Soest > Aldegrever: Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert


 
Klaus Kösters

Eros, Sexus und die öffentliche Moral im
16. Jahrhundert

 
 
 

3. Das erlaubte Nackte und die Kunst Heinrich Aldegrevers

 
 
 
Aldegrever hat sich mit einem nicht unwesentlichen Teil seiner Kupferstiche nicht nur mit der nackten menschlichen Gestalt, sondern auch mit den damals "sanktionierten" erotischen Themen auseinandergesetzt, auch wenn er niemals den Boden der "allgemeinen" Moral verließ. Darin unterscheiden sich seine Blätter von denen der hier gezeigten Arbeiten der Brüder Beham oder Marcantonios. Aldegrevers "Nackte" sind eher in den Kanon der klassischen oder alttestamentarischen Geschichten eingebunden, als das sie rein spekulativ dargeboten werden. Aber dennoch, auch das erlaubte Nackte ist nicht frei von erotischen Komponenten und die Häufigkeit, mit der in der zeitgenössischen Druckgrafik immer wieder die gleichen Geschichten publiziert wurden, spricht dafür, dass diese Themen "marktgängig" waren. [38] Daniel von Soest hatte in seinem Spottgedicht auf die Reformation "Ein gemeyne bicht" von 1539 den Finger in die Wunde gelegt: Der Soester Richter Johann von Holtum soll mit seiner Geliebten, einer ehemaligen Nonne, zu Heinrich Aldegrever gekommen sein mit der Bitte, sie beide in paradiesischer Nacktheit zu malen. [39] Die Begebenheit ist nicht ganz ohne Pikanterie, wenn angesehene Soester Bürger nackt im Haus des Künstlers posieren. Aber was als antilutherische Skandalgeschichte und Beispiel für die protestantische Sittenverderbnis gemeint war, erweist sich bei näherer Betrachtung vielleicht nur als Aktstudium des Meisters, der seine Modelle aus der näheren Umgebung nahm.
 
 
Neben den zahlreichen Darstellungen des ersten Menschenpaares, wo Aldegrever in der Tradition von Albrecht Dürer (1471-1528) steht (Kat. Nr. 21-26), erscheinen viele Geschichten des Alten Testaments allerdings nicht nur durch den Bibeltext inspiriert worden zu sein. Auf dem Blatt "Lot und seine Töchter" (Kat. Nr. 27) [40] sitzen die Figuren in einer Dreieckskomposition geordnet vor dem brennenden Sodom, das eher einer Burg aus dem Dürerschen Repertoire gleicht und Aldegrevers Nähe zum Nürnberger Meister verrät. Die verlangenden Blicke der Töchter und die halb entblößten Brüste enthüllen die Sinnlichkeit der Szene. 1555 stach er die Lot-Geschichte noch einmal, diesmal in vier Blättern (Kat. Nr. 28-31). [41] Die letzte Szene zeigt wiederum "Lot und seine Töchter". Eng hat sich die eine Tochter an den Vater geschmiegt und reicht ihm einen Weinpokal, während die andere erwartungsvoll zuschaut. Die verschlungenen Beine von Vater und Tochter sind eine eindeutige Anspielung auf die bevorstehende sexuelle Vereinigung. [42]
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Die Geschichte Adams und Evas, 1540
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Die Geschichte von Lot, 1555
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In einer Folge von sechs Blättern hat Aldegrever die alttestamentarische Ammon-Geschichte geschildert (Kat. Nr. 32-38). [43] In kompositorischer Anlehnung an Dürers Passionsszenen schildert Aldegrever die Ereignisse, wobei seine Protagonisten nicht nackt sind, sondern zeitgenössische Kleidung tragen. Die zweite Szene deutet die Vergewaltigung an, als Ammon seiner Halbschwester unter den Rock greift. Das große Bett im Hintergrund macht den weiteren Verlauf der Geschichte deutlich. Der so auffällig platzierte Schmuckdolch Ammons geht auf einen eigenen Entwurf Aldegrevers zurück. [44] Auf einem weiteren Blatt wird die notwendige Bestrafung des Übeltäters vom Künstler publikumswirksam als blutrünstige Rache mit gezückten langen Messern in Szene gesetzt.
 
