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Allgemeine Bildungspolitik und -praxis von 1945 bis zur Gegenwart


 
 
 
Seit mehr als 200 Jahren im Bildungswesen wirksame Tendenzen der Moderne setzten sich auch nach dem zweiten Weltkrieg fort. Dazu zählen neben Verstaatlichung, Verrechtlichung und Säkularisierung, weitere Ausdifferenzierung sowie Durchlässigkeit, wobei insbesondere das höhere Bildungswesen eine Wandlung erfuhr indem es sich allmählich für immer mehr Bevölkerungsschichten öffnete. War die Zeit bis zum Beginn der 1960er Jahre zunächst noch stark geprägt von Wiederaufbau und dem Rückgriff auf Erziehungs- und Bildungsziele der Weimarer Republik, setzte seit Mitte der 1960er Jahre ein tiefgreifender Ausbau des gesamten Bildungswesens ein, der sich sowohl quantitativ (Zunahme der Schülerzahlen im höheren Bildungswesen) als auch qualitativ (Anhebung des Bildungsniveaus, neue Schulformen) niederschlug.

1945 fehlte es an allem: Viele Schulhäuser waren zerstört, es herrschte Mangel an ideologisch unbelasteten Lehrerinnen und Lehrern, an Lehrbüchern, Kleidung, Nahrung und Heizstoffen. Dennoch wurden bereits im Herbst die ersten Grundschulen wieder eröffnet, kurze Zeit auch die höheren Schulen. Die Schulspeisungen, oft auch während der Ferien durchgeführt, trugen zur Linderung der Not bei. Klassen und Klassenzimmer waren überfüllt, was durch die große Zahl an Flüchtlingen noch verschärft wurde; der Unterricht in den wenigen noch bestehenden Schulräumen wurde vielfach im Schichtbetrieb und mit viel Improvisation (Türen wurden als Tafeln benutzt, Kalk ersetzte die Kreide) durchgeführt.[1] Von den in der Stadt Münster überprüften Lehrerinnen und Lehrern waren im September 1946 79 (1/6) entlassen und 416 (5/6) (wieder) eingestellt worden.[2] Nach einem guten Jahrzehnt war der äußere Wiederaufbau der Schulen vollendet; seit Mitte der 1950er Jahre normalisierten sich Schulleben und Unterricht.

Insbesondere auf vielfachen Wunsch der Eltern wurden viele Konfessionsschulen wieder eröffnet. Die britische Militärverwaltung hatte zu Anfang des Jahres 1946 eine Abstimmung unter den Eltern der Volksschulkindern organisiert, bei der sich eine deutliche Mehrheit – 94 Prozent der katholischen und 54 Prozent der evangelischen Eltern – für die Wiedereinrichtung der Konfessionsschule ausgesprochen hatte. Auseinandersetzungen um die konfessionelle Frage erreichten in Westfalen nicht mehr die Virulenz wie noch zu Beginn der Weimarer Republik.[3] In Lippe dagegen sprach sich ein Großteil der Bevölkerung für die Gemeinschaftsschule und gegen die Bekenntnisschule aus und lehnte aus diesem Grund (folgenlos) die NRW-Verfassung 1950 ab. Viele Lehrer verweigerten in der Folge den Eid auf die Landesverfassung. 1955 stellte das Bundesverfassungsgericht dar, dass die Regelungen für NRW auch für Lippe gelten.[4]

