Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert > Landwirtschaft


 

2. Landwirtschaft


 
 
 
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte Westfalen etwa 3 v. H. der landwirtschaftlich genutzten Fläche, 3-4 v. H. der landwirtschaftlich Beschäftigten und 6 v. H. der Landwirtschaftsbetriebe des Deutschen Reiches. Die landwirtschaftliche Produktion wies ein breites Spektrum der Getreide-, Hackfrucht- und Futterwirtschaft mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Roggen- und Weizenanbau auf; die Viehzucht, vor allem die Rindvieh- und Schweinehaltung, war durchschnittlich stärker ausgeprägt als im Reichsdurchschnitt. Die Forstwirtschaft konzentrierte sich vor allem im Sauer- und Siegerland.

Die Absatzmöglichkeiten der westfälischen Landwirtschaft waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts strukturell günstig. Denn mit dem Ruhrgebiet lag ein riesiger, lange Zeit noch wachsender Markt für Nahrungsmittel mitten in der Provinz. Sein Bedarf an Getreide-, Gemüse-, Milch- und Fleischprodukten konnte von den westfälischen Bauern allein nicht gedeckt werden, so daß Nahrungsmittellieferungen aus dem weiteren Umland, vor allem aus dem Herzogtum Oldenburg, den Provinzen Hannover und Rheinland, Belgien und den Niederlanden erforderlich wurden. Eine Abhängigkeit vom Export gab es also für die westfälische Landwirtschaft nicht; sie war in hohem Maße binnenmarktorientiert.

Trotz dieser strukturell günstigen Situation konnte sich die westfälische Landwirtschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts der wachsenden Weltmarktkonkurrenz nicht entziehen. Sie reagierte darauf mit vielfältigen Maßnahmen zur Ertragssteigerung. Dazu gehörten seit den 1920er Jahren - neben den traditionellen Pflanzen- und Tierzüchtungen - die Ausgabe von chemischen Wachstumshilfen zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, seit den 1950er Jahren auch von chemischen Pflanzenschutzmitteln. Hinzu kamen Mechanisierungen der landwirtschaftlichen Arbeit durch die Einführung von Dreschmaschinen, Schleppern, Sä- und Mähmaschinen (Selbstbindern), dann Mähdreschern, so daß die Zahl des Gesindes abnahm und sich die Landbewirtschaftung zunehmend auf die Mitglieder der bäuerlichen Familie reduzierte. Dahinter stand nicht nur der wissenschaftlich-technische Fortschritt, sondern auch die Notwendigkeit, die knapper und teurer werdenden Arbeitskräfte zu ersetzen. Anfang der 1970er Jahre war die Maschinisierung weitgehend abgeschlossen. All diese Maßnahmen steigerten die Produktivität der landwirtschaftlichen Betriebe beträchtlich, verlangten aber auch einen wachsenden Kapitaleinsatz: ein Erfordernis, das gerade die kleinen, kapitalschwachen Betriebe aus dem Markt drängte.
Karl Ditt

Westfalens Wirtschaft im
20. Jahrhundert -
Vom Vorreiter zum Nachzügler


 
 
Weitere Maßnahmen, die zu Ertragssteigerungen führten, bestanden in der Verbesserung der beruflichen Bildung und der Verwissenschaftlichung der Betriebsführung. Hierbei entwickelten sich die im Jahre 1899 gegründete Landwirtschaftskammer Westfalen und die im Jahre 1922 gegründete Landwirtschaftskammer Lippe mit ihren Versuchsanstalten, -gütern und -feldern, Tierschauen, Veröffentlichungen, Musterlehrplänen, Unterrichtskursen und Landwirtschaftsschulen, Begutachtungen, Prämiierungen und Beratungen zu wichtigen Transmittern zwischen den Fortschritten der Wissenschaft und Praxis einerseits sowie den landwirtschaftlichen Vereinen und einzelnen Betriebsinhabern andererseits. Ferner erfolgten Spezialisierungsprozesse, vor allem eine Konzentration auf die Viehzucht als die aufwendigste, aber auch ertragreichste Produktionsausrichtung. Regionale Schwerpunkte waren das Schweinemastgebiet Minden-Ravensberg, wo zwischen Gütersloh und Halle auch eine starke Fleisch- und Wurtstwarenindustrie entstand, und das Rinderzuchtgebiet Münsterland, insbesondere der Kreis Borken. Zu Beginn der 1950er Jahren bezog die westfälische Landwirtschaft bereits mehr als 70 v. H. ihrer Einnahmen aus dem Verkauf von Tieren und Tierprodukten - ein Anteil, der in der Folgezeit noch stieg.

