Soest > Aldegrever: Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert


 
Klaus Kösters

Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert

 
 
 

1. Nacktheit ohne Sünde?

 
 
 
In der Renaissance entdeckten die Künstler die Schönheit des menschlichen Körpers neu. Geschult an den kulturellen Vorbildern der Antike beriefen sie sich auf die Natur als Lehrmeisterin [1] und meinten damit das ganze irdische Leben, von den Körperformen bis zu den Leidenschaften, von der gesehenen Landschaft bis zu den Empfindungen. [2] Natur, das war für sie die Wirklichkeit schlechthin, in deren Mittelpunkt der Mensch stand. Diese humanistische Wertschätzung des Menschen und der Natur war gekoppelt an den Begriff der Schönheit, die sich in der Vollkommenheit der Proportionen und der Beherrschung der räumlichen Darstellung manifestierte. Und die Entdeckung der antiken Kunst sowie das Studium der antiken Mythologie ermutigten die Künstler, sich der nackten menschlichen Gestalt zu widmen, welche die klassische Kunst immer wieder gepriesen hatte. Es war, wie gesagt, eine Wiederentdeckung, denn aus der religiösen Kunst des Mittelalters war Nacktheit, bis auf wenige Ausnahmen, verbannt, da man sie mit Leiden, Sünde und Schande assoziierte. [3]

Nach der asketisch-kirchlichen Weltanschauung galt der Körper nur als vergängliche Hülle der unsterblichen Seele, ein nicht beachtenswertes Anhängsel. Zwar verschlossen die Künstler des Mittelalters nicht ihre Augen vor der Sexualität des Menschen. Aber die körperfeindlichen Vorschriften der Kirche tabuisierten weite Bereiche und unterzogen die Darstellung des nackten Körpers einer scharfen Kontrolle. Nacktheit bedeutete im Spätmittelalter den Rückzug vom gesellschaftlichen Austausch. In Kunst und Literatur war die Nacktheit des Weibes gleichzusetzen mit Wollust, die des Mannes mit Wahnsinn und Barbarei, [4] wie sie in den Wilden Männern des Waldes zum Ausdruck kam. Nur wenn die Nacktheit sich in den christlichen Kontext einordnen ließ, war sie in der Kunst erlaubt: z. B. in den Darstellungen von Adam und Eva im Paradies oder - zumindest als teilweise Blöße - in der Taufe sowie der Passion Christi. Nacktheit war so eingebunden in die zentralen Glaubensaussagen von Schöpfung und Erlösung.
 
 
Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, empfanden sie Scham und Schande. Ihre paradiesische Nacktheit war Zeichen ihrer Unschuld gewesen, die sie nun verloren hatten. Kleidung wurde zum "Schutzmantel der Schamhaftigkeit" [5]. Seit Evas folgenschwerer Übertretung des göttlichen Gebotes traf ihr Fluch alle Frauen. Nach der traditionellen Überzeugung waren Frauen mehr als Männer der Macht der Lust und der Sinnlichkeit ausgeliefert. Sie galten als minderwertiger und waren dem (rationaleren) Mann untergeordnet. [6] Für die mittelalterlichen Theologen war das schwache Geschlecht eine moralische Gefahr und musste vor sich selbst geschützt werden, was die Unterordnung unter den Mann plausibel machte. [7] Über Jahrhunderte blieb das von Gesellschaft und Kirche sanktionierte Bild von der Bestimmung der Frau als treue Gattin und Mutter bestehen. An dieser traditionellen Auffassung änderte auch die mit der Renaissance verbundene neue Wertschätzung der Frau nichts. Anstand nach außen und Treue zum guten Ruf der Familie, Sorge um das leibliche Wohl aller, die unter ihrem Dach lebten, und Aufzucht der Kinder - das war auf eine Kurzform gebracht die zugewiesene gesellschaftliche Rolle. [8] Alternativen boten nur ein Dasein als Nonne oder Kurtisane.