Der Wiederaufbau des Schulwesen in Westfalen, das zusammen mit Lippe ab 1946 zum Land Nordrheinwestfalen zählte, orientierte sich an den Strukturen vor 1936: Neben dem grundständigen (auf vier Volksschuljahre aufbauenden) neunjährigen Gymnasium altsprachlicher, neusprachlicher und mathematisch-naturwissenschaftlicher Richtung entstand das an Volks- und Realschule anschließende Gymnasium in Aufbauform (als sechsjährige Aufbauschule oder als dreijähriges Aufbaugymnasium). Viele höhere Mädchenschulen wandelten sich zu Anstalten, die die Hochschulreife vergaben.[5] Im noch vielgestaltigen mittleren Schulwesen trug die Prüfungsordnung für Realschullehrer von 1948 zur Vereinheitlichung bei. Die Lehrerbildung erfolgte wieder in Pädagogischen Akademien (bereits ab 1946 in der katholischen Akademie in Paderborn und der evangelischen in Bielefeld). Für Berufstätige wurde mit den Abendgymnasien und den tagsüber zu besuchenden Kollegs ein zweiter Bildungsweg geschaffen (zwischen 1965 und 1980 wuchs ihr Anteil von zwei auf fünf Schulen).[6] Die neuen Lehrpläne und Schulbücher bewirkten in den 1950er Jahren eine didaktische Konsolidierung und Profilierung der einzelnen Schularten. Die Grundlagen für diese Neuordnungen bildeten das Gesetz zur Ordnung des Schulwesens von 1952 und das Schulverwaltungs- und das Schulfinanzierungsgesetz von 1958.[7]

Wiederaufbau und Veränderungen im Schulwesen vollzogen sich in Westdeutschland in föderalistischer Tradition. Ein gemeinsamer, bundesdeutscher Rahmen wurde 1955 durch das Düsseldorfer Abkommen der Länder zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens gesetzt. Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Kultusministerkonferenz (KMK) bestätigten den Aufbau einheitlicher Schulstrukturen. 1957 legte die KMK eine einheitliche Sprachenfolge an den Gymnasien fest, 1961 beschloss sie den Wegfall der Aufnahmeprüfung für die Sexta und 1964 plante sie im Hamburger Abkommen die Auflösung der Volksschule.[8]

Inhaltlich knüpfte der Schulunterricht nach 1945 an neuhumanistische und reformpädagogische Bildungstraditionen aus der Zeit der Weimarer Republik an, wenngleich sich das Bildungsziel für Mädchen in den 1950er und 1960er Jahren noch vornehmlich an der "Erziehung des Mädchens zum mütterlichen Menschen"[9] orientierte. Erst im Strukturplan der Bildungskommission des Bildungsrates aus dem Jahre 1970 wurde eine explizit wissenschaftsorientierte Bildung für alle Heranwachsenden gefordert.[10] Dazu trug die Bildungsrevolution der 1960er Jahre wesentlich bei, die der 1964 von Georg Picht angeprangerten "deutschen Bildungskatastrophe" folgte und der der Soziologe Ralf Dahrendorf mit der Formel vom "Bürgerrecht auf Bildung" einen Namen gab.[11]

Die Gründe für diese in den 1960er Jahren einsetzende, alle westlichen Länder ergreifende Bildungsexpansion waren zum einen in der wachsenden Demokratisierung begründet, zum anderen lässt sie sich als Reaktion auf den einsetzenden Kalten Krieg und den Sputnik-Schock von 1957 interpretieren.[12] Als die Gesamtkultusministerkonferenz 1964 den Ruf nach Reformen aufnahm, formulierte sie als langfristige Ziele der Bildungsreform in Deutschland: Anhebung des gesamten Ausbildungsniveaus, Erhöhung der Anzahl gehobener Abschlüsse, Ausbildung des einzelnen bis zum höchsten Maß seiner Leistungsfähigkeit, Verstärkung der Durchlässigkeit der bestehenden Schulstrukturen sowie die Errichtung neuer, weiterführender Schulformen.[13] Alle Schulstufen, von der Grundschule über das Gymnasium bis zu den Berufsschulen, sollten reformiert und neue Schultypen wie die Fachoberschulen und Fachhochschulen geschaffen werden.[14]

