PERSON

FAMILIECrüwell
VORNAMESophie
BERUF / FUNKTIONOpernsängerin


VERWEISUNGSFORMCrüvelli
GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1826-03-12   Suche
GEBURT ORTBielefeld
TAUFNAMESophie Johanne Charlotte
EHEPARTNER1856: George Vigier
TOD DATUM1907-11-06   Suche
TOD ORTMonte Carlo, Monaco


VATERCrüwell, Heinrich Gottlieb
MUTTERScheer, Christiane Franziska Charlotte


BIOGRAFIE

Karriere in der Fremde
Sophie Crüwell (1826-1907), Sängerin

"Das Mädchen soll einst Gattin werden und als solche das Regiment des Hauses führen; dies ist der Beruf und die bürgerliche Sphäre des Weibes...Das Weib ist ferner durch sein Geschlecht bestimmt, Mutter zu werden."[1]

Nein, die beiden Frauen, die fern ihrer Heimat Karriere machten, haben diesem bürgerlichen Ideal nicht wirklich entsprochen: Sophie Cruvelli, als Sophie Johanne Charlotte Crüwell 1826 in Bielefeld geboren, war eine international gefeierte Sängerin, bevor sie 1856 dem französischen Grafen George Vigier ihr Jawort gab. Else Lohmann, 1897 ebenfalls in Bielefeld geboren, hat bei ihrer Familie energisch durchgesetzt, daß sie sich in Dresden und Berlin zur Kunstmalerin ausbilden lassen konnte. Auch sie hatte bereits erste Erfolge, als sie 1922, 25jährig, den holländischen Kunstsammler Cees van der Feer Ladèr heiratete.

Die Lebensläufe dieser beiden Künstlerinnen weisen - bei allen Unterschieden - strukturelle Ähnlichkeiten auf: Alle beide entstammen großbürgerlichen, toleranten Elternhäusern, wo offenbar auch den Töchtern ein Großmaß an intellektueller und künstlerischer Anregung zuteil wurde. Darüber hinaus erlaubten sowohl die Eltern Crüwell wie auch die Eltern Lohmann, daß ihre Töchter ihre Heimatstadt verließen, um eine professionelle künstlerische Ausbildung zu absolvieren.


Erziehung und Ausbildung von Frauen im 19. Jahrhundert

Eine qualifizierte Berufsausbildung war für bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert völlig unüblich. Wenn bürgerliche Frauen überhaupt berufstätig waren, dann konnten sie nur an ihre schulischen Kenntnisse anknüpfen, die damals einseitig auf die Vermittlung von Kenntnissen in der Hauswirtschaft ausgerichtet waren, oder sie setzten ihre sozialen Kompetenzen ein, die den Mädchen im Hinblick auf ihre spätere Bestimmung als Hausfrauen und Mütter bereits frühzeitig vermittelt wurden. Daher übten Frauen vor allem hegende und pflegende Berufe aus. Die Eheschließung bedeutete dann in aller Regel das Ende der beruflichen Laufbahn einer bürgerlichen Frau. Eine umfassendere Ausbildung, die Grundlage für eine qualifizierte Berufsausbildung hätte sein können, war für Mädchen lange Zeit nicht möglich, sondern wurde von der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert erst mühsam Schritt für Schritt erkämpft.

Selbst wenn Frauen im 19. Jahrhundert eine umfassendere Bildung erwerben konnten, weil die Eltern ihre Töchter gemeinsam mit den Söhnen von Hauslehrern unterrichten ließen, so hatte diese bessere Erziehung ebenfalls ihre Grenzen. So schreibt beispielsweise Elise Schleiden, die Mutter des Politikers und Diplomaten Rudolph Schleiden, über die Ausbildung ihrer Töchter:
"Sie müssen bis zum 14. oder 15. Jahre allen Unterricht, den die Knaben haben, bei dem (Haus-)Lehrer mitgenießen. Dann aber wird ihnen der Haushalt als das einzige Wichtige vorgestellt. Sie leben nur für Küche und Keller, und man sagt ihnen, das Andere sei für den Beruf einer Hausfrau unwichtig daneben..."[2]

Da aber das erstarkende Bürgertum Bildung und Wissen als einen normgebenden Wert seiner Klasse verstand (der Begriff 'Bildungsbürgertum' hat hier seine Wurzeln), konnte auch den Frauen eine verbesserte Ausbildung auf Dauer nicht vorenthalten werden. Andererseits war man(n) im 19. Jahrhundert weit davon entfernt, Chancengleichheit für Mädchen und Jungen im Ausbildungswesen zuzulassen. So kam es zu einer Unterteilung in 'Leistungswissen' und 'Bildungswissen', die die damalige bürgerliche Frauenbewegung insgesamt als Fortschritt wertete und zunächst nicht in Frage stellte.