 
 
Die Geschichte von Ammon und Thamar, 1540
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Die Geschichte von "Susanna im Bade" und den beiden lüsternen Alten (Kat. Nr. 39-42) [45] fehlt ebenso wenig in seinem Werk wie die Badeszene mit Bathseba, wo diesmal König Salomon zuschaut (Kat. Nr. 43). [46] Die Geschichte Susannas erzählt Aldegrever in vier Blättern. Die nackte Susanna zeigt der Künstler in klassischer Schönheit, und ihre Einbindung in die architektonische Szenerie mit den beiden Alten ist gekonnt. Auch die weiteren Blätter weisen eine feine Charakterisierung der einzelnen Personen im Rahmen dramatisch bewegter Figurengruppen auf. Diese 1555 entstandene Stichfolge macht deutlich, welche Meisterschaft der Soester Kupferstecher in der Behandlung von Figuren und Raum inzwischen erreicht hat. Dagegen ist Bathseba auf dem sehr viel früher entstandenen Blatt ein wenig groß geraten. Aldegrever zeigt sich hier als manieristischer Künstler. [47] Bathseba blickt auf ihre stehende Magd, die wiederum den König auf dem Balkon anschaut, während dieser Bathseba beobachtet. Aldegrever hat so ihre Blickachsen sorgfältig zu einem Dreieck verbunden, das die Komposition bestimmt. Beide Blätter verherrlichen den nackten weiblichen Körper und sind als Huldigung an die Schönheit zu sehen, die aber sowohl die Alten als auch den König zur Sünde führt. Weibliche Schönheit, so die Quintessenz der Moral, ist eben auch Verführung, die ins Verderben zieht.
 
 
 
Die Geschichte der Susanna, 1555
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Etwas deftiger sind die beiden Szenen der antiken Lukretia-Geschichte [48] ausgefallen (Kat. Nr. 67 und 68). Im ersten Blatt [49] dringt der nackte Vergewaltiger aggressiv auf die erschreckt zurückweichende Römerin ein: Er hat ihren rechten Arm gepackt und hält das ebenfalls nackte Opfer fest im Griff, während sie in frontaler Ansicht dem Betrachter gegenüber ihre Reize ausbreitet. Das lange Messer, welches der Vergewaltiger hinter seinem Rücken hervorholt, wird als eine eindeutige sexuelle Anspielung zu verstehen sein. Das zweite Blatt ist weniger erregend gestaltet, aber auch hier lassen die Haltung der Frau und das Messer keinen Zweifel am weiteren Fortgang der Geschichte. Wieder geht es - wie bei Ammon und Thamar - um eine Vergewaltigung, welche nun das Opfer in den Selbstmord treibt. Durch ihren Freitod wird die unfreiwillige Verführerin von aller Schuld gereinigt. Dennoch, die in beiden Blättern zur Anschauung gebrachte Spannung zwischen Gewalt und Sexualität, Aggression und angstvoller Unterwerfung kann durch diesen "tugendhaften" Ausgang der Geschichte kaum im Zaum gehalten werden. Dramatisch ist auch eine Entführung dargestellt, wo ein gehörnter Reiter eine unbekleidete junge Frau gewaltsam in den Sattel hebt, die sich schreiend dagegen wehrt (Kat. Nr. 69). [50] Ein junger Mann ringt im hilflosen Schmerz die Hände, aber auf welche Geschichte die Szene hier anspielt, bleibt unklar. Für ein wohl sehr privates männliches Publikum scheint eine Allegorie auf die "Nacht" geschaffen worden zu sein, da die junge Frau ihre Geschlechtlichkeit deutlich genug zu erkennen gibt (Kat. Nr. 152). Aldegrever übernimmt hier ein Motiv von H. S. Beham. Gegenüber den anderen Blättern ist diese Darstellung nicht durch den Rückgriff auf den antiken Götterhimmel oder heroische Sagengestalten legitimiert. Selbst die moralisierende Inschrift "Nacht und Liebe und Wein raten nichts Gemäßigtes" vermag die spekulativ dargebotene Nacktheit der Frau kaum zu verhüllen. [51]