Parallel zu diesen Beschlüssen setzte in Nordrhein-Westfalen mit der Ablösung der CDU-geführten Landesregierung durch eine sozialliberale Koalition im Jahre 1966 eine politische Neuorientierung ein, die 1968 zur Volksschulreform, zur Trennung in Grund- und Hauptschulen und zur Schließung etlicher kleiner Landschulen führte. Unter den neu entstehenden Hauptschulen blieben zunächst noch einige (wenige) konfessionell, die meisten jedoch wurden bereits als Gemeinschaftsschulen geführt. In den folgenden Jahren ließ das Interesse an religiöser Schulerziehung deutlich nach. 1969 wurde das 9. Schuljahr, kurz darauf das 10. Schuljahr, obligatorisch eingeführt. Zwischen 1971 und 1973 fand die Reform der gymnasialen Oberstufe an 94 westfälischen Gymnasien statt:[15] Kursunterricht löste den Klassenverband als Vorbereitung auf universitäres Lernen ab. Zudem führten die meisten Gymnasien in den 1970er Jahren die Koedukation ein und ab 1975 die 5-Tage-Woche. 1984 wurden die bis dahin bestehenden und ausschließlich für das höhere Schulwesen zuständigen Schulkollegien in Münster und Düsseldorf aufgehoben und den Schulabteilungen der Regierungspräsidenten zugeordnet.[16]

Als Kernstück der sozialdemokratischen Schulpolitik gilt die Gesamtschule, in der Kinder gemeinsam und unabhängig von Herkunft und Fähigkeiten unterrichtet werden. In NRW wurde sie ab 1969 verwirklicht. Einige Pilotprojekte wurden durchgeführt. Zu diesen zählte die 1969 in Münster aufgrund einer Initiative des Bistums gegründete Friedensschule. Auf der Basis eines an christlichen Werten orientierten Menschen- und Weltverständnis ermöglichte ihr unter wissenschaftlicher Begleitung neu erarbeitetes Curriculum individuelle Bildungsgänge. Das Ziel, Schule als Instrument zur Überbrückung der sozialen Segregation einzusetzen, erreichte sie bereits mit ihrem ersten Abschlussjahrgang 1978: 44% der im ersten Jahrgang eingeschulten Schüler, die zu je einem Drittel Haupt-, Realschul- sowie Gymnasialempfehlungen aufgewiesen hatten, legten erfolgreich ihr Abitur ab.[17] 1982 wurde das Modell der Gesamtschule in NRW in das Schulverwaltungsgesetz als eines von vier gleichberechtigten Modellen von Regelschulen der Sekundarstufe I aufgenommen. 1991 gab es in NRW 157 integrierte Gesamtschulen, 2014 306 Schulen (das waren 12% der insgesamt 1863 weiterführenden Schulen in NRW).[18]

Auch die Berufsbildung profitierte von den Reformen der 1960er Jahre: Ab 1971 wurden in NRW alle mittleren Abschlüsse mit der Fachoberschulreife gleichgesetzt und so der Zugang zu Berufs- und Fachoberschulen geöffnet. Ab 1965 war bereits die Lehrerbildung an Pädagogische Hochschulen verlagert worden, 1980 wurden diese in die Universitäten integriert.[19]

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die allgemeine Hochschulreife erlangten, nahm nun rapide zu: Betrug der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten an den Schulabgängern in NRW 1956 5 Prozent so wuchs er 1971 auf 11,5% betrug 1992 28,5% und 2013/14 31%. Bundesweit betrugen diese Zahlen 1956 5,5% 1971 12% 1992 24,4% und 2014 33%.[20] Demgegenüber sank die Zahl der Hauptschulabschlüsse in NRW kontinuierlich; machte sie im Jahre 1971 45% aus, so sank sie bis 1992 auf 24,5% und betrug 2014 14,7%. Bundesweit lagen diese Zahlen 1971 bei 48,5%, 1992 bei 30,5% und 2014 bei 17,2%.[21] Vor allem Mädchen und Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten profitierten von der Bildungsexpansion: Der Anteil von Frauen an den Abiturienten in Westfalen stieg von 30% im Jahre 1965 auf 46,4% im Jahre 1980.[22] In NRW betrug er 2014 54,7%.[23]

