PERSON

(84 KB)   Marie Kerlen (geb. 1908), Bäuerin aus Aminghausen bei Minden / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees   Informationen zur Abbildung

Marie Kerlen (geb. 1908), Bäuerin aus Aminghausen bei Minden / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees
FAMILIEKerlen
VORNAMEMarie


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1908-11-04   Suche
GEBURT ORTFrille bei Minden
EHEPARTNER1934: Aminghausen, Friedrich Kerlen


VATERNobbe, Anton
MUTTERNobbe, Maria


BIOGRAFIEAch, sagt sie bescheiden, "ich hab' doch nichts Großes erlebt. Bäuerin hin ich mein ganzes Leben gewesen, eine ganz normale Bäuerin und was soll ich da noch groß erzählen?" Marie Kerlen, 81 Jahre alt, lehnt sich zurück. Wir sitzen in der Guten Stube des Bauernhauses. Auf der prächtigen alten Kommode steht eine Büste vom "Alten Fritz", dem Preußenkönig. An der Wand gegenüber hängt ein altes Familienwappen. "Schreiben Sie lieber darüber", sagt die Bäuerin lächelnd und weist auf das Wappen. "Die Familie meines Mannes - das waren Hugenotten aus Frankreich. Als da die Religionskriege waren, hat der Alte Fritz sie aufgenommen. Schreiben Sie doch darüber, das ist viel interessanter...".

"Nein", wirft die Schwiegertochter ein, "es soll doch nicht um die große Politik gehen, sondern um Frauen, um Frauen vom Lande - und da kannst Du doch 'ne Menge erzählen!"

Die ältere Bäuerin zögert ein wenig, und dann beginnt sie doch zu erzählen. Geboren ist sie am 04.11.1908. Ihre Eltern, Maria und Anton Nobbe, bewirtschafteten in Frille bei Minden einen 20 ha großen Hof, dicht an der Grenze zwischen dem alten Fürstentum Schaumburg-Lippe und der Provinz Westfalen.

Drei Ackerpferde gehörten damals zum elterlichen Hof, Schweine und etwa ein Dutzend Kühe. Für das Kühemelken war auf besonders großen Höfen ein Melker zuständig, der sogenannte "Schweizer". Auf den vielen kleinen und mittleren Höfen hingegen, wie auf dem Hof Nobbe in Frille, gehörte das Melken seit jeher zur Hofarbeit der Frauen - der Bäuerinnen, Töchter und Mägde. Warum das so war, erklärt Marie Kerlen so: "Mein Vater machte mit den Knechten morgens die Pferde fertig, und dann gingen die Männer aufs Feld. Da hatten sie auch schon genug Arbeit für den ganzen Tag, und die Kühe mußten dann eben von den Frauen versorgt werden, genauso wie die Schweine und die Hühner."

Diese Arbeiten erledigte ihre Mutter mit einer Magd zusammen. Mit 12, 13 Jahren, so erzählt die Bäuerin, hat sie dabei regelmäßig geholfen - morgens, bevor es zur Schule ging, die einen Steinwurf weit vom Hof entfernt lag. "Wenn ich dann mittags zurückkam aus der Schule, ging ich Kühehüten."

Auch beim Waschtag mußte Marie Kerlen als junges Mädchen mithelfen. "Das war eine Plackerei - und das jede Woche!" Die schmutzige Kleidung mußte am Vorabend eingeweicht werden; am nächsten Tag wurde sie gekocht und dann in einem Holzbottich "ausgeschaukelt", wie Marie Kerlen es nennt. Im Bottich war ein Flügelrad, das die nasse Wäsche hin und her warf. Das Flügelrad wurde über eine Schwungscheibe angetrieben, die per Hand gedreht werden mußte. "Das ging ganz schön in die Arme, wenn man das Rad drehen mußte."

Auf dem Hof ihres späteren Mannes gab es immerhin schon Strom, so daß das mühevolle Kurbeln am Waschbottich wegfiel. Aber das Einweichen, Waschen, Spülen und Auswringen der Wäscheberge war einstweilen geblieben, bis zum Kauf der ersten vollelektrischen Waschmaschine in den 50er Jahren. Diese Maschine und die Melkanlage, die etwas später installiert wurde, rechnet Marie Kerlen ohne zu zögern zu den "großen Helfern der Bäuerinnen", wie sie sagt.

Ihre Kindheit und Jugend bestand natürlich nicht nur aus Melken und Waschen. Gerne erinnert sie sich an die Kinderspiele auf dem Hof, auf den Dorfstraßen und zwischen den aufgestellten Getreidegarben, an die Ausfahrten mit Pferd und Wagen, vorne auf dem Kutschbock, an die Feste in der Familie oder im Dorf, und an andere "Kindheitssensationen" mehr. Doch immer wieder kommt sie auf die kleinen und großen Arbeiten auf ihrem elterlichen Hof zu sprechen, auf das Kochen, Putzen und Schlachten, auf das Flachsspinnen und das Stoppelrübenausziehen. "Da wuchs man früher eben so hinein. Arbeit gab's ja immer. Und daß ich einmal heirate und Bäuerin werde, war eigentlich von vorneherein klar."

Nach dem Ende der Volkschule mit 14 Jahren blieb sie zunächst einige Jahre zu Hause. Später ging sie, gerade 19 Jahre alt, nach Hannover. Ihre Eltern hatten dort eine Pension ausfindig gemacht, wo sie Hauswirtschaft lernen sollte.

Die Bauerntochter kehrte nach einem Jahr zurück, lebte und arbeitete weiterhin auf dem elterlichen Hof in Frille. Hier lernte sie auf einem Dorffest ihren zukünftigen Mann kennen, den Bauernsohn und Hoferben Friedrich Kerlen aus Aminghausen, einem kleinen Dörfchen nahe Minden. Sie war 26 Jahre alt, er 29, als die beiden 1934 heirateten.

Der Hof, auf den sie nun zog, war mit 25 ha etwas größer als der ihrer Eltern. Vier Pferde standen im Stall, Schweine, Bullen, Kälber und ein Dutzend Kühe - Arbeit genug für Marie Kerlen und ihre beiden Mägde.

Außerdem waren die beiden Kinder zu versorgen, die 1936 geborene Tochter und der zwei Jahre jüngere Sohn. Und schließlich lebten die Schwiegereltern auf dem Hof "Die wohnten für sich, aber meine Schwiegermutter war schwer gelähmt. Die mußte ich dann pflegen. Mein Schwiegervater hat mir dabei sehr geholfen; er hat mir viel Arbeit abgenommen, und das hab' ich immer bewundert, was der für die Frau getan hat."

Hinterm Haus war auch ein großer Garten. Gewöhnlich mußten ihn Bäuerinnen und Mägde pflegen. Auf dem Hof Kerlen aber besorgte der Bauer diese Arbeit: "Mein Mann war ein Tüftler, und er hat sich da ein paar Glashäuser hingesetzt, die er sogar beheizen konnte." Hier wurde Gemüse angebaut, und das besorgte ihr Mann mit den beiden Knechten und mit Helfern aus dem Dorf. "Damit hatte ich nichts zu tun, aber dafür mit den vielen Menschen, die da so mithalfen. Die mußten ja alle beköstigt werden!"

So saßen mittags und abends viele Esser am Tisch - "Zwölf, fünfzehn Leute waren das immer", schätzt Marie Kerlen. Ab 1942 wurden es noch mehr. Evakuierte Frauen und Kinder aus den zerbombten Ruhrgebietsstädten suchten Zuflucht auf dem Land. Später kamen Flüchtlinge hinzu. Bis zu 35 Menschen, so die Bäuerin, haben zeitweise auf dem Hof unter einem Dach gelebt. "Das ging alles", sagt sie nüchtern. "Da sind wir nicht bei gestorben."

Kaum eine Zeit hat sich bei ihr so tief ins Gedächtnis eingeprägt wie gerade die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit. Was alles sich auch später auf dem Hof verändern sollte, scheint dagegen zu verblassen - abgesehen von den Familienereignissen: den Hochzeiten ihrer Tochter und ihres Sohnes und dem "Abgeben des Kommandos an die junge Generation", wie sie es nennt. Vor drei Jahren starb ihr Mann. "Allein ist es nicht schön", sagt sie leise, und nach einer Weile stillen Nachdenkens: "Mir ging’s ja gut, wenn ich an die Frauen denke, die früher bei uns geholfen haben - die hatten schon Kinder und haben ihre Männer viel früher verloren, viele sind aus dem Krieg gar nicht mehr wiedergekommen. Da darf man sich nicht beklagen."

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 154f.
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-09-09


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 156f.

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort2.6   Minden-Lübbecke, Kreis
2.6.7   Petershagen, Stadt
Sachgebiet6.8.8   Frauen
10.10   Landwirtschaft, Landwirtin/Landwirt
DATUM AUFNAHME2003-11-10
DATUM ÄNDERUNG2010-09-20
AUFRUFE GESAMT3644
AUFRUFE IM MONAT400