Da durch die sexuelle Begierde die Ehe am meisten gefährdet war, wurden die zeitgenössischen Moralisten und Kleriker nicht müde, diese zu idealisieren. Zahllose Darstellungen der Tugenden und Laster finden sich nicht nur in der Druckgraphik, z. B. den Kupferstichen Aldegrevers, sondern auch an Brunnen und Häusern, [52] wo sie die öffentlichen Moralvorstellungen in Erinnerung rufen.
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In einer Folge von insgesamt 14 Blättern hat Aldegrever die Tugenden und Laster allegorisch zusammengefasst [53]: In unserem Zusammenhang sind die Personifikationen der Wollust von besonderem Interesse. [54] Sie sind mit entblößtem Oberkörper dargestellt. Die "Luxuria" (Kat. Nr. 105) ist eine der sieben Todsünden. Sie wird von ihrem Attribut, einem Schwein, begleitet, dem Sinnbild der Sünde. Hier auf dem Stich von Aldegrever hält sie noch einen Weinpokal und eine Kanne. Aldegrever greift hier ein Thema zahlreicher Moralprediger auf, die unablässig vor der unheilvollen Verbindung von Trunkenheit und Sittenlosigkeit warnten. [55] Die Zwillingsschwester der Luxuria ist die Lascivia, die Unkeuschheit (Kat. Nr. 106), die hier mit einem Bären (Sinnbild der Wollust) auftritt und kokett mit einer Straußenfeder winkt. Sie fasst sich demonstrativ an die Brust, aus der sich ein Milchstahl ergießt. [56] Die Lust ist in Aldegrevers Werk noch ein zweites Mal vertreten (Kat. Nr. 123). [57] Sie sitzt auf einem Kamel, Symbol der Wollust. Ihr Wappentier ist die Kröte, ein Symbol des Teufels, während ein weiteres Symbol des Bösen, der Fuchs, ihre Fahne ziert. [58] Das Blatt ist Teil einer Serie, in der die sieben Todsünden und die sieben Tugenden als weibliche Personifikationen gegeneinander auftreten. [59]

Die zahlreichen Darstellungen der Tugenden und Laster in der bildenden Kunst der Zeit konnten nicht verhindern, dass sich gleichzeitig Kunst und Literatur über die Ehemoral lustig machten: in Motiven von männlicher Untreue, von zügellosen Frauen, die ihren Männern Hörner aufsetzten, sowie vom Krieg der Geschlechter. [60] Wenig beachtet wurde in diesem Zusammenhang bisher ein Entwurf Aldegrevers für eine Dolchscheide, wo ein nacktes Paar zu sehen ist (Kat. Nr. 154). [61] Sie trägt einen Keuschheitsgürtel und reicht ihrem jungen Geliebten den Schlüssel. Brantôme gibt in seinem Buch den passenden Kommentar zu dieser Szene, wenn er von einem eifersüchtigen Ehemann berichtet, der seiner Frau einen solchen "florentinischen Gürtel" aufzwang - und diese sich heimlich einen zweiten Schlüssel besorgte: "une fausse clef que la dame l'ouvroit et le fermoit à toute heure et quand elle vouloit." [62] Ein anderes Blatt Aldegrevers zeigt einen Landsknecht, der eine unbekleidete junge Frau wollüstig umarmt und an die Brust fasst. [63] Schließlich hat unser Kupferstecher auf einer weiteren Studie für eine Dolchscheide eine junge Frau in frontaler Nacktheit dargestellt, die durch das drachenartige Tier im Hintergrund und den hoch erhobenen Weinpokal als "babylonische Hure" zu identifizieren ist (Kat. Nr. 156). Zu der Dirne gehört ein wohl im gleichen Jahr entstandenes Entwurfsblatt mit einem Landsknecht, der eine Fahne trägt und ein blankes Schwert gezogen hat (Kat. Nr. 155). [64] Bei all diesen Blättern ist die sexuelle Symbolik der Dolchscheide unübersehbar. Etwas weniger direkt gilt dies auch für andere Entwürfe Aldegrevers, wo nackte Paare zusammenkommen. [65]

Ein Blatt mit dem Monogramm Aldegrevers, das allerdings von Virgilis Solis (1514-62) stammt, gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang: Die Badestube. Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters tummeln sich nackt in einer Badestube, zwei Paare liegen eng umschlungen auf dem Boden. Der Stich wurde häufig als "Wiedertäufer-Bad" bezeichnet, wofür sich allerdings kein Anhaltspunkt ergibt. Möglicherweise hat Virgilis Solis nach einer Zeichnung von Aldegrever gearbeitet, die sich nicht mehr erhalten hat. Vielleicht hat er aber auch nur Aldegrever als Gewährsmann für die Sitten der Täufer anführen wollen. Wie dem auch sei, Nacktbaden war jedenfalls im ausgehenden Mittelalter nicht ungewöhnlich. Allerdings standen die Badehäuser nicht immer im besten Ruf, wie auch dieser Stich suggeriert. So häuften sich auch im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Verbote, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen. [66]

