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(83 KB)   Tina Reuker (geb. 1903), Milchkutscherin in Enniger / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees   Informationen zur Abbildung

Tina Reuker (geb. 1903), Milchkutscherin in Enniger / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees
FAMILIEReuker
VORNAMETina


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1903-01-29   Suche
GEBURT ORTEnniger


VATERReuker, Heinrich
MUTTERSchwake, Anna


BIOGRAFIEOb ich die einzige Frau im Münsterland war, die eine Milchkutsche gefahren hat, das weiß ich ja nun auch nicht. Aber hier in der Umgegend, da wüßte ich sonst keine Frau, die das gemacht hat." Die 88jährige Tina Reuker hält inne, als ob sie sich ein wenig über sich selbst wundert. "Und das war ja eigentlich auch keine Frauenarbeit...".

Seit den 30er Jahren ging Tina Reuker einer ländlichen Arbeit nach, die für gewöhnlich nur von Männern erledigt wurde: Sie fuhr einen der Milchwagen im Dorf. Auf ihrem Hof im münsterländischen Enniger spannte sie Tag für Tag ihr Pferd vor den einfachen, gummibereiften Holzwagen; damit fuhr sie Bauernhöfe ab, hob dort die schweren Milchkannen auf den Wagen, um sie zur Molkerei ins Nachbardorf Tönnishäuschen zu transportieren.

Wie sie zu dieser Arbeit gekommen ist, hängt mit der Geschichte ihrer Familie, mit der Geschichte des Hofes zusammen, auf dem Tina Reuker aufgewachsen ist und heute lebt. Auf dem Hof am Dorfrand von Enniger wurde Katharina Reuker - so ihr Taufname - am 29.01.1903 geboren. "Nach drei Jungens war ich die erste "Tochter", erzählt sie, "und ich wurde von Kindheit an immer nur Tina gerufen."

Ihre Mutter Anna Reuker, geborene Schwake, hatte den rund 25 Morgen großen Hof geerbt, zu dem noch 25 Morgen Pachtland gehörten; ihr Vater Heinrich Reuker, nachgeborener Köttersohn aus Enniger, hatte auf den Hof "eingeheiratet". In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war er in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Er hatte Land verkaufen müssen, und er nahm den Handel mit Vieh auf, um den Hof über Wasser zu halten. "Mein Vater hatte seine Ersparnisse treu und brav zur Kasse gebracht, und dann kam die Geldentwertung. Durch die Inflation haben wir viel Geld verloren", erinnert sich Tina Reuker.

Zu dieser Zeit, im Alter von 20 Jahren, erlernte Tina Reuker auf einem Hof in Everswinkel "das Kochen", wie sie sagt. Drei Jahre arbeitete sie im Haushalt einer Brennerei in Sendenhorst. Anschließend kehrte sie wieder nach Haus zurück, um für ihre früh erblindete Mutter zu sorgen.

In dieser Zeit stellte sich heraus, daß sie einmal - wie ihre Mutter - das Hoferbe antreten sollte. Ihr ältester Bruder nahm ein Physikstudium auf und ließ sich später in Düsseldorf nieder. Ihr zweiter Bruder verstarb früh, ihr dritter Bruder wurde Metzger und arbeitete zusätzlich als "Milchkutscher" für die Molkerei Tönnishäuschen. "Danach war ich also an der Reihe", erzählt sie. Neben ihren älteren Brüdern hatte Tina Reuker eine jüngere Schwester, die heiratete und vom Hof zog; sie selbst blieb unverheiratet.

Noch immer lagen Schulden auf dem Hof, als Tina Reuker das elterliche Erbe antrat. Land mußte verkauft werden. "Das Pachtland haben wir beibehalten, und das habe ich mit jemandem aus der Nachbarschaft bewirtschaftet."

Von ihrem Bruder übernahm sie, inzwischen 30jährig, im Sommer 1933 die Fuhren mit dem Milchwagen. "Ich hatte vorher schon mal ab und zu für meinen Bruder gefahren, wenn er besonders viel zu Schlachten hatte", erinnert sich Tina Reuker. So habe sich "eigentlich niemand gewundert", daß auf dem Kutschbock nun eine Frau saß, die die nicht gerade leichten Kannen auf den Wagen wuchtete. "Sicher, das war harte Arbeit, vor allem in der ersten Zeit", sagt sie, "aber Gewohnheit macht viel", und: "Ich mußte ja irgendwie das Geld verdienen, denn unser Hof warf nicht viel ab."

Dreißig Jahre lang fuhr sie Tag für Tag die Milch bei umliegenden Bauern zusammen. "Nur ganz selten fuhr jemand anderes für mich, etwa wenn meine Mutter mal schwer krank war."

Jeden Morgen stand Tina Reuker gegen 5 Uhr auf. Bevor sie das Pferd füttern und vor den Wagen spannen konnte, mußte sie zunächst die Kühe melken. Gegen 6.30 Uhr begann die »Milchtour": Tina Reuker fuhr mit ihrem Gespann neun Höfe an, die an einer etwa acht Kilometer langen Strecke lagen.

"Täglich kamen da rund dreißig Milchkannen zusammen", schätzt Tina Reuker. Der Weg durch die Bauerschaft war immerhin kein holpriger Sandweg mehr, sondern schon befestigt. "Mir ist nie eine Düppe vom Wagen gefallen."

Gut zwei Stunden später, gegen 8.30 Uhr, kam sie an der Molkerei in Tönnishäuschen an. "Dem Milchfahrer, der vor mir ankam, mußte ich helfen, die Düppen vom Wagen auf das Rollband zu heben. Wenn ich an der Reihe war, half mir mein Hintermann' - das war so eine ungeschriebene Regel."

Die Kannen wurden in der kleinen Dorfmolkerei gewogen und geleert. "Einige Bauern hatten dann für ihre Kälber Magermilch bestellt, und die wurde dann wieder in die Kannen gefüllt." So mußte Tina Reuker auch bei der Rückfahrt wieder schwere, volle Kannen auf den Wagen laden und an den Höfen absetzen. "Kurz vor Mittag war ich dann meist wieder zu Hause", erinnert sie sich.

Dieser Tagesablauf wiederholte sich Tag für Tag, Woche für Woche, werktags wie an Feiertagen, im Sommer und im Winter, in Friedenszeiten und in Kriegsjahren. Mit Schrecken erinnert sich Tina Reuker vor allem an die letzten Kriegsmonate 1944/45. "Vor den Tieffliegern mußte man sich gehörig in Acht nehmen. Ich werde nie vergessen, wie ein paar Meter hinter mir ein Mann fuhr und dann von den Fliegern aus der Luft erschossen wurde. Er hat sich nicht mehr so schnell verstecken können." Sie selbst sei nur deswegen mit heiler Haut davongekommen, weil sie in letzter Sekunde die Pferde herumreißen und den Wagen in ein Waldstück steuern konnte.

Bis in ihr 60. Lebensjahr fuhr Tina Reuker bei den Bauern in Enniger die Milch zusammen. An das Datum der letzten Tour erinnert sie sich noch haargenau. "Das war am 03.07.1963. Der Pferdewagen war besonders ausgeschmückt, und als ich an der Molkerei ankam, standen dort der Direktor Große Frie, um mich zu beglückwunschen, und ein Mann von der Zeitung."

Am nächsten Tag konnten die Bauern im Lokalblatt einen kurzen Bericht über die Pensionierung ihrer "Milchkutscherin" lesen. Die Milch hatte frühmorgens ein Milchtankwagen abtransportiert.

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 152f.
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-09-09


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 152f.

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort3.8   Warendorf, Kreis
3.8.6   Everswinkel, Gemeinde
Sachgebiet6.8.8   Frauen
10.10   Landwirtschaft, Landwirtin/Landwirt
DATUM AUFNAHME2003-11-10
DATUM ÄNDERUNG2010-09-20
AUFRUFE GESAMT649
AUFRUFE IM MONAT149