LITERATUR

VERFASSERBorggfräfe, Henning
TITELSchützenvereine im Nationalsozialismus
UNTERTITELPflege der "Volksgemeinschaft" und Vorbereitung auf den Krieg (1933-1945)
ZEITSCHRIFT/REIHE/BANDForum Regionalgeschichte, Bd. 16
ORTMünster
JAHR2010   Suche Portal
UMFANG128 S.
ISBN978-3-87023-110-1
INFORMATIONSchützenvereine erfreuen sich als wichtige Instanzen lokaler Vergesellschaftung hoher Attraktivität. Doch trotz eines äußerst ausgeprägten Traditionsbewusstseins klaffen mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus große Lücken im eigenen Geschichtsbild. Entweder klammern die Vereine die Jahre nach 1933 weiträumig aus oder beanspruchen eine Opferrolle für sich. Dabei berührten die auch in der historischen Forschung bisher kaum eingehend untersuchten Schützen mit ihrer Praxis der Gemeinschaftspflege und des Schießens zwei Kernziele des Regimes: die Realisierung der „Volksgemeinschaft“ und die Vorbereitung auf den Krieg. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den konkreten Handlungsspielräumen gesellschaftlicher Akteure im Nationalsozialismus. Sie steht im Kontext der neueren Forschungsdiskussion zur Bedeutung des Handelns „normaler Deutscher“ im NS-Staat und zur Frage der Wirkungsmacht der „Volksgemeinschaft“.

Henning Borggräfe schildert in seiner - vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte veröffentlichten - Studie, wie sich die Schützenvereine organisatorisch in die reichsweiten Verbandsstrukturen einfügten und mit dem Nationalsozialismus arrangierten. Er beschreibt die Aneignung nationalsozialistischer Ziele und die eigenen Bestrebungen unter den Schützen als zusammenhängenden, sich wechselseitig beeinflussenden Prozess, der zur Stabilisierung der NS-Herrschaft beitrug. Als Beispiele für die Entwicklung in Westfalen dienen ihm ausgewählte Schützenvereine aus Lünen, Hattingen und Lippstadt. Und diese Beispiele zeigen: Die „Gleichschaltung“ wurde zwar eindeutig von der NS-Führung eingeleitet und vorangetrieben, es gab aber auch erhebliche Elemente der Selbstmobilisierung seitens der Schützen. So versperrte beispielsweise der Westfälische Schützenbund bereits im Frühjahr 1933 jüdischen Bürgern den Beitritt in den Verband und die Übernahme von Vorstandspositionen. Zur Jahreswende 1933/34 schlossen dann viele Vereine ihre jüdischen Mitglieder ganz aus. Für die Vereine selbst blieb mit Ausnahme der Umstellung auf das „Führerprinzip“ und der Eingliederung in einen neuen Verband strukturell zunächst einmal vieles beim Alten. Auf personeller Ebene belegt die Studie, dass die Schützen zunehmend mit der NSDAP kooperierten, denn die Vereinsmitglieder sahen mit dem neuen Regime die Möglichkeit gekommen, die alte Konkurrenz zwischen jenen, die den Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten auf die Wehrhaftmachung legten, und jenen, die ihre Aufgabe in der Gemeinschaftspflege vor Ort sahen, nun jeweils für sich zu entscheiden.

Borggräfe untersucht vor allem die Ausrichtung der Schützenfeste und internen Vereinsveranstaltungen. Er dokumentiert, dass die symbolische Herstellung der „Volksgemeinschaft“ und das gemeinsame Bekenntnis zum „Führer“ in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft feste Bestandteile jedes Schützenfestes waren. Das gilt insbesondere für die traditionsorientierten Vereine, die der von den Schießsportlern dominierten Verbandsentwicklung skeptisch gegenüberstanden. Mit der Etablierung des Regimes ab Mitte der 1930er Jahre wurde der „Hitler-Mythos“ in verschiedenster Form lebendig gehalten. Allerdings wehrten sich viele Vereine zugleich erfolgreich gegen die von der Verbandsführung verlangte Anpassung ihrer Vereinskultur an nationalsozialistische Muster, etwa in der umstrittenen Frage der Einführung neuer Einheitsuniformen.

Bereits in der Spätphase der Weimarer Republik verstanden die Schützen ihren Sport aber auch als Dienst für das Vaterland, indem sie etwa eigene Jugendabteilungen einrichteten, deren Wehrsportprogramme die im Versailler Vertrag festgeschriebene Limitierung der deutschen Armee unterlaufen sollten. Nach der Machtübernahme nutzte die Hitlerjugend diese Vorarbeiten und installierte unter Mitwirkung der Schützen ein flächendeckendes Ausbildungsprogramm zur Wehrertüchtigung der Jugend. Die schießsportlich orientierten Schützen setzten sich für die am Militärgewehr orientierte Vereinheitlichung der Waffen, den Schießstandausbau und die Annäherung der Schießpraxis an den Kriegseinsatz ein. Seit Kriegsbeginn organisierte die SA dann gemeinsam mit den Schützen ein Massenausbildungsprogramm, in dem alle Männer vor der Einberufung zur Wehrmacht in dreimonatigen Wehrertüchtigungskursen kriegsfähig gemacht werden sollten. Bis zum Frühjahr 1942 hatten SA und Schützenvereine auf diese Weise über zwei Millionen Männer ausgebildet. Einige Vereine gingen über diese Mitarbeit sogar noch hinaus und riefen die Bevölkerung in der Lokalpresse auf, sich an der „kostenlosen“ Kriegsvorbereitung auf dem Schützenplatz zu beteiligen.

Unter den Bedingungen des Krieges stellten viele Vereine ihre Arbeit 1941/42 ein, einige waren aber nachweislich noch bis Ende 1944 aktiv. Das offizielle Ende ereilte den Deutschen Schützenverband und die Schützenvereine erst nach der Kapitulation. Infolge des Alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 zur Auflösung der NSDAP und aller ihr angeschlossenen Organisationen wurden sie verboten.


Der Autor:
Henning Borggräfe studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Das vorliegende Buch basiert auf seiner Master-Arbeit. Derzeit untersucht er am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen seiner Dissertation die Funktion historischer Expertise und die Bedeutung der Interessenvertretung von Betroffenen in der Auseinandersetzung um die Entschädigung von NS-Verfolgten seit den 1980er Jahren.
SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.9   1900-1949
Sachgebiet9.11   Feste, Feiern
15.13.1   Brauchtum, Fest, Volksmusik, Volkstanz
15.14   Vereine, Arbeitskreise, Stiftungen
DATUM AUFNAHME2010-05-12
DATUM ÄNDERUNG2010-05-12
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