Das 'Leistungswissen' qualifizierte den Mann für seine berufliche Tätigkeit und seine Teilhabe am öffentlichen Leben in Politik und Staat. Das 'Bildungswissen' hingegen umfaßte kulturelle Kenntnisse wie z. B. Geschichte und Philosophie sowie die schönen Künste. Es sollte die Frau vor allem dazu befähigen, ihrem Mann eine gebildete Partnerin und ihren Kindern eine kompetente Erzieherin zu sein. Daher war seine Anwendung nach wie vor auf den häuslichen Wirkungskreis der Frau beschränkt. Demzufolge waren vor allem die naturwissenschaftlichen Inhalte in der Ausbildung für Mädchen weiterhin geradezu verpönt:
"Die erfindende, zerstörende, umschaffende wissenschaftliche Geistes-Stärke steht mit der ganzen Bestimmung, wie mit der Natur des pflegenden, beschützenden, ausbildenden Weibes in geradem Widerspruche."[5]

Obwohl Frauen im Rahmen des 'Bildungswissens' nunmehr eine vertiefte ästhetische Ausbildung zuteil wurde, konnten sie insgesamt doch nur eine Halbbildung erwerben, solange die wissenschaftlichen Inhalte des 'Leistungswissens' weitgehend ausgespart blieben. Auch die Vermittlung künstlerisch-handwerklicher Fähigkeiten zielte keineswegs auf individuelle Virtuosität, sondern blieb - als Bestandteil der sogenannten "Mußekultur" - im Dilettantischen stecken. So kritisierte noch 1874 ein Pädagoge die geringen Ansprüche an die künstlerische Ausbildung von Frauen wie folgt:
"Ein bißchen Klimpern und französisch parlieren gilt vielen Familien doch im Grunde heute wie im vorigen Jahrhundert als das non plus ultra weiblicher Vollkommenheit."[4]


Künstlerin im 19. Jahrhundert - Ein dorniger Lebensweg

Vor diesem Hintergrund läßt sich bereits erahnen, welche Hindernisse und Schwierigkeiten Frauen zu bewältigen hatten, die im 19. Jahrhundert einen kreativen Beruf ausüben wollten. Die meisten von ihnen waren und blieben unzureichend ausgebildet, da auch die ästhetische Erziehung, wie wir gesehen haben, nicht berufsqualifizierend angelegt war. Frauen, die den künstlerischen Dilettantismus überwinden wollten und eine qualifizierte Ausbildung anstrebten, mußten daher andere Wege gehen: Entweder sie nahmen Privatunterricht, oder sie versuchten, in einer der wenigen Institutionen Aufnahme zu finden, die auch Frauen künstlerisch ausbildeten.

Wenn eine Frau auf diese Weise tatsächlich eine qualifizierte künstlerische Ausbildung erworben hatte, waren jedoch noch längst nicht alle Probleme gelöst. Die Künstlerin trat dann nämlich in Wettstreit mit männlichen Konkurrenten auf einem Gebiet, das diese als ihr ureigenstes Territorium betrachteten. Außerdem versagte die damalige Gesellschaft in aller Regel ihren Künstlerinnen jegliche Reputation. Ja mehr noch: Das eigenständige kreative Werk einer Frau veranlaßte viele Kritiker dazu, sie als in ihren Gefühlen fehlgesteuert und unweiblich zu diffamieren. Ihr blieb also nicht allein die Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen weitgehend versagt, sondern sie wurde als Person insgesamt in bezug auf Lebensführung und Charakter angegriffen und in Frage gestellt, wenn nicht gar verurteilt. Frauen, die unter diesen Bedingungen künstlerisch leistungsfähig bleiben wollten, mußten über eine enorme Widerstandskraft, ein hohes Durchsetzungsvermögen und ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein verfügen.

Inwieweit die Sängerin Sophie Crüwell und die Malerin Else Lohmann über diese Eigenschaften verfügten, läßt sich im einzelnen nicht immer belegen, sondern häufig nur vermuten. Gelegentlich drängt sich beim Nachspüren ihrer Lebensgeschichten jedoch der Eindruck einer gewissen Verzagtheit oder sogar Resignation bei ihnen auf, der sich allerdings ebenso selten konkret beweisen läßt: Auch diese berühmten Frauen haben leider viel zuwenig Spuren hinterlassen!