Die Bildungsexpansion hatte auch die Bildungsziele beeinflusst. Neben Leistung trat die individuelle Entfaltung. Seit der Jahrtausendwende trat das nach 1973 rehabilitierte Leistungsprinzip mit den PISA-Studien in einen internationalen Wettbewerb. NRW rangiert im bundesweiten Vergleich von Mathematik-, naturwissenschaftlicher und Lesekompetenz im unteren Drittel. Da insbesondere der hohe Migrantenanteil zu einem relativ schlechten Abschneiden Deutschlands beitrug, förderte der Bund ab 2002 den Ausbau von Ganztagsschulen. NRW begann 2003 mit der Einrichtung von Ganztagsschulen vorwiegend an Grundschulen und Hauptschulen. 2011 verfügten 2626 von den 3127 öffentlichen Grundschulen in NRW (84%) über ein Ganztagsangebot.[24]
 
Anmerkungen
[1] So in Dülmen, Bloch Pfister, Alexandra, Geschichte des Dülmener Schul- und Bildungswesens, in: Sudmann, Stefan (Hg.), Geschichte der Stadt Dülmen, Dülmen 2011, S. 705-740, hier S. 730.
[2] 50 Fälle waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend bearbeitet. Jeismann, Karl-Ernst, Die Bildungsinstitutionen der Stadt Münster seit 1945, in: Jakobi, Franz-Josef (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 3, Münster 1993, S. 177-220, hier S. 179.
[3] Jeismann, Bildungsinstitutionen 1993, S. 186f.
[4] Niebuhr Hermann, Lippe 1946/47: Das Ende der Selbstständigkeit und die Eingliederung nach Nordrhein-Westfalen, in: Geschichte im Westen 11 (1996), S. 21-34.
[5] Zymek, Bernd und Gabriele Neghabian. Langfristige Schulentwicklung und politischer Systemwechsel. Expansion und Differenzierung der höheren und mittleren Schulen in Westfalen 1928-1969. In: Rudloff, Wilfrid (Hg.). Regionale Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 281-311, hier S. 296.
[6] Saal, Friedrich Wilhelm, Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Wilhelm (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Das 19. und das 20. Jahrhundert, Wirtschaft und Gesellschaft, Düssedorf 1984, S. 533-618, hier S. 612f.
[7] Jeismann, Bildungsinstitutionen 1993, S. 187, Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 613.
[8] Dazu gehörten Organisationsformen und Schultypen, Sprachenfolge, Feriendauer, Anerkennung von Prüfungen und Bezeichnung der Notenstufen. Vgl. dazu: Furck, Carl-Ludwig, Allgemeinbildende Schulen: Entwicklungstendenzen und Rahmenbedingungen, in: Ders. und Führ, Christoph (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 6, München 1998, S. 245-259; Führ, Christoph, Zur deutschen Bildungsgeschichte nach 1945, in: Ders. und Furck, Carl-Ludwig (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 6, München 1998, S. 1-23.
[9] So in einem Positionspapier der FDP 1950, zit. nach Furck, Allgemeinbildende Schulen 1998, S. 250.
[10] Ebd.
[11] Furck, Allgemeinbildende Schulen 1998, S. 250; Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte 1998, S. 15.
[12] Der Sputnik-Shock von 1957, die Inbetriebnahme des ersten sowjetischen Satelliten weltweit, führte in der westlichen Welt zu vielfältigen Aufhol-Bewegungen. Insbesondere im Bildungsbereich bewirkte er zahlreiche Fördermaßnahmen und Neuerungen wie den Einbezug bislang bildungsferner Schichten als Bildungsreserve in das höhere Bildungswesen.
[13] Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte 1998, S. 15.
[14] Als Think Tank fungierte der zwischen 1965 und 1975 bestehende Bildungsrat, der den 1953 gegründeten "Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen" ablöste und eine Fülle von Empfehlungen und Gutachten veröffentlichte.
[15] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 614f.
[16] Jeismann, Bildungsinstitutionen 1993, S. 189.
[17] Jeismann, Bildungsinstitutionen 1993, S. 211-215.
[18] Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht, S. 11, https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten (20.01.2021).
[19] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 616f.
[20] Köhler, S. 99; Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht, S. 182, https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten (20.01.2021); https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Schulen/Tabellen/AllgemeinBildendeBeruflicheSchulenAbschlussartInsgesamt.html (20.01.2021).
[21] Ebd.
[22] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 615.
[23] Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht, S. 182, https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten (20.01.2021).
[24] Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht, https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten (20.01.2021).