Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert > Zusammenfassung


 

5. Zusammenfassung


 
 
 
Betrachtet man die Wirtschaftsentwicklung Westfalens während des 20. Jahrhunderts im Vergleich zur Wirtschaft des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik im Überblick, so wird eine anhaltend produktionsstarke Landwirtschaft - vor allem im Münsterland, im Hellweggebiet und in Ostwestfalen - mit einem breiten Kranz von Bildungs-, Genossenschafts- und Versicherungsinstitutionen, vor allem aber eine vergleichsweise frühe und anhaltende Prägung durch die Industrie, insbesondere durch den Bergbau, die Metall- und die Textilindustrie, deutlich. Die Industriebranchen, die in der ersten Jahrhunderthälfte das Wirtschaftswachstum Westfalens beflügelt hatten, erreichten jedoch in den 1950/1960er Jahren ihren Zenit, wurden seitdem einer preisgünstigeren ausländischen Konkurrenz ausgesetzt und schrumpften in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich. Die Autarkiepolitik des Dritten Reiches und die ausgeprägte Subventionspolitik der Bundesrepublik verlängerten vor allem die Krise der Montan- und Leinenindustrie und verzögerten den wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß der Wirtschaft Westfalens.

Die Wachstumsträger der Zweiten Industriellen Revolution waren dagegen in Westfalen kaum vertreten: Die Elektroindustrie entwickelte sich trotz günstiger Voraussetzungen - etwa durch die Metallverarbeitung und den Maschinenbau im kölnischen und märkischen Sauerland sowie im Bielefelder Raum - kaum zu einem gesamtwestfälischen Wachstumsträger. Die chemische und die pharmazeutische Industrie blieben im wesentlichen auf Einzelbetriebe im Bielefelder Raum und auf den Spezialzweig der Kohlechemie im nördlichen Ruhrgebiet (Hüls) beschränkