Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert > Dienstleistungsgewerbe


 

4. Dienstleistungsgewerbe


 
 
 
Das Dienstleistungsgewerbe setzt sich im wesentlichen aus den Bereichen Handel, Verkehr und Kommunikation, Banken und Versicherungen, Gesundheit und soziale Hilfsdienste, Wissenschaft, Bildung und Kultur sowie den öffentlichen und privaten Verwaltungen zusammen. Es dient teils der Unterstützung der produzierenden Sektoren Landwirtschaft und Industrie, teils der Verwaltung und dem breiten Versorgungsspektrum der Bedürfnisse der Bevölkerung. Die Zunahme der Aufgaben bei der Vorbereitung und dem Absatz der Produktion, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und des Staates sowie das Wohlstandswachstum der Bevölkerung ließen die entsprechenden Bereiche im 20. Jahrhundert rasch expandieren. In Westfalen war im 20. Jahrhundert der Anteil des Dienstleistungssektors jedoch immer um drei bis fünf Prozentpunkte niedriger als im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik: eine Differenz, die teils auf die besondere Stärke der Industrie, teils aber auch auf die Schwäche einzelner Dienstleistungsbereiche zurückging. Einige dieser Bereiche werden im folgenden näher betrachtet.
Karl Ditt

Westfalens Wirtschaft im
20. Jahrhundert -
Vom Vorreiter zum Nachzügler


 
Handel, Transport und
Verkehr
Während der Großhandel zwischen den produzierenden Sektoren und dem Einzelhandel vermittelt, beliefert der Einzelhandel die Endverbraucher. In beiden Handelsbereichen erfolgte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur eine deutliche Zunahme der Beschäftigtenzahlen, sondern auch ihres Anteils an den Dienstleistungsbeschäftigten insgesamt. Seit der Mitte der 1950er Jahre setzten dann durch das Wachstum der Betriebsgrößen, den Zusammenschluß in Ladenketten und Genossenschaften und die Einführung der Selbstbedienung Rationalisierungsprozesse ein, die die Personalzunahme infolge der anhaltenden Ausdifferenzierung des Handels faktisch kompensierten. In diesen Prozessen unterschied sich Westfalen nicht von der nationalen Entwicklung.

Die Infrastruktur des Verkehrs, der mit Straßen, Schienen, Kanälen und Flugplätzen ebenfalls teils der Produktion, teils der Versorgung und der Mobilität der Bevölkerung diente, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits weitgehend vorgegeben. Während das Schienen- und Straßennetz nur noch ausgebaut zu werden brauchte, wurde ein Kanalnetz seit den 1890er Jahren neu geschaffen und der Luftverkehr seit den 1920er Jahren aufgebaut.

Dominantes Transport- und Verkehrsmittel für den Personen- und Güterfernverkehr war - gemessen in Beförderungs- bzw. Transportkilometern - zunächst die Eisenbahn. Ausschlaggebend dafür waren zum einen ihre vergleichsweise geringen Kosten für den Massenverkehr und ihre vergleichsweise hohe Geschwindigkeit. Da unter den westfälischen Regionen das Ruhrgebiet den größten Transportbedarf an Massengütern (Landwirtschaftliche Produkte, Kohle, Eisenerze, Baumaterialien etc.) hatte, entwickelte sich hier ein besonders dichtes Eisenbahnnetz. Hatte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits große Ost-West- (Köln-Berlin) und Nord-Süd-Fernverbindungen (Hamburg-Frankfurt) gegeben, die Westfalen und vor allem das Ruhrgebiet mit anderen deutschen Provinzen und Ländern verbanden, so wurden diese seit den 1950er Jahren durch weitere innerdeutsche Fernverbindungen ergänzt. Mit der Einrichtung der Verbindungen Ruhrgebiet - Münster - Emden; Ruhrgebiet - Kassel und Amsterdam - Rheine - Hannover - Berlin wurde der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Westfalen abgeschlossen.

Die dominierende Stellung der Eisenbahn im Personen- und Güterverkehr wurde jedoch bereits seit der Jahrhundertwende in Frage gestellt. Beim Transport von Massengütern über größere Strecken entwickelte sich zunächst die Schiffahrt zu einer bedeutenden Konkurrenz. Sie konnte zwar nicht schneller, aber kostengünstiger als die Eisenbahn transportieren. Die in der Schiffahrt erreichte Zahl der Tonnenkilometer stieg deshalb nach der Jahrhundertwende schneller als die der Eisenbahn. Da in Westfalen die von Süden nach Norden fließende Ems bzw. die von Osten nach Westen fließenden Flüsse Ruhr und Lippe nicht ausreichten, um den Transportbedarf zu decken, wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Kanalnetz geplant. Zuerst wurde im Jahre 1899 der Dortmund-Ems Kanal für Lastschiffe bis 800 Tonnen Tragkraft eröffnet. Danach wurde der Kanalverkehr zum Rhein (1914: Rhein-Herne Kanal, 1914-1930: Lippe-Seiten-Kanal), zur Weser und zur Nordsee bei Emden, schließlich auch zur Elbe (Mittellandkanal 1914-1938) ausgebaut. Der Dortmund-Ems Kanal entwickelte sich zur wichtigsten Wasserstraße Westfalens; er eröffnete den expandierenden Zechen der Emscherzone den Zugang zur Nord- und Ostsee, ermöglichte die Erzzufuhr aus Schweden und diente dem Transport von landwirtschaftlichen Rohstoffen und Baumaterialien. Die Vorteile und die Bedeutung, die der Rhein für das westliche Ruhrgebiet hatte (Einsatz größerer Schiffe, keine Schleusen), erreichte er jedoch für das östliche Ruhrgebiet nicht. Wie geplant zog der Kanalbau den Massengüterverkehr an, d. h. er machte der Eisenbahn starke Konkurrenz. Während um die Jahrhundertwende 80-90 v. H. der im Ruhrgebiet geförderten Kohle mit der Eisenbahn abtransportiert wurden, waren es im Jahre 1913 noch ca. 70, 1932 knapp 60 und Mitte der 1960er Jahre nur noch gut 30 v. H.; der überwiegende Rest wurde durch die Schiffahrt transportiert.

Mit dem Aufkommen der Motorisierung seit den 1920er Jahren, insbesondere dem Einsatz von Omnibussen und Lastkraftwagen, erwuchs der Eisenbahn auch eine Konkurrenz durch den Straßenverkehr. Der Fernstraßenverkehr, d. h. der Autobahnbau, wurde in den 1920er Jahren angedacht, im Dritten Reich konzipiert und forciert und seit den 1950er Jahren realisiert. In Westfalen wurde zuerst die West-Ost-Verbindung von Köln über das Ruhrgebiet nach Hannover und Berlin (A 2) gebaut; ihre Streckenführung entsprach im großen und ganzen der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten Köln-Mindener Eisenbahnlinie. Zwischen 1959 und 1962 wurde dann eine Nord-Süd-Verbindung realisiert: Die sog. Hansa Linie (A 1) erstreckte sich von Hamburg über Bremen, Münster und Kamen und wurde durch die sog. Sauerlandlinie von Dortmund über Hagen, Siegen, Gießen, Frankfurt bis nach Basel (A 45) ergänzt, um die Rheinschiene Köln-Frankfurt (A 3) zu entlasten. Als zweite West-Ost-Verbindung wurde die Autobahn zwischen Dortmund und Kassel (A 44) geplant. Relativ lange vernachlässigt durch den Autobahnbau blieben das Sauer- und Siegerland, das Westmünsterland und das südliche Ostwestfalen.

Der Autobahnbau trug wesentlich dazu bei, dass sich der Personen- und Güterverkehr auf die Straße verlagerte. Seit den 1950er Jahren überflügelte im Güterverkehr - gemessen am Transportgewicht - der Straßen- den Zugverkehr und wies seitdem höhere Zuwachsraten auf. Die Probleme der Straßenüberlastung und die anhaltenden Defizite des Eisenbahnverkehrs führten zwar zu Plänen, den Massengüterverkehr wieder stärker auf die Schiene zu lenken; letztlich profitierte aber nur der Personenverkehr der Deutschen Bundesbahn von den entsprechenden Maßnahmen durch die Einführung von Intercity-Verbindungen.

Der Luftverkehr wurde seit den 1920er Jahren aufgenommen; er hatte vor allem Bedeutung für den Personenverkehr. Die ersten (Sport-)Flugplätze in Westfalen wurden in Dortmund und Münster gebaut. In den 1970er Jahren entstanden dann Flughäfen in Dortmund, Paderborn und Greven (Münster/Osnabrück); sie waren zunächst reine Zuliefererflughäfen. Zum Hauptflugplatz für Westfalen entwickelte sich Düsseldorf.