Aldegrevers eher zurückhaltende Präsentation des Erotischen erklärt vielleicht, weshalb in seinem Werk zwei Bereiche antiker Sinnlichkeit ausgeklammert sind: Die Götterliebschaften sowie die sinnlichen Feste des Dionysos-Bacchus, des griechisch-römischen Weingottes, und seines Gefolges, deren erotischen Ausschweifungen Künstler immer wieder dargestellt haben. Dieses mythologische Wunschland des Verlangens und der freien Liebe bildete eine Gegenwelt der Befreiung von allen gesellschaftlichen Konventionen, eine erlaubte Phantasiewelt, wo man zumindest in Gedanken der anwachsenden öffentlichen Moralkontrolle und der eigenen Pflicht zum standesgemäßen Verhalten entfliehen konnte. [67]
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Aber nur wenige Nackte Aldegrevers stehen in einem eindeutig erotischen Kontext. Viele der dargestellten Geschichten aus der Antike geben Anlass für ausgiebige Körperstudien, wie sie auch von anderen Künstlern der Renaissance bekannt sind. Die dargestellten Erzählungen waren Allgemeingut des Humanismus und sind von vielen bearbeitet worden. Aldegrever profitierte, wie die anderen Künstler ebenfalls, von der durch die Antike legitimierten "Darstellungserlaubnis" des Nackten. Die Königstochter Rhea Silva - eine Geschichte aus der römische Frühzeit - präsentiert sich in vollendeter Körperschönheit (Kat. Nr. 70). [68] Aldegrever hat sich hier von der "Leda" des Leonardo da Vinci (1452-1519) inspirieren lassen. [69] Allerdings zeigt er die Königstochter in leichter Untersicht, wodurch die Körperformen ein wenig monumental wirken. Voller Schmerz wendet sie den Kopf zur anderen Seite und trauert über den Verlust ihrer beiden Kinder, die ein Mann im Hintergrund wenig mitfühlend unter seine Arme geklemmt hat und fortträgt. Der spartanische Königssohn Paris ist auf einem anderen Blatt aufgerufen, unter den drei anmutigen Göttinnen die Schönste auszuwählen (Kat. Nr. 71). [70] Er sitzt nackt auf einem Baumstamm, während vor ihm die Göttinnen ihre Schönheit ausbreiten. In der Mitte steht Venus, über ihr erscheint in den Wolken Amor, bereit, den Liebespfeil abzuschießen. Auf einem weiteren Stich umarmt Paris seine Geliebte, die Nymphe Oinone, die auf den Liebesgott Amor zeigt, der sich eng an sie geschmiegt hat (Kat. Nr. 72). [71] Aber sein Bogen ist nicht gespannt und er hat sich abgewendet. Denn später wird Paris seine Geliebte wegen Helena verlassen, während die Inschrift noch seinen Liebesschwur betont. Die Körperformen des Paares sind idealisiert und lassen die sonst bei Aldegrever anzutreffende "westfälische Eckigkeit und Steifheit" [72] hinter sich. Paris' Wahl der Schönsten ist nicht die Entscheidung für eine bestimmte Göttin, sondern der Sieg von Schönheit und Liebe schlechthin. Die mittelalterliche Bloßstellung der Venus als Sinnbild der Wollust ist hier überwunden. Auch die antiken Planetengottheiten haben Anteil an dem allgemeinen Schönheitsideal der Renaissance (Kat. Nr. 92-98). [73] Der reizvolle jugendliche Körper wurde gerade wegen seiner Verletzlichkeit gefeiert. Das Alter, so der italienische Dichter Petrarca (1304-74), sei das körperliche Gegenstück zum Schiffbruch und keiner großen Aufmerksamkeit wert. [74]
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Die sieben Planeten, 1533
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Aldegrevers Fries mit dem Kampf Hectors vor Troja (Kat. Nr. 100) [75] zeigt eine Reihe von unbekleideten Kämpfern, die um einen geschickt in die Mitte gesetzten Reiter gruppiert sind. Vor dem dunklen, schraffierten Hintergrund erscheint eine vielgestaltige Komposition von unterschiedlichen Körperhaltungen, Bewegungen und Gruppierungen. Der Künstler hat hier Gelegenheit, seine Kenntnisse in der Darstellung des nackten Menschen unter Beweis zu stellen. Souverän hat er auch die verschiedensten Körperansichten auf dem Blatt "Hannibal bekämpft Scipio" [76] gemeistert. Eng gedrängt kämpfen hier mit Schwert und Keule heroische Aktgestalten. Die Gruppierung der Figuren in drei Teile ist ein geschickter Zug, um die Komposition harmonisch zu gliedern. Die gelungene Darstellung der einzelnen muskulösen Gestalten in unterschiedlichen Bewegungsabläufen zeigt einmal mehr, wie sehr sich Aldegrever mit Anatomie und Aktdarstellungen auseinandergesetzt hat.
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Anmerkungen