Die jeweiligen Lebensbeschreibungen sind daher vor allem Annäherungen, die es ermöglichen, die damalige Zeit und die Lebensbedingungen dieser Frauen zu begreifen, damit ihre Reaktionen und Entscheidungen auch dann nachempfunden werden können, wenn sie in scheinbarem Widerspruch zum erreichten Erfolg stehen.


Von der Bürgertochter zur gefeierten Primadonna Sophie Crüwell oder Die Cruvelli

"...wenn die erste Sängerin die Oper nicht hebt, so ist alles verloren. Ich rate auch einem jeden Kapelhneister, es nicht mit der Primadonna zu verderben, besonders wenn dieselbe eine musikalische Unabhängigkeit besitzt."[5]

Diese Unabhängigkeit besaß sie zweifellos: Sophie Cruvelli, der gefeierte Opernstar, begeisterte ihr Publikum in Italien, Frankreich und England mit ihrer herrlichen, lupenreinen Sopranstimme ebenso, wie sie mit ihrer hervorragenden schauspielerischen Leistung überzeugte.

Es war Mitte des vorigen Jahrhunderts keineswegs eine Selbstverständlichkeit, daß künstlerische Begabungen zu technischer Perfektion ausgebildet wurden. Noch 1857 kritisierte Agnese Schebest, ebenfalls Primadonna und Zeitgenossin der Cruvelli, das mangelnde Interesse von Intendanten an einer guten Ausbildung für Sängerinnen. Sie zitiert als Beispiel die Auskunft eines Intendanten, die er einer jungen Frau gab, die nach einer qualifizierten Ausbildung in seinem Theater gefragt hatte:
"Schule haben wir keine, Sie sind ja ein gebildetes Fräulein und werden sich leicht in Ihrer Aufgabe zurecht finden, nehmen Sie nur gleich eine recht große Rolle, worin Sie vom Stoff getragen werden, etwa die Jungfrau von Orleans oder sonst eine imposante Partie, wodurch das Publikum sogleich einen rechten Eindruck bekommt."[6]

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der musikalischen und mimischen Darstellungsfähigkeit einer Künstlerin in damaliger Zeit mag uns heute überraschen. Sie wird verständlicher, wenn man weiß, daß der Beruf 'Sängerin' bis dahin nicht zu den ehrenhaften Frauenberufen zählte, sondern - im Gegenteil ausgesprochen schlecht beleumundet war. Seit 1686 war nämlich das öffentliche Auftreten für Frauen vom Papst verboten worden und noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde diese Anordnung von Clemens XI sogar noch verschärft:
"Daß keine Weibsperson bei hoher Strafe Musik aus Vorsatz lernen solle; denn man wisse wohl, daß eine Schönheit, welche auf dem Theater singen, und dennoch ihre Keuschheit bewahren wollte, nichts anderes tue, als wenn man in den Tiber springen und doch die Füße nicht naß machen wolle."[7]

Obwohl dieses Auftrittsverbot für Frauen 1826 noch einmal bestätigt wurde, ließ es sich nicht länger aufrechterhalten. Das Kastratentum, das sich infolge der päpstlich verordneten Verbannung der Frauen von der Bühne zu wahrer Blüte entwickelt hatte, bestand zwar noch, geriet aber mehr und mehr in Verruf:
"Die Unnatur des Verfahrens, durch Kastration eine Stimme zu erzielen, welche den Klang der Frauen- oder Knabenstimme mit der Kraft eines männlichen Brustkastens verband, war in Deutschland und noch mehr in Frankreich verurteilt worden. Perversitäten ihres sexuellen Lebens machten die Kastraten noch verabscheuungswürdiger."[8]

Die Verachtung, die den Kastraten - mit wenigen Ausnahmen - von der Gesellschaft entgegengebracht wurde, hat dem Beruf der 'Sängerin' einen ziemlich zwielichtigen Ruf eingetragen. Diese negative Einschätzung wurde allerdings durch eine weitere Tatsache erheblich verstärkt. Die einzigen Frauen, die sich in der Vergangenheit über das jahrhundertelang geltende Auftrittsverbot hinwegsetzt hatten, stammten nämlich in der Regel aus sozial niedrigen Kreisen: Sie waren sehr häufig nichts anderes als "verkleidete Prostituierte".[9]