Insgesamt waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Bereichen Handel, Transport und Verkehr zwischen 50 und 60 v. H. der Beschäftigten des Dienstleistungsgewerbes im Deutschen Reich bzw. in Westfalen tätig. Die Anteile Westfalens lagen dabei immer um ein bis zwei Prozentpunkte unter dem nationalen Durchschnitt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reduzierte sich der Anteil der Beschäftigten in Handel, Transport und Verkehr auf etwa ein Drittel, da andere Dienstleistungsbereiche deutlich schneller wuchsen. Zugleich nivellierten sich die entsprechenden Differenzen zwischen der Bundesrepublik und Westfalen, d. h. Westfalen holte in diesen Dienstleistungsbereichen seinen "Rückstand" gegenüber der nationalen Entwicklung auf.
 
 
Banken und
Versicherungen
Banken und Versicherungen waren aufgrund ihrer wechselseitigen Kapitalanlagen sowie weitgehend übereinstimmenden Kundenstruktur und -ansprache eng miteinander verflochten. Ihr Anteil am Dienstleistungsgewerbe war - gemessen an der Beschäftigung - deutlich geringer als die Anteile des Handels oder des Transports und Verkehrs, stieg jedoch vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte schneller.

Im Bankwesen existierte um die Wende zum 20. Jahrhundert ein differenziertes Spektrum von öffentlichen, genossenschaftlichen und privaten Geldinstituten, die sich an die Bevölkerung und insbesondere den gewerblichen Mittelstand richteten. Die im frühen 19. Jahrhundert einsetzende Gründung von Sparkassen kam in Westfalen zu Beginn der 1920er Jahre zum Abschluß; statistisch verfügte jetzt jeder zweite Einwohner über ein Sparbuch. Als im Jahre 1958 die Bedürfnisprüfung für die Sparkassen aufgehoben wurde, so daß Filialgründungen nicht mehr genehmigungspflichtig waren, gingen diese Unternehmen auf Expansionskurs: Sie wandten sich jetzt aktiv der Kundengewinnung zu und erweiterten sich zu Universalkreditinstituten; vor allem machten sie den Großbanken bei der mittelständischen Industriefinanzierung Konkurrenz. Parallel dazu erfolgte ein Prozeß der Konzentration: Von mehr als 200 Sparkassen zu Beginn der 1920er Jahre sank ihre Zahl durch Fusionen bis zum Jahre 1970 auf 149 und nahm in der Folgezeit weiter ab.

Als Rückversicherungsinstitut und für den Giroverkehr stand den Sparkassen die Landesbank der Provinz Westfalen in Münster, eine Einrichtung des gleichnamigen Provinzialverbandes, zur Verfügung. Ursprünglich im Jahre 1832 als Provinzial-Hülfskasse zur Förderung der Wirtschaft und gemeinnütziger Zwecke gegründet, wurde sie von den Sparkassen als Anlage- und Kreditinstitut genutzt; darüber hinaus vergab sie Kredite vor allem an weitere öffentliche Institutionen und Gebietskörperschaften, zum Teil auch an Genossenschaften, Unternehmer und Großgrundbesitzer. In den Jahren 1921 und 1929 differenzierte sich die Landesbank durch die Aufnahme eines Westfälischen Pfandbriefamtes zur Deckung der Kreditwünsche der Haus- und Grundbesitzer sowie durch die Gründung einer neuen Abteilung, der Westfälischen Landes-Bausparkasse, weiter aus. Im Jahre 1943 wurde der einige Jahre zuvor gegründete Westfälische Sparkassen- und Giroverband neben dem Provinzialverband zweiter Träger der Landesbank; im Jahre 1955 trat dann das Land Nordrhein-Westfalen als dritter Träger hinzu. Am 01.01.1969 fusionierten schließlich die Rheinische Girozentrale und Provinzialbank in Düsseldorf sowie die Landesbank für Westfalen zur Westdeutschen Landesbank Girozentrale (WestLB); Sitz war Düsseldorf und Münster. Sie war mit 25 Milliarden DM Bilanzsumme kurzfristig - nach der Deutschen Bank - die größte bundesdeutsche Bank und blieb im 20. Jahrhundert die größte öffentlich-rechtliche Bank der Bundesrepublik. Eigentümer waren das Land Nordrhein-Westfalen mit 33 1/3 v. H., der Landschaftsverband Rheinland und der Rheinische Sparkassen- und Giroverband mit je 20 v. H. sowie der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Westfälisch-Lippische Sparkassen- und Giroverband mit je 13 1/3 v. H. Zugleich wurden auch die Bausparabteilungen der rheinischen und westfälischen Landesbanken zusamengeführt; die neue Landesbausparkasse wurde damit die größte öffentlich-rechtliche Bausparkasse der Bundesrepublik. Die WestLB beschritt den Weg zu einer Universalbank und betrieb eine Politik der Industriebeteiligungen und der Internationalisierung ihrer Handlungsfelder.