Die zunehmende Konzentrierung auf die Viehwirtschaft beeinflußte auch den Ackerbau. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war in Westfalen der Hackfruchtbau (Rüben, Kartoffeln), der in hohem Maße der Viehversorgung diente, zu Lasten des Getreideanbaus gestiegen. Dieser Prozeß setzte sich in den 1920/30er Jahren fort und wurde noch durch die Zunahme des Viehfutterbaus (Klee, Luzerne, Ackergras) zu Lasten der Getreidewirtschaft verstärkt. In den 1950er, vor allem aber seit den 1960er Jahren gingen die Weidewirtschaft sowie der Futter- und Hackfruchtbau jedoch wieder zurück, während der Getreide-, d. h. der Hafer-, Gerste-, Roggen- und Weizen-, seit den 1960er Jahren schließlich auch in rasantem Maße der Maisanbau zunahmen. Dahinter stand weniger die Notwendigkeit, den menschlichen Bedarf zu decken, als der Wunsch nach einer Qualitätsverbesserung ("Veredelung") des Viehfutters. Für die 1970er Jahre wurde der Anteil des in Westfalen angebauten Getreides, das als Viehfutter diente, bereits auf 80-90 v. H. geschätzt. Außerdem war der Getreideanbau leichter zu rationalisieren: Hier waren dank der Einsatzmöglichkeiten von Mähdreschern die Arbeitsproduktivität, der Ertrag und der Nährwert größer als in dem schwerer zu mechanisierenden Hackfruchtanbau. Nur das Kernmünsterland und die Hellwegbörden mit ihren fruchtbaren Böden und der Nähe zum Massenmarkt des Ruhrgebiets blieben von den Anbauveränderungen relativ unbeeinflußt und lieferten über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg ihr Getreide auch für den menschlichen Bedarf.

Schließlich profitierte die Landwirtschaft noch wesentlich von der nationalen Zoll- und Autarkiepolitik, die seit dem Jahre 1957 von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in eine differenzierte Subventionspolitik umgewandelt wurde. Zudem erhielt in der gleichen Zeit die Landwirtschaft Nordrhein-Westfalens von allen deutschen Bundesländern die höchsten Agrarsubventionen: Den hohen Bundessubventionen entsprachen die hohen Landessubventionen.

Dank all dieser Maßnahmen verdoppelte sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den 1970er Jahren die Produktivität des Anbaus von Nutzpflanzen; bis zum Ende des 20. Jahrhunderts verdoppelte sich der Ertrag z. T. erneut. Dabei lagen die Erträge des Getreide- und großer Teile des Hackfruchtanbaus in Westfalen zumeist etwas über dem Reichs- bzw. Bundesdurchschnitt. Auch gemessen an der Milchleistung pro Kuh gehörte Westfalen zumindest in der zweiten Jahrhunderthälfte in die Spitzengruppe der deutschen Agrarregionen. Die steigende Produktivität der Landwirtschaft ist umso bemerkenswerter, als sie von einer abnehmenden Zahl der Beschäftigten und Betriebe erzielt wurde. Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Westfalen etwa 300.000 Erwerbstätige in der Landwirtschaft beschäftigt - der Höhepunkt der Beschäftigung wurde im Jahre 1933 mit etwa 460.000 Erwerbstätigen erreicht - , so schrumpfte die Beschäftigtenzahl seitdem bis zum Jahre 1970 auf 147.000, dann bis zum Jahre 2000 auf etwa 70.000 deutlich. In größerem Tempo noch als die Zahl der Beschäftigten reduzierte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe: Von 1895 bis 1971 fiel sie von 343.000 auf 107.000, dann bis zum Jahre 2000 auf 38.000. Zu Beginn der 1970er Jahre betrug der Anteil Westfalens an der Gesamtzahl der landwirtschaftlich Beschäftigten in der Bundesrepublik 7 v. H., der Anteil an den Betrieben und der landwirtschaftlichen Nutzfläche 8-9 v. H.

Der Preis für den landwirtschaftlichen Fortschritt bestand darin, daß die Wirtschaftsweise der Landwirtschaft zu einem Problem wurde. Unter dem Einfluß der Umweltschutzbewegung wurde ein wachsender Teil der Bevölkerung aus gesundheitlichen Gründen kritischer gegenüber der steigenden Verwendung von chemisch-pharmazeutischen Wachstumshilfen in Ackerbau und Viehzucht. Zudem führten die steigende Düngung der Felder und die Ausgabe von Pflanzenschutzmitteln zu einer Belastung der Umwelt, d.h. der Luft durch Ammoniakgase, der Böden und Gewässer durch Phosphate, Nitrate und Pestizide; ferner wurde die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten reduziert. Schließlich verstärkte auch die Landwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Bemühungen, die abwechslungsreichen Parklandschaften auszuräumen, indem sie Produktionshindernisse wie Hecken, Bäume, Tümpel etc. beseitigte. Unter dem finanz- und umweltpolitischen Druck bildeten sich deshalb seit den 1970er Jahren neue Zielsetzungen in der Landwirtschaft heraus: Qualitätssteigerung, Extensivierung und ökologische Umorientierung der Produktion, Deagrarisierung und Anbau nachwachsender Rohstoffe, Kulturlandschaftserhaltung und Naturschutz sowie Umnutzung des ländlichen Raumes bis hin zu seiner verstärkten Erschließung für touristische Nutzungen.