Die Frau, die im 19. Jahrhundert mit musikalischem Talent und ernsthaften künstlerischen Ambitionen Berufssängerin werden wollte - und solche gab es immer häufiger -, stand also vor mehr als einem Dilemma: Für sie gab es nur wenig Möglichkeiten, eine qualifizierte Ausbildung zu erwerben. Auf der Bühne trat sie in Konkurrenz zu den Kastraten, die dort - trotz aller Verachtung - als Mann immer noch mehr galten als die begabteste Frau. Und vor allem: Sie mußte ihren künstlerischen Anspruch gegen das sexuelle Interesse der Männer, v. a. der Intendanten, durchsetzen. Noch 1907 (!) gibt ein Forscher die folgende Situationsbeschreibung mit vollem Ernst als Verbesserung der Lage seit 1850 aus:
"Die Frau steigt heute seltener auf die Bühne, um ihren Weg auf rentablere Weise in der Prostitution zu machen, wohl aber muß sie sich nach wie vor prostituieren, wenn sie ihren Weg auf der Bühne machen will.... Es ist ein böses Wort, das aber noch für sehr viele Bühnen Geltung hat, daß das Engagement erst dann perfekt wird, wenn sie sich bereit erklärt hat, mit dem Gewaltigen 'ein abendfüllendes Stück zu agieren, bei dem er die Hauptrolle hat, und das er ganz nach seinem Belieben immer wieder aufs Repertoire setzen darf."[10]


Eine höhere Tochter erobert die Bühne

Die Bürgertochter Sophie Johanne Charlotte Crüwell aus dem bekannten Bielefelder Crüwell-Haus hat sich gegen alle diese Widrigkeiten durchgesetzt: Bereits mit 21 Jahren war sie ein international bekannter Opernstar. Die zeitgenössischen Kritiker begeisterten sich im Verlauf der siebenjährigen Blitzkarriere der Cruvelli immer wieder aufs neue für ihr außerordentliches Gesangstalent und ihr beeindruckendes schauspielerisches Können. Allerdings verwiesen sie auch regelmäßig - mal mehr, mal weniger kritisch - auf ihr ausgeprägtes Temperament und ihre Eigenwilligkeit. Sophie Crüwell hätte nicht Frau in dieser frauenverachtenden Zeit sein dürfen, wenn ihr wegen dieses Selbstbewußtseins nicht über kurz oder lang Schwierigkeiten erwachsen sollten.

Am 12.03.1826 wurde Sophie als sechstes Kind und jüngste Tochter des Bielefelder Tabakfabrikanten Heinrich Gottlieb Crüwell und seiner Frau Christiane Franziska Charlotte Scheer geboren. Der Stammbaum dieser alteingesessenen großbürgerlichen Familie reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück, Zweige der Familie lassen sich auch in Herford und Lemgo nachweisen.

Die Familie Crüwell war ausgesprochen musikliebend und alle Familienmitglieder besaßen musikalische Talente. Die Konzerte des Crüwellschen Hausorchesters waren richtiggehend berühmt und bei jedem gesellschaftlichen Anlaß sehr beliebt. Daher war es für die Eltern Crüwell selbstverständlich, daß alle Kinder eine sehr sorgfältige musikalische Ausbildung im Elternhaus erhielten. Berufsqualifizierend war dieser Unterricht jedoch nicht, dafür fehlten im damaligen Bielefeld die Voraussetzungen.

Dennoch ist es mehr als erstaunlich, daß Sophie - als einzige der drei hochtalentierten Crüwell-Töchter - die Erlaubnis erhielt, als blutjunges Mädchen ihre Heimatstadt zu verlassen, um sich als Berufssängerin ausbilden zu lassen. Mit welchen Argumenten es ihr gelang, ihre Eltern zu überzeugen, ist leider nicht überliefert. War es ihre ungewöhnliche Begabung, die die kunstverständigen Eltern angemessen fördern lassen wollten? War es die Tatsache, daß sich Sophies ältere Schwester Marie, trotz ihrer überdurchschnittlich guten Altstimme, an der Oper auf Dauer nicht durchsetzen konnte, weil es ihr an technischer Ausbildung mangelte? War es möglicherweise gar das energische Temperament der Sophie, dem die Eltern schließlich nachgaben?

Welcher Grund es auch immer war, der den Ausschlag gegeben hat, überliefert ist allein die Tatsache, daß Sophie ihre professionelle Ausbildung bei dem Gesangslehrer Spohr in Kassel begann und sie dann in Paris bei den berühmten Lehrern Permacini und Bordogni fortsetzte. In Paris ist sie 1847 auch zum ersten Mal öffentlich in einem Konzert aufgetreten: Dieses Debüt markiert den Beginn ihrer kometenhaften Karriere.