Ähnliche Konzentrations- und Fusionsprozesse wie die Sparkassen zeigten auch die landwirtschaftlichen (Raiffeisen)und gewerblichen (Schulze-Delitzsch) Genossenschaftsbanken in Rheinland und Westfalen, die seit den 1860er Jahren vor allem dem Kreditbedarf des landwirtschaftlichen und gewerblichen Mittelstandes dienten. Nach der Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten Gründung von Zentralen auf Provinzebene fusionierten im Jahre 1950 zuerst die gewerblichen Banken zur Zentralkasse westdeutscher Volksbanken eGmbH Münster-Köln mit Sitz in Münster, dann im Jahre 1970 auch die Zentralen der ländlichen und gewerblichen Mittelstandsbanken. Daraus entstand die Westdeutsche Genossenschafts-Zentralbank eGmbH (WGZ) in Düsseldorf, die sich zur größten regionalen Genossenschaftsbank in der Bundesrepublik entwickelte. Auch sie beschritt den Weg zur Universalbank.

Während also die Kreditversorgung der Bevölkerung sowie der Landwirtschaft und des Handwerks primär aus der Region selbst erfolgte, wurde der Kapitalbedarf der Industrie, insbesondere der Schwerindustrie des Ruhrgebiets, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst von Kölner, dann von den großen Berliner, schließlich von den Frankfurter Banken bedient. Erstere saugten die größeren Privatbanken Westfalens (Westfälische Bank in Bielefeld, Bochumer Bank, Westfälischer Bankverein Münster, Dortmunder Bankverein) im Verlauf des Kaiserreichs auf. Große privatwirtschaftliche Industrie- oder Universalbanken gab es in Westfalen nicht - sicherlich auch eine Folge des Fehlens großer Metropolen. Statt dessen entwickelte sich Düsseldorf, begünstigt durch seine seit 1947 datierende Funktion als Hauptstadt des Landes Nordrhein-Westfalen, zum zentralen Bankenzentrum für Westfalen.
 
 
 
Die Versicherungswirtschaft läßt sich im großen und Ganzen nach den Versicherungsrisiken in die Schadens- und Haftpflicht-, Sozial- (Kranken-, Unfall-, Alters- und Sterbefälle) und Lebens- sowie in die Rückversicherung gliedern. In Westfalen entwickelte sich vor allem aus den Interessen der Landwirtschaft eine differenzierte Schadensversicherung, die zunächst gegen die Schäden durch Hagel, Feuer, Viehseuchen oder Ausfall des Gesindes schützen sollte. Zu diesen Unternehmen gehörten vor allem die im Jahre 1836 gegründete Provinzial-Feuer-Sozietät der Provinz Westfalen. Ursprünglich ein Zusammenschluß von acht Societäten, ging sie im Jahre 1880 auf den Provinzialverband Westfalen über und expandierte, als sie im frühen 20. Jahrhundert ihr Versicherungsangebot deutlich erweiterte, zeitweise zum größten deutschen Sachversicherer.
Über die Entstehung der Brandversicherung im Fürstbistum Münster bzw. die Westfälische-Provinzial-Feuer-Sozietät informiert ein Feature von Marcus Weidner:  15. April 1768 - Die Entstehung einer Brandversicherung im Fürstbistum Münster
 
 
Die Lebensversicherung wurde vor allem seit dem frühen 19. Jahrhundert von der Privatwirtschaft und - nachdem Lebensstandard, Vermögen und Sicherheitsbedürfnis im Kaiserreich deutlich gewachsen waren - kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch von der sozialistischen Arbeiterbewegung angeboten. Z. T. in Reaktion auf deren rapides Wachstum gründete der Generaldirektor der Ostpreußischen Landschaft, Wolfgang Kapp, im Jahre 1910 eine öffentlich-rechtliche Lebensversicherungsanstalt für Ostpreußen, die sich vor allem an die Sicherheitsbedürfnisse der ländlichen Bevölkerung wandte. Er übertrug diese Idee auch auf andere preußische Provinzen und gründete dazu ein Jahr später den Verband öffentlicher Lebensversicherungsanstalten. Dieser rief wiederum im Jahre 1913 die Provinzial-Lebensversicherungs-Anstalt von Westfalen ins Leben. Sie wurde zunächst in Personalunion von dem Direktor der Westfälischen Landesbank in deren Räumlichkeiten geführt und bereits im Jahre 1914 vom Provinzialverband Westfalen übernommen. Im Jahre 1927 ergänzte sie ihr Angebot durch die Aufnahme der Unfall-, Haftpflicht- und KFZ-, dann auch durch die Kasko-Versicherung. Im Jahre 1946 erhielten beide Provinzialversicherungen, die dem Provinzialverband Westfalen gehörten, denselben Vorstands- und Verwaltungsratsvorsitzenden; im Jahre 1970 wurden sie dann in einer Verwaltungs- und Organgemeinschaft zusammengeführt und die Sachversicherungen bei der Westfälischen Provinzial-Feuersozietät konzentriert. Als neue Gewährträger wurden der Westfälisch-Lippische Sparkassen- und Giroverband sowie die Westdeutsche Landesbank aufgenommen. Durch die enge Kooperation, die Vertrieb und Anlage erleichterten, wurden die Westfälischen Provinzial-Versicherungen zur "Versicherung der Sparkassen“ und erhielten günstige Voraussetzungen für ein überproportionales Wachstum im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Zu den Sachversicherern gehörte der im Jahre 1896 gegründete Versicherungsverein gegen Haftpflicht für Landwirte der Provinz Westfalen, aus dem der Landwirtschaftliche Versicherungsverein (LVM) hervorging. Er expandierte zu einem der größten deutschen Versicherungsunternehmen, als er in den 1930er Jahren die Autohaftpflichtversicherung aufnahm, dann erneut, als er in den 1960er Jahren seinen sozialen Einzugsbereich auf alle Bevölkerungsgruppen und seinen räumlichen Einzugsbereich auf die gesamte Bundesrepublik ausdehnte.

Im Bereich der Sozialversicherung wurde infolge des im Jahre 1889 erlassenen Gesetzes zur Einführung einer Invaliditäts- und Altersversicherung - genauso wie in den anderen preußischen Provinzen - auch in Westfalen im Jahre 1890 eine Invaliditäts- und Alters- Versicherungs-Anstalt, seit dem Jahre 1900 Landes-Versicherungsanstalt Westfalen (LVA) genannt, gegründet. Diese in Münster angesiedelte genossenschaftliche Selbstverwaltungsorganisation und Anstalt öffentlichen Rechtes stand unter paritätischer Kontrolle durch Vertreter der Unternehmer und Arbeiter und wurde durch Beamte des Provinzialverbandes Westfalen geleitet und verwaltet. Sie expandierte in der Folgezeit mit der allmählich gesetzlich vorgeschriebenen Erweiterung des Versichertenkreises sowie der Erhöhung der Beiträge und Renten. Über den unmittelbaren Versicherungsbetrieb hinaus gründete sie mehrere Heilanstalten im westfälischen Raum und in Westdeutschland insgesamt und förderte den sozialen Wohnungsbau. Im Jahre 1952 erließ die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ein Gesetz, wonach der Provinzialverband Westfalen das Recht, die Geschäftsführung der LVA zu bestzen, verlor; statt dessen konnte jetzt die Vertreterversammlung der Versicherten diese selbst wählen; die Landesregierung mußte die Wahl bestätigen. Schließlich gehörten noch die Signal-Versicherungen zu den großen (Sozial-)Versicherungsunternehmen Westfalens; sie waren im Jahre 1907 als Krankenkasse auf Initiative der Handwerkskammer Dortmund entstanden. Letztlich lagen also wesentliche Ursprünge der großen Banken und Versicherungen in Westfalen in Kreisen der Landwirtschaft und im Provinzialverband Westfalen. Diese Ursprünge und Ausrichtung beherrschten sie bis in die 1950/60er Jahre hinein und gaben ihnen aufgrund der hohen Erfassungsdichte des westfälischen Raumes eine sichere Basis. Als dann der Kurs auf Marktanpassung und Expansion gestellt und die Zentralen z. T. in die Landeshauptstadt Düsseldorf verlagert wurden, wuchsen die Unternehmen zwar; die größten Versicherungsgruppen der Bundesrepublik hatten jedoch ihre Zentren außerhalb Westfalens.

Insgesamt gesehen gehörten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Banken und Versicherungen, die Wirtschaftsberatung, die Kommunikationswirtschaft, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Verwaltungen der öffentlichen Hand zu den am stärksten wachsenden Bereichen des Dienstleistungsgewerbes. Es scheint, daß von dieser Expansion innerhalb Nordrhein-Westfalens vor allem das Rheinland profitierte. Innerhalb Westfalens holte zwar das industriell geprägte Ruhrgebiet - gerade durch die Ansiedlung von Bildungs- und Forschungsinstitutionen - auf. Eine Dienstleistungsregion entstand weder hier noch in einer anderen westfälischen Region. Die traditionele Provinzialhaupstadt Münster blieb - gerade bei den öffentlichen Dienstleistungen - eine überproportional ausgestattete Solitärstadt.