Soest > Aldegrever: Eros, Sexus und die öffentliche Moral im 16. Jahrhundert


 
Klaus Kösters

Eros, Sexus und die öffentliche Moral im
16. Jahrhundert

 
 
 

4. Das verbotene Nackte

 
 
 
Jean-Claude Bologne kommt in seiner Untersuchung von "Nacktheit und Prüderie" zu dem Fazit, dass die Renaissance von Grund auf "phallokratisch" ist. [77] Die männliche Überlegenheit spiegelt sich nicht nur in der Mode wieder, sondern auch in den vielen Handlungen und Darstellungen sexueller Gewalt. Aber die Freizügigkeit des Hofes, von der Brantôme berichtet, und die neue Freiheit in der Kunst treffen auf breite Volksschichten, die dieser Zurschaustellung der Begierde und unverhüllten Lust ablehnend gegenüberstehen. Aus der Konfrontation mit dem Nackten und dem zur-Schau-getragenen Luxus entsteht eine Gegenreaktion der Schamhaftigkeit und Mäßigung, die vor allem in kirchlichen und protestantisch-bürgerlichen Kreisen ihren Nährboden findet.

Nach 1540 setzte eine heftige Gegenreaktion in allen Bereichen eine strenge Sittsamkeit durch. [78] Als Michelangelo 1541 das "Jüngste Gericht" in der Sixtinischen Kapelle vollendete hatte, erhob sich in Rom ein Sturm der Entrüstung. Zum Fürsprecher derer, die sich über die "Unschicklichkeit" der nackten Körper aufregten, machte sich ausgerechnet jener Pietro Aretino, der zuvor mit seinen Büchern half, die erotische Kunst zu begründen. Nach 1559 ließen die Päpste die "anstößigsten" Nackten Michelangelos mit Stoffen verhüllen. Gleichzeitig verbot das Konzil von Trient (1644-63), in der religiösen Kunst "unsittliche" und "aufreizende" Nacktheit zu zeigen. Die Darstellung des unbekleideten Körpers war im Rahmen der Märtyrergeschichten oder der Passion zwar nicht verboten, aber alle "anstößigen" Körperteile mussten verhüllt werden. Erlaubt war lediglich die Darstellung des leidenden Körpers. Später sollte sich in der barocken Kunst zeigen, dass verhüllte Körper höchst erotisch sein können, wie z. B. Berninis Figur der "Ekstase der Heiligen Teresa" deutlich vor Augen führt. [79] Auch Bücher wurden der kirchlichen Kontrolle unterworfen (Index seit 1559), während die Beichthandbücher immer mehr potentielle Sünden aufführten und die Befragungen durch den Priester immer länger wurden. [80] Über allen stand die Inquisition und überwachte minutiös die Einhaltung der kirchlichen Glaubens- und Moralvorschriften.

Die gleiche Entwicklung zu einer immer stärkeren öffentlichen Moralkontrolle nahm auch der Protestantismus. Doch hier waren die Ausgangsbedingungen anders. Die Erlaubnis der Priesterehe veränderte die Einstellung zur Sexualität. Heiligkeit und sexuelle Enthaltsamkeit waren nicht länger untrennbar miteinander verbunden. [81] Es entstand eine neue Ehemoral, die dem protestantischen Pfarrhaus eine Vorbildfunktion gab. Aber auch im Protestantismus verbanden sich Zensur und öffentliche Überwachung mit der Durchsetzung der neuen Glaubensinhalte. Dabei spielte die Kunst als Propagandainstrument keine geringe Rolle. [82]

Die zunehmende öffentliche Überwachung der Moral legitimierte sich aus der Vorstellung von einem gottesfürchtigen Leben, wie sie z. B. in den evangelischen Kirchenordnungen zum Ausdruck kam. [83] Künstler wie die Brüder Beham und Erhard Schön wurden vom städtischen Magistrat in Nürnberg in den Dienst der moralischen Überwachung eingespannt, wenn sie in Holzschnitten ungleiche Heiraten, Unzucht und alkoholische Exzesse verurteilten und die christliche (lutherische) Ehe propagierten. [84] Um so auffälliger ist es, dass im Werk von Aldegrever solche Blätter fast vollständig fehlen, obwohl exakt die gleichen moralischen Forderungen in der Soester Kirchenordnung zu finden sind. [85] Allenfalls in den Allegorien der menschlichen Laster und Todsünden hat er dieses Thema angesprochen (Kat. Nr. 105, 106, 123, 124). [86] Aber gegenüber den drastischen Szenen der Nürnberger Meister erscheinen die Allegorien Aldegrevers mit ihrer komplizierten Symbolik äußerst zurückhaltend.
 