[38] Der Verfasser teilt nicht die Ansicht von Ursula Mielke, dass Aldegrever eher ein puritanischer Künstler gewesen sei, der seine Figuren lieber verhüllt gezeigt hätte. Dazu gibt es viel zu viel Nackte, auch frontal dargestellte Nackte, in seinem Werk. Es ist allerdings richtig, dass in Aldegrevers Werk provokante sexuelle Szenen fehlen. Seine Nackten sind zwar oft voyeuristisch präsentiert, bedienen aber gleichzeitig auch das neue, durch die antike Kunst geweckte Interesse an der schönen menschlichen Gestalt. (U. Mielke: "A puritanical approach emerges in his efforts to disguise subjects ... by clothing the figures in thick contemporary garments. It seems that Aldegrever had to force himself to portray nudity which was appropriate to the subject and readily depicted by other artists." - New Hollstein 1978, S. 12).
[39] Zitat des Daniel von Soest bei Grimme 1911, S. 13.
[40] 1530, B 13. Auf der Flucht aus dem untergegangenen Sodom hatten Lots Töchter Angst, kinderlos zu bleiben, weshalb sie ihren Vater betrunken machten und sich von ihm schwängern ließen (Genesis 19, 30-38).
[41] B 14-17.
[42] Steinberg 1970, S. 231-238.
[43] 1540, B 22-28. Ammon, einer der Söhne Davids, verliebte sich in seine Halbschwester Thamar, die er vergewaltigte. Ihr Bruder Absalom ließ daraufhin Ammon töten (2 Samuel, 13 und 14).
[44] 1539, B 270.
[45] 1555, B 30-33. Die beiden Alten beobachteten Susanna beim Baden und wollten sie zwingen, sich ihnen hinzugeben. Als sie sich weigerte, verleumdeten die beiden lüsternen Greise Susanna. Mit Hilfe des Propheten Daniel konnte sie sich aber schließlich vor Gericht reinwaschen. Die Verleumder wurden daraufhin gesteinigt (Daniel 13).
[46] 1532, B 37. König David schwängerte Bathseba und schickte ihren Ehemann in den Tod (2 Samuel, 11 und 12).
[47] Zschelletzschky sieht Aldegrever "als den ersten deutschen bewussten Manieristen". (Zschelletzschky 1933, S. 55).
[48] 1539 und 1553, B 63-64. Die verheiratete Lucretia aus vornehmer römischer Familie wurde vom Sohn des Königs zum Beischlaf gepresst. Daraufhin beging sie Selbstmord. Die Rache, die ihr Mann und weitere Verwandte nahmen, führte zur Vertreibung des Königs und seiner Familie und zur Begründung der römischen Republik (Livius, Römische Geschichte, 1, 57-59). Die Drastik der beiden Blätter von Aldegrever fällt auf im Vergleich mit der Darstellung von Georg Pencz (B 78), auf dessen Motive Aldegrever häufig zurückgriff (Abb. Hollstein XXXI, S. 230).
[49] B 63 besitzt über dem Monogramm von Aldegrever das Zeichen von Georg Pencz. Aldegrever hat hier offensichtlich eine Zeichnung des Nürnberger Meisters als Vorlage benutzt (Zschelletzschky 1933, S. 78).
[50] 1530, B 67.
[51] 1553, B 180. Die "Nacht" ist eine Kopie nach H. S. Beham (P 152, B 151, Abb. Hollstein III, S. 93). Bartsch umschrieb dezent die Liegehaltung der jungen Frau mit "une attitude libre" (Bartsch 1920, S. 100), während Zschelletzschky die Vermutung anstellte, Aldegrever habe aus wirtschaftlichen Gründen eine solche spekulative Darbietung weiblicher Körperformen für ein bestimmtes Publikum gewählt. Die lateinische Inschrift des Kupferstichs sei das "moralische Mäntelchen" für diese Szene (Zschelletzschky 1933, S. 133).