Sophie Crüwell feiert Triumphe

Die nächste Station auf ihrem Weg zu Ruhm und Erfolg ist Italien: Noch im gleichen Jahr, 1847, tritt Sophie Crüwell in Venedig auf. Während des Karnevals singt sie dort die "Elvira" in Verdis "Ernani". In großen und kleinen italienischen Städten folgen dann weitere Auftritte, vor allem in Verdi-Opern. Für die Italiener ist Verdi so etwas wie ein Nationalheld: Seine Opern handeln von Freiheit und Unabhängigkeit, und um diese wird in Italien gerade erbittert gekämpft. "Eviva Verdi" skandiert daher das Publikum begeistert, solange der Ruf "Eviva Italia" verboten ist. Aus Rücksicht auf die nationalen Gefühle ihres italienischen Publikums, dem alles Deutsche und Österreichische verhaßt ist, nimmt Sophie Crüwell ihren Künstlernamen an: Fortan gewinnt sie als die 'Cruvelli' die Herzen der Italiener. Die danken es der schönen und begabten Frau stürmisch, daß sie den Frauenfiguren des Meisters Verdi so überzeugend Stimme und Ausdruck verleiht.
"Groß, wohlgebaut und schön trat Fräulein Cruvelli auf die Scene in dem vollen Glanz ihrer Jugend und ihres Talents. Die Stimme rein, volltönend und gewaltig, erhebt sich bis zu den höchsten Tönen des Sopran und steigt ohne Anstrengung noch Lücken bis zu denen des Contra- Althinab. Sie singt und spielt mit ebensoviel Einsicht als Energie und ihre lebhafte Physiognomie drückt mit derselben Leichtigkeit die furchtbaren Leidenschaften wie die zärtlichen Gefühle aus..." [11]

Das Londoner Publikum mochte sich allerdirps zunächst nicht der Meinung dieses Kritikers anschließen, als Sophie Cruvelli 1848 ihr Debüt an der Königlichen Oper in London gab. Das kühle Temperament der Briten erwärmte sich damals mehr für Jenni Lind, die 'schwedische Nachtigall'. Erst bei einem späteren Gastspiel im Londoner Covent Garden geben auch die Engländer ihre Zurückhaltung auf und feiern die Cruvelli so stürmisch, wie es die Italiener und Franzosen schon seit längerem tun.


Die Cruvelli - eine launische Primadonna ...

Den Höhepunkt ihrer Laufbahn erlebt Sophie Crüwell in Frankreich. Die Große Oper in Paris bietet ihr 1854 einen Zweijahresvertrag an für eine Gage, die bis dahin noch keine Primadonna jemals erhalten hat: 100.000 Francs werden ihr für das erste Jahr zugesagt, und im zweiten Jahr will man ihr sogar 150.000 Francs zahlen.

Die Cruvelli sagt zu und begeistert als "Valentine" in Meyerbeers "Hugenotten" nicht nur das Pariser Publikum, sondern auch den Komponisten selbst. Flugs schreibt er für Sophie die Titelrolle in seiner neuen Oper: "Die Afrikanerin".

Dieses Beispiel macht Schule: Bereits im Mai 1854 folgt Giuseppe Verdi der gefeierten Sängerin nach Paris, um im Auftrag der Großen Oper eine Festoper zu komponieren, die im Januar 1855 zur Pariser Weltausstellung uraufgeführt werden soll: "Die sizilianische Vesper". Zusammen mit dem Textdichter Scribe schreibt nun auch Verdi eigens eine Rolle für die Cruvelli, die "Elena".

Als die Proben für das neue Werk Anfang Oktober 1854 beginnen sollen, ist die Primadonna jedoch plötzlich verschwunden. Kein Mensch weiß etwas über ihren Verbleib, ein Skandal bahnt sich an: Das Pariser Opernpublikum wartet am 09.10.1854 vergeblich auf die berühmte Darstellerin der "Valentine". Verdi tobt und ist drauf und dran, seine Oper zurückzuziehen; die Presse schäumt und geht unverzüglich daran, die berühmte Sängerin zu diffamieren:
"Fräulein Cruvelli soll bisweilen an tollen Einfällen leiden. Sowohl in Mailand, wie in Genua und in London hatte sie mit den Impressarien Zwistigkeiten, welche über die Leichfertigkeit ihres Charakters keinen Zweifel lassen; derartige Streiche sind also nichts Ungewöhnliches bei ihr. Wenn es bei ihr nicht ganz richtig im Kopfe ist, so möge man sie ein für alle Mal kurieren; mit kräftigen Duschen wird man schon zum Ziel gelangen."[12]

Als die vielgeschmähte Primadonna nach einigen Wochen schließlich ebenso plötzlich wieder auftaucht, verzeiht ihr das Pariser Publikum jedoch spontan und bejubelt wie eh und je ihre hervorragenden Auftritte.

Wohin und wie lange sie wirklich verschwunden war, ist nie mit Sicherheit geklärt worden. Vielleicht wird diese Episode gerade deshalb bis heute immer wieder gern erzählt. Durchgesetzt hat sich schließlich die Version, daß die Cruvelli mit ihrem späteren Ehemann, dem Vicomte George Vigier, ein galantes Abenteuer erlebt habe und aus diesem Grund vertragsbrüchig geworden war. Mit dem milderen Blick des größeren Abstands liest sich die Geschichte hundert Jahre später dann so:
"Wer wollte dem jungen Mädchen nicht zugestehen, daß trotz aller Verträge das eigene Leben ihr wichtiger erscheint? Ihre Reise wurde aus Privatgründen unternommen, und wenn wir daran denken, daß sie nicht viel später heiratete, wird unsere Kritik ob dieses Vorfalls sehr viel milder. In der Künstlerin meldete sich der Mensch, meldete sich die Frau. Wer wollte da mit ihr streiten?"[13]


...oder Opfer eines Gerüchtes?

Alle Briefe und Aufzeichnungen von Sophie Cruvelli sind verloren oder verschollen. So ist keine Erklärung zu ihrem Verschwinden überliefert, die von der Sängerin selbst stammt. Die Auslegung der seitdem so häufig kolportierten Geschichte steht aber m. E. in krassestem Widerspruch zu Sophies bisherigem Verhalten: Ist es wirklich glaubhaft, daß eine Künstlerin, die so hart, so unermüdlich und so zielstrebig für ihren beruflichen Erfolg gearbeitet hat wie Sophie Crüwell, auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn plötzlich pflichtvergessen handelt und leichtsinnig alles bisher Erreichte für ein galantes Abenteuer riskiert? Ist es im Lichte der damals herrschenden Moral überhaupt wahrscheinlich, daß ein Grafensohn aus einer alten, angesehenen Familie schließlich eine Frau ehelicht, die er zuvor zwei Jahre lang als lockere Person erlebt hat? Gerade in Frankreich wird sehr streng unterschieden zwischen amourösen Abenteuern und der Ehe als Sakrament: Einem Mann (für Frauen gilt das natürlich nicht) wird zwar beides zugestanden, sogar gleichzeitig, aber eine Vermischung dieser beiden streng getrennten Bereiche ist dem Prinzip nach undenkbar. Liegt daher nicht eher die Vermutung nahe, daß die Cruvelli Opfer der damals gängigen Meinung über die Leichtfertigkeit der Künstlerin geworden sein könnte?

"Man kann die Reihe der großen Sängerinnen in der Vergangenheit durchgehen und wird nur wenige finden, die nicht hetärisch* veranlagt gewesen wären. Es ist durchaus kein Zufall, daß überall in der Geschichte, die Ausübung des Gesanges, der Musik und der Schauspielkunst in irgendeiner Weise mit dem Hetärischen in Verbindung gebracht worden ist."[14] (* Hetäre = Freundin, Geliebte; hetärisch ist vermutlich im Sinn von "sexuell freizügig" gebraucht. A.B.)

Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche rauhen Sitten an den damaligen Theatern herrschten, wo viele Direktoren und Intendanten ihre Macht uneingeschränkt ausübten und Frauen am liebsten als Freiwild betrachteten, dann können die Gründe, die beispielsweise zum Verschwinden der Cruvelli führten, mit einigem Recht auch anders erklärt werden als mit einem launischen Charakter und Leichtsinn. Zugegeben: Die Cruvelli wird als temperamentvoll und eigenwillig beschrieben, aber auch als stolz und wohlerzogen. Wie mag wohl diese junge Frau aus gutem Hause auf unehrenhafte Annäherungen von Männern reagiert haben (und daß es solche "Anträge" gab, ist kaum zu bezweifeln), die sich einbildeten, den "Preis" für den Erfolg einer Künstlerin rücksichtslos diktieren zu können? Es erscheint nicht sehr wahrscheinlich, daß diese begabte Sängerin, die sich größter Wertschätzung und Anerkennung bei berühmten Komponisten und vielen hochstehenden Persönlichkeiten an den Höfen Englands, Frankreichs und Italiens erfreute, auch nur den geringsten Anlaß sah, derartigen Ansinnen in nur einem einzigen Falle nachzugeben. Eine energische Maßregelung und notfalls der Verzicht auf das weitere Engagement läßt sich bei ihrem temperamentvollen Charakter weitaus besser vorstellen. Zurückgewiesene Männer reagieren allerdings häufig rachsüchtig und versuchen dann nur allzugern, die standhafte Frau in der Öffentlichkeit als leichtsinnig und verdorben hinzustellen. Möglicherweise sind derartige Ereignisse in der Vergangenheit der Cruvelli der Hintergrund für die sogenannten "Zwistigkeiten mit den Impressarien", die die Musikzeitschrift "La France Musicale" der Cruvelli vorwirft.