Die rigide weibliche Rollenzuweisung lässt sich bis in die griechische Antike und die Anfänge des Christentums zurückverfolgen. Das mönchische Ideal der vollkommenen Enthaltsamkeit bestimmte die allgemeinen Anschauungen über Sexualität. Der Geschlechtsakt galt zwar allgemein als Sünde, aber da er nicht zu verhindern und zur Fortpflanzung notwendig war, entstanden detaillierte kirchliche Verhaltensvorschriften, die genau regelten, was zu welchem Zeitpunkt gerade noch erlaubt und was verboten war. [9] Eine gewisse Lockerung der Sexualmoral geschah mit Luthers Rechtfertigungslehre, welche die Erlangung der göttlichen Gnade nicht mehr von der Kirche, sondern vom Glauben jedes einzelnen Menschen abhängig machte. Luthers Wertschätzung des Ehestandes und die Erlaubnis der Priesterehe [10] taten noch ein übriges, um das zölibatäre Leitbild der katholischen Lehre abzulösen. [11] Aber die protestantische Entsakramentalisierung der Ehe und die Aufgabe des Ideals der Enthaltsamkeit machten es notwendig, das Verhältnis von Sexualität und Geistigem neu zu definieren. Sexuelle Entsagung und Heiligkeit waren nun nicht mehr unmittelbar aneinander gekoppelt. [12] Dafür wuchs die moralische Bedeutung der Ehe als Leitbild christlicher Lebensführung: Die Sexualität wurde diszipliniert und auf die Ehe beschränkt.

In den Anfängen des 16. Jahrhunderts gab es noch einen sehr freizügigen Umgang miteinander. Daran änderte auch die seit 1500 zunehmende Verbreitung der "Krankheit der Venus", die Syphilis, nicht viel. Das sollte sich aber in den folgenden beiden Jahrhunderten unter dem Einfluss der Reformation und der Gegenreformation ändern. Es fehlte zunächst noch jene übertriebene Schamhaftigkeit und Prüderie späterer Zeiten und sexueller Verkehr außerhalb der Ehe war zwar verboten, aber nicht ungewöhnlich. Baden war ein geselliges Ereignis, Freudenhäuser öffentliche Einrichtungen und die Sprache oft derb und erotisch. Doch immer mehr griffen kirchliche und weltliche Obrigkeiten in die Privatsphäre des einzelnen ein und unterzogen jeden einer allgemeinen Sittenkontrolle. Während man auf dem Land voreheliche Sexualität noch häufiger antraf, war in den städtischen Zünften der Nachweis ehelicher Geburt Voraussetzung der Aufnahme. Sexuelle Betätigung war allein legitimiert durch den Wunsch nach Kindern, also nur innerhalb der Ehe, weshalb beide Eheleute unter dem Zwang standen, Kinder zu bekommen. Alle Formen außerehelicher Sexualität wie Prostitution, Vergewaltigung oder Ehebruch wurden durch die kirchliche oder staatliche Moralpolitik zunehmend tabuisiert und kriminalisiert, Sodomie und Homosexualität als Ketzerei gebrandmarkt und mit ungewöhnlich harten Strafen belegt. [13]

Als die humanistischen Gelehrten die Schriften der antiken Schriftsteller entdeckten, stießen sie auch auf die erotischen Texte von Catull, Vergil, Ovid und anderen Autoren. Moderne Schriftsteller, z. B. in Italien Giovanni Boccaccio (1313-1375) [14] und Pietro Aretino (1492-1556) [15], oder die französischen Poeten Pierre de Ronsard (1524-1585) [16] und Clément Marot (1497-1544) [17] sowie der Abbé de Brantôme (1527-1614) setzten diese Tradition fort. Daneben gab es auch eine bis ins Mittelalter zurückreichende Überlieferung von Volkserzählungen und Gedichten, in Deutschland die "Schwänke", welche oft mit derber oder obszöner Satire lüsterne Geistliche oder gehörnte Ehemänner aufs Korn nahmen. [18] Gleichzeitig entwickelten die Künstler neue naturalistische Darstellungsformen in der Malerei oder ließen sich von den antiken Plastiken inspirieren. Das erste Menschenpaar auf den Gemälden des Jan Gossaert [19] oder in den Bildern Dürers zeigten die Künstler nun als Menschen aus Fleisch und Blut. Sie bezeugen bei Dürer mit anmutiger Gebärde die Eleganz der wiederentdeckten Antike. Und sie bringen die Schönheit einer Welt zur Anschauung, in welcher der Mensch zum Maß aller Dinge wird. Aber indem die Künstler die natürliche Nacktheit vom Stigma des Sündenfalls befreiten, gaben sie gleichzeitig der Sinnlichkeit Raum, die nun hinter der neuen Auffassung vom Körper aufschien. Eros und Sexus wurden zu einem unzertrennlichen Paar.
 