[52] Hansen / Krefft, 1980, S. 126 ff, 138, 141, 313.
[53] Verschiedene allegorische Figuren von 1549/50 (B 103-116). Besprechung der Folge im Abschnitt: "Bilderstreit" dieses Kataloges.
[54] 1549/50, B 109 und 110.
[55] Im "Triumph der Voluptas" nach Johannes Sambucus, Emblemata, 1564, tritt diese auf einem Triumphwagen auf. Das dazugehörende Gedicht nennt ihre Begleiter: "Wein und Liebe - oft ist auch Schmerz dabei, der das Getane bereut - treiben die linke Schar mit einem Stachel voran." (Emblemata 1967, S. 1578). Siehe auch weiter unten im Aufsatz den Abschnitt über die Festgewohnheiten.
[56] B 110. Das Motiv geht auf die Sprüche Salomons (7, 18) und auf die milchspendende Göttin Venus zurück, hier ist es als Zeichen des Verderbens zu verstehen (Stichel 1993, S. 567)
[57] 1552, B 127.
[58] Kröte und Fuchs: LCI. Weitere Symbole: Stichel 1993, S. 574.
[59] S. den Abschnitt "Bilderstreit" dieses Kataloges.
[60] Hale, a. a. O. S. 508. Beispiele: Georg Pencz: Abraham und Hagar (symbolische Darstellung des Ehebruchs, B 6, Abb. Hollstein XXXI, S. 126); Georg Pencz: Aristoteles und Phyllis (B 97, Abb.: Hollstein XXXI, S. 216); gleiches Motiv von Lucas van Leyden (Abb.: Hollstein X, S. 230). S. a.: Fuchs, S. 39 und 200. Ähnliche Motive finden sich ebenfalls an Fachwerkbauten (s. Hansen / Kreft 1980, S. 305).
[61] 1532, B 248.
[62] Brantôme 1910, S. 83.
[63] 1532, B 249.
[64] 1528, B 225/226.
[65] B 213, 214, 259. Nicht alle Blätter sind datiert: B 259 von 1536.
[66] Beispiele bei Bologne 2001, S. 33.
[67] Allenfalls in der Ornamentvorlage von 1529, "Triton entführt zwei Nereiden" klingt diese Thema an (B 201).
[68] 1532, B 66. Sie, die Tochter des alten Königs von Alba Longa, wurde vom neuen gezwungen, jungfräuliche Priesterin der Vestalinnen zu werden, um so keine Erben (und damit mögliche Thronfolger) gebären zu können. Mars verhinderte dies, indem er sie schwängerte. Sie gebar die Zwillinge Romulus und Remus, die späteren Gründer Roms (Livius, Römische Geschichte, 1,3,10 - 1,6,2).
[69] Zschelletzschky 1933, S. 57f.
[70] 1538, B 98. In dem berühmten Urteil aus Homers Ilias (24, 25ff.) wählte der trojanische Königssohn Paris unter den drei Göttinnen Juno, Minerva und Venus die letztere als Schönste.
[71] 1551, B99. Die Frauengestalt wurde früher mit Venus identifiziert, ist aber nach der Inschrift Paris' Geliebte, die Nymphe Oinone (Fink 1971, S. 69).
[72] Zschelletzschky 1933, S. 120.
[73] 1533, B 74, 75, 78, 79. Weitere Blätter in diesem Zusammenhang (Auswahl): Marcus Curtius (1532, B 68), Mucius Scaevola (1530, B 69), Pyramus und Thisbe (1553, B 102), sowie der Zyklus um den Helden Herakles, (1529, 1550, B 83-96).
[74] Francesco Petrarca: Brief an Guido Scetten, 1367. Seniles X, 2 (Petrarca 1968, S. 399ff.)
[75] 1532, B 70.