Ein Hinweis ist überliefert, der nahelegt, daß sich zumindest Sophies skandalumwittertes Verschwinden aus Paris auf diese Weise erklären ließe. In einem leider nur als Fragment erhaltenen Brief (ohne Datum, nach Sophies Tod geschrieben) beschreibt eine Nichte der Cruvelli den Grund für Sophies Verschwinden aus Paris wie folgt:
"Es hieß (...), daß der Direktor der Pariser Oper von ihr verlangte, auch im Privatleben die Rolle (ich weiß nicht mehr welche) zu spielen."[15]

Wenn es sich dabei um die "Valentine" in Meyerbeers "Hugenotten" gehandelt haben sollte, die die Cruvelli vor ihrem Verschwinden spielte, dann paßt die Anspielung auf die Rolle: Valentine ist eine junge Frau, die ihr Verlöbnis mit einem Grafen (!) löst, weil sie in Liebe zu einem anderen Mann entbrannt ist, für den sie sogar zur Verräterin an der eigenen Familie wird...!


Die "Königin der Pariser Oper" dankt ab

Galantes Abenteuer oder Flucht in den Schutz des zukünftigen Gatten? Das Zitat aus dem Brieffragment läßt eine schlüssige Antwort auf diese Frage nicht zu. Die wird es wahrscheinlich nie mehr geben. Sicher wissen wir nur, daß die Cruvelh nach ihrer Rückkehr ihren Vertrag mit der Großen Oper in Paris pflichtgemäß erfüllte. Verdis "Sizihanische Vesper" wird 1855 während der Weltausstellung uraufgeführt - mit überwältigendem Erfolg: die Cruvelh brilliert in ihrer Rolle als "Elena", und das begeisterte Publikum feiert sie fortan als die "Königin der Pariser Oper".

Ihre "Regentschaft" ist allerdings kurz: Unmittelbar nach Ablauf ihres Vertrages dankt Sophie Crüwell von der Bühne ab und heiratet Anfang 1856 den Grafen George Vigier. Die Laufbahn der so überaus erfolgreichen Primadonna ist damit eine der kürzesten in der Musikgeschichte. Nur sieben Jahre lang war die Bürgertochter aus Bielefeld ein alles überstrahlender Stern am Opernhimmel. In dieser Zeit hat sie die schönsten Frauenrollen gesungen und damit einen schier unglaublichen Erfolg erzielt. Nun zieht sie sich im Zenit ihres Ruhmes ins Privatleben zurück: Ist es Liebe? Ist es Kapitulation?

Zumindest verstummt die gefeierte Sängerin nach ihrer Ehe-Schließung nicht: Ihre wunderbare Stimme läßt sie fortan häufig auf Wohltätigkeitsveranstaltungen erklingen. Auch in ihrer Heimatstadt Bielefeld tritt sie mit dem gewohnten Erfolg einige Male gemeinsam mit ihren älteren Schwestern Marie und Mathilde auf. Sophie Crüwell engagiert sich zudem auch auf andere Weise für die Kunst, indem sie junge Talente fördert. Dazu zählt unter anderem Richard Wagner, dem sie die Möglichkeit eröffnet, in Frankreich aufzutreten. Sie selbst erringt sogar als Fünfzigjährige noch einen rauschenden Erfolg, als sie bei der französischen Premiere von Wagners "Lohengrin" die "Elsa" singt.

Sophie Crüwell blieb somit nicht nur ihr Leben lang der Musik eng verbunden, sondern sie muß auch nach wie vor hart für ihre Kunst gearbeitet haben. Anders ist ihr lebenslanger Erfolg kaum zu erklären. Mit ihrem Tod am 06.11.1907 endete in Nizza das außergewöhnliche Leben dieser Bielefelder Bürgertochter, die in die Fremde gehen mußte, um als Sängerin zu Ruhm und Ehre zu gelangen.


