QUELLE

DATUM1933-01-06   Suche DWUD
TITEL/REGESTVarusschlacht um den Detmolder Landtag. Mit Rede-Kanonen und braunen Legionen. Zeitungsartikel aus: Vossische Zeitung, 06.01.1933
TEXTDer nationalsozialistische Führer steht wieder einmal am Scheideweg, bedrängt von entgegengesetzten Einflüssen. Wie es seiner schwankenden Art und seiner inneren Unsicherheit, die heute größer ist als je, entspricht, sucht er die Entscheidung zu verschieben.

Der Wahlkampf in Lippe - Detmold ist ihm ein, höchst willkommener Anlaß, Aktivität vorzutäuschen. Sein Leibblatt, der "Völkische Beobachter", steht seit einigen Tagen im Zeichen Hermanns des Cheruskers, der vom deutschen Nationalhelden zur Lippischen Lokalgröße degradiert wird. In seinem Zeichen will Hitler den marxistischen Drachen erlegen, verkörpert durch den gemäßigten und vernünftigen Sozialdemokraten Drake, der seit 1919 die weltbewegenden Geschicke des Gebiets von 162.000 Einwohnern leitet, ohne im Guten oder Bösen irgend jemand aufzufallen. Diesen bescheidenen und sachlichen Mann und seine stille, bescheidene und sachliche Arbeit hat sich der Cäsar aus Braunau als Objekt für seine Varusschlacht ausgesucht.

Die Bewohner des Ländchens werden nicht gefragt, ob ihnen Hitlers Rettertätigkeit notwendig oder erwünscht erscheint. Sie hätten wahrscheinlich die Wahl ihres Landtags ohne viel Aufhebens in der Ruhe und Verträglichkeit erledigt, die diesem Volksstamm eigen ist, auch in Zeiten, die die vernünftigeren Leute aus dem Gleichgewicht bringen können. Statt dessen erleben sie eine förmliche Invasion nicht nur von Rednern schwersten Kalibers, nicht nur von Flugblättern und Plakaten, sondern auch einer ganzen Reihe von braunen "Legionen", die mit ihren nachgeahmten römischen Feldzeichen und Grußformen höchst fremdartig wirken.

Diese Besatzungstruppen, die sich nach den vorliegenden Berichten als Herren des Landes aufspielen, haben die örtlichen Behörden zu einem Demonstrationsverbot gezwungen [...]

Offenbar entspricht dieses Verbot einer zwingenden Notwendigkeit. Das geht schon daraus hervor, daß die nationalsozialistische Presse, wie zu erwarten war, das Einschreiten der Staatsgewalt als "unerhörte" Behinderung des Wahlkampfes "agitatorisch" ausbeutet. Die Bevölkerung von Lippe muß sich entweder den braunen Terror widerstandslos gefallen lassen, oder die Nationalsozialisten führen Klage über die Anmaßung ihrer Gegner, die den Anspruch erheben, in Ruhe für ihre Arbeit und ihre politische Überzeugung zu leben, auch wenn sie Hitler nicht in den Kram paßt.

Das ungeheure Getöse, das die Kamarilla um Hitler wegen dieser welterschütternden Parlamentswahl macht, dient vor allem der Ablenkung der Besorgnisse in den eigenen Reihen. Denn außerhalb des nationalsozialistischen Apparates legt kein Mensch dem Ausgang des Wahlkampfes entscheidende Bedeutung bei. Selbst wenn ein Stimmenzuwachs für die Nationalsozialisten erzielt würde, so wäre das keineswegs ein Beweis für die Gesamtstimmung der Wählerschaft. Dazu ist der Ausschnitt zu klein und zu einseitig, ganz abgesehen davon, daß die Möglichkeit, alle Mittel der Vernebelung und Beeinflussung auf wehrlose kleinstädtische und bäuerliche Wähler zu konzentrieren, bei einer Reichswahl nicht gegeben wäre.

Und wenn die ganze Übung schon gar keinen Zweck hat, so trägt sie doch sicher dazu bei, Hitlers erschüttertes Selbstbewußtsein zu stärken, das sich an Versammlungserfolgen und Leitartikeln seiner Presse immer neu entzündet. Dieses Selbstbewußtsein des "Führers" brauchen Leute wie Goebbels, die von einer Umstellung der Partei für sich nichts zu erwarten hätten.

Ober betrachtet Hitler den Wahlausfall nach antikem Vorbild als Orakel? In Kleists "Hermanns-Schlacht" findet sich eine Parallele. Varus fragt die Wahrsagerin über Vergangenheit und Zukunft. Woher komme ich? Aus dem Nichts? Wo bin ich? Drei Schritte vom Nichts. Wohin gehe ich? Ins Nichts [...]


QUELLE    Helmert-Corvey, Theodor | Nationalsozialismus - Wahl in Lippe | Dia 05, S. 37f.


PROJEKT    Diaserie "Westfalen im Bild" (Schule)
SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit1.6.1   Varusschlacht / Rezeption
3.9   1900-1949
DATUM AUFNAHME2004-02-08
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