 



Anmerkungen

[76] 1538, B 71.
[77] Bologne 2001, S. 383.
[78] ebda. S. 385.
[79] Bernini, Gianlorenzo: Ekstase der Heiligen Teresa, 1647-52. Marmor, Höhe 3,5 m, Santa Maria della Vittoria, Rom.
[80] Bologne 2001, S. 325.
[81] Roper 1995, S. 78f.
[82] Fiona Kells kommt in ihrer Untersuchung von Einblattholzschnitten aus Nürnberg zu dem Schluss, das diese - als vom patrizischen Stadtregiment eingesetzte Propagandainstrumente - die neue protestantische Eheauffassung verbreiten und gegen öffentliche Trunkenheit und Unmoral zu Felde ziehen sollten (Kells 2000).
[83] "Wir lehren es, den Herren und Fürsten, Bürgermeistern und dem Rat samt jeder ordentlichen, befehlshabenden Gewalt gehorsam zu sein, und Zoll, Schatz, Ehre, Zucht, Furcht, Zins und Tribut zu geben, wem solches gehört, wie Sankt Paulus (an die Römer am 13. cap.) geschrieben, und Christus (Mt 22; Mk 12, Lk 20) befiehlt und ermahnt, sagend: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.'" (Soester Kirchenordnung 1984, 2583, S. 197). Nach diesem allgemeinen Aufruf zur Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit führt die Soester Kirchenordnung detaillierte Verhaltensvorschriften auf, die den Alltag regeln: z. B. über das Lernen in den neu einzurichtenden Schulen, den Gehorsam der Frauen gegenüber den Männern, über Ehe und Ehebruch, Mäßigung und Trunksucht, Unzucht und Kuppelei, Fasten und Verhalten an Festtagen sowie über die Barmherzigkeit gegenüber den Armen.
[84] Beide Künstler fertigten Holzschnitte mit Themen wie "Ehestreit" (H. S. Beham, Abb. Hollstein III, S. 260), "Das böse Weib" (Schön, Abb. Hollstein XLVII, S 40) oder ungleiche Paare (Alter Mann und junge Frau, alter Frau und junger Mann, Beispiele: H. S. Beham, Abb. Hollstein III, S. 246) sowie weitere mit exzessiven Dorffesten an (Beispiele: Kells 2000, auch B. Beham: Betrunkener Bauer, Bauernfeste, Abb. Hollstein II, S. 204, III, S. 94, 97, 99, 255, 256). Die Themen selbst sind in dieser Zeit nicht ungewöhnlich, wie weitere Arbeiten z. B. von Hans Baldung Grien ("Alter Mann, der ein junges Mädchen umarmt", Abb. bei Hollstein II, S. 72) zeigen.
[85] "Der Ehebruch ist leider, Gott sei's auf seinem höchsten Thron geklagt, heute so weit verbreitet, dass er als geringe, ja, fast überall überhaupt nicht als Sünde angesehen wird..." (Soester Kirchenordnung 1984, 2913). Allenfalls der Kupferstich B 173 von 1529 (Kat. Nr. 150) von Aldegrever kommt hier in Betracht. Er zeigt ein ungleiches Paar: Einen älteren Mann in Landsknechtstracht, der einen Becher Wein in der Hand hält, und auf einer Bank neben einer jungen Frau sitzt. Diese hält ihm einen Apfel entgegen, womit die Verführungsszene auf die sündigen Töchter Evas anspielt.
[86] B 108-110 (Müßiggang, Unmäßigkeit, Unkeuschheit) und B 127-128 (Unkeuschheit und Unmäßigkeit).