Anmerkungen

[1] Bonath 1800, S. 118. Zit. n. Hopfner 1990, S. 42.
[2] Elise Schleiden 1814 in einem Brief an ihren Mann. Zit. n. Engelhardt 1992, S, 163.
[3] Sonntag 1818-1820, 2, S. 182. Zit. n. Hopfner 1990, S. 103.
[4] In: Rieger 1981, S. 61.
[5] Gertrud Elisabeth Mara, Primadonna. Zit. n. Rieger 1981, S. 242.
[6] Zit. n. Rieger 1980, S. 73.
[7] Engel 1960, 8. 138/139.
[8] Ebda, S. 158.
[9] Rieger 1981, S. 235.
[10] Fuchs. Zit. n. Rieger 1981, S. 235.
[11] Zeitgenössische Kritik. Zit. n. Sax-Demuth 1991.
[12] "La France Musicale" 1854. Zit. n. Weber 1960, S. 24.
[13] Weber 1960, S. 26.
[14] Scheffler 1908, S. 96. Zit. n. Rieger 1981, S. 234.
[15] Brieffragment 0. D., Familienbesitz. Geschrieben von einer Nichte der Cruvelli, Tochter ihres Bruders August.


Literatur

BONATH, H. L. (Hrsg.)
Sittenspiegel für Mädchen und Frauen oder Versuche über die Pflichten des weiblichen Geschlechts, Altona 1800.

BREITLING, GISELA
Glut und Kühle der Landschaft. Die expressionistische Malerin Else Lohmann, in: MuseumsJournal Nr. IV, 5. Jg., Oktober 1991, S. 76-77.

ENGEL, HANS
Musik und Gesellschaft, Berlin/Wunsiedel 1960.

ENGELHARDT, ULRICH
"...geistig in Fesseln?" Zur normativen Plazierung der Frau als "Kulturträgerin" in der bürgerlichen Gesellschaft während der Frühzeit der deutschen Frauenbewegung, in: Koselleck, R. und Lepsius, M. R. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III, Stuttgart 1992, S. 113-175.

HILDEBRANDT, H.
Die Frau als Künstlerin, Berlin 1928.

HOPFNER, JOHANNA
Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800, Bad Heilbrunn (Obb.) 1990.

NOBS-GRETER, RUTH
Kunsturteil und Geschlechlerideologie, in: Das Verborgene Museum I, Dokumentation zur Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen, hrsg. von Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e. V., Berlin 1987.

RIEGER, EVA
Frau und Musik, Frankfurt a. M. 1980.

Frau, Musik und Männerherrschaft, Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1981.

SAUER, MARINA
Dilettantinnen und Malweiber. Künstlerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Das Verborgenen Museum I, Berlin 1987.

SAX-DEMUTH, WALTRAUD
Eine "Afrikanerin" aus Bielefeld, in: Westfalen-Blatt Nr. 202, 31. 8./ 1.9. 1991.

SCHEFFLER, KARL
Die Frau und die Kunst, Berlin o. J. (1908).

SEIDENSTICKER-DELIUS, NICOLE
Ehe Lohmann - Farbbekenntnisse. Das malerische Werk der Bielefelder Künstlerin, Bielefeld 1991.

SONNTAG, K. G.
Sittliche Ansichten der Welt und des Lebens für das weibliche Geschlecht, in: Vorlesungen, 2 Bde., Riga 1818-1820.

WEBER, ROSEMARIE
Sophie Crüvelli, Königin der Pariser Oper, in: Unser Bocholt, Zeitschrift für Kultur- und Heimatpflege, 1. Vierteljahr 1960, S. 23-26.

Ann Brünink

QUELLE   | "Was für eine Frau!" | S. 83-96
PROJEKT  Portraits von Frauen aus Ostwestfalen-Lippe
AUFNAHMEDATUM2007-06-20


PERSON IM INTERNET  Dagmar Giesecke: 6. November 1907 - Die Crüvelli, Operndiva aus Bielefeld, stirbt in Nizza
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QUELLE     | "Was für eine Frau!" | S. 83-104

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Zeit3.7   1800-1849
3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
Ort2.1   Bielefeld, Stadt <Kreisfr. Stadt>
Sachgebiet6.8.8   Frauen
15.6.3   Musikerin/Musiker, Komponist/Komponistin, Dirigentin/Dirigent
DATUM AUFNAHME2003-10-27
DATUM ÄNDERUNG2013-10-14
AUFRUFE GESAMT5143
AUFRUFE IM MONAT391