 
 


Anmerkungen

[1] Der zentrale Begriff ist bei Alberti die "Mimesis", die Nachahmung der Natur: Der Maler müsse seine Motive aus der Natur entnehmen, um das Leben in seiner reichen und mannigfaltigen Natürlichkeit darstellen zu können (Leon Battista Alberti: De pictura, 1435).
[2] Fischer Weltgeschichte 12, S. 155f.
[3] Bologne 2001, S. 156
[4] Ariès / Duby 1990, S. 542
[5] ebda, S. 354
[6] Für Aristoteles war die Frau das Gefäß, dem sich der männliche Formwille aufprägte (Aristoteles, Physik, 1,9,192a), ein Gedanke, der um so bereitwilliger von den Denkern des Mittelalters und der Renaissance aufgenommen wurde, je mehr die Autorität des griechischen Philosophen wuchs. Siehe auch: Roper 1995, S. 63f.
[7] Genesis, 3, 16. Paulus, Brief an die Epheser, 5, 21-23. Rotter 2002, S. 96ff. und Döbler 2000, S. 279-289
[8] In der Soester Kirchenordnung von 1532 heißt es: Jungfrauen sollen in Schulen in "Zucht, Ehre und Gottesfurcht" unterwiesen werden, damit sie, "wenn Gott der Allmächtige sie zu dem ehelichen Stand kommen ließe, wissen, wie sie ihren ehelichen Gatten aus Herzensgrund lieben sollen, ihm untertänig und Gehorsam sein, und Vater und Mutter ehren, wie Sankt Paulus das sehr schön beschreibt..." (Soester Kirchenordnung 1984, 2771-2772). Ariès / Duby 1991, S. 415
[9] Ich verweise hier auf die sehr ausführliche Dokumentation von Ranke-Heinemann 1989
[10] S. a. Luthers Schrift: "Über die dankbare Schätzung des Ehestandes" von 1531
[11] "Wer gelobt, ewige Keuschheit zu halten, verschwört sich gegen den Ehestand und gelobt Hurerei." (Soester Kirchenordnung 1984, 2975)
[12] Roper 1995, S. 78
[13] van Dülmen 1999/1, Kapitel: "Sexualität", S. 184-197; Fischer Weltgeschichte 24, S. 199-202
[14] Decamerone, 1353
[15] Sonetti lussoriosi, 1524: Auf der Grundlage der "I Modi", einer Kupferstichserie von Marcantonio Raimondi nach Zeichnungen von Giulio Romano mit 16 Liebesstellungen (s. Anm. 22), entstand diese Gedichtsammlung, die 1527 vom Papst verboten wurde und als erstes Buch auf den Index kam. I Ragionamenti, 1537 (Kurtisanengespräche), ebenfalls verboten (ausführlich dazu: Talvacchia 1999)
[16] Oden, 1550 (Liebesgedichte unter dem Einfluss von Horaz, Pindar und Petrarca); Amours de Cassandre, 1552 (Liebes-Sonette)
[17] Temple de Cupido, 1515 (Liebesgedichte)
[18] Übersicht bei: Petzold 1979 und Arnold 1991
[19] Jan Gossaert: Der Sündenfall. Adam und Eva. ÖL/Eichenholz, um 1525. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie