S. 13/14.
[10] Koenig 1913.
[11] Koenig 1920.
[12] Koenig am 6. 12. 1963 an Prof. Tsukakoshii. Zit. n. Petzet/Tausend 1976/77, S. 105/106.


Literatur

BENZING, ELLY
Hertha Koenig und Rilkes "Westfälischer Sommer", in: Westfalenspiegel Nr. 2, Febr. 1955, S. 20-23.

KALDEWEI, GERHARD (Hrsg.)
Hertha Koenig, Spuren einer westfälischen Dichterin, Bielefeld 1986.

KOENIG, HERTHA
Emilie Reinbeck, Berlin 1913.
Sonette, Leipzig 1917.
Blumen, Berlin 1919.
Die Letzten, Berlin 1920.

PETZET, HEINRICH WIEGAND/TAUSEND, HERMANN
Rilke und Hertha Koenig, ihre Begegnung auf Gut Böckel, in: Herforder Jahrbuch, Bd. XII-XVIII, Herford 1976/77, S. 96-119.

RILKE, RAINER MARIA
Briefe, Bd. 2, Wiesbaden 1950.


Ann Brünink

QUELLE   | "Was für eine Frau!" | S. 234-242
PROJEKT  Portraits von Frauen aus Ostwestfalen-Lippe
AUFNAHMEDATUM2007-03-20


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QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 123-125
   | "Was für eine Frau!" | S. 234-242

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ40   Biografie (Einzelperson/Familie)
Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort2.3.7   Rödinghausen, Gemeinde
4.3   Bünde, Kreis
Sachgebiet6.8.8   Frauen
15.7   Literatur, Schriftstellerin/Schriftsteller
DATUM AUFNAHME2003-10-13
AUFRUFE GESAMT2950
AUFRUFE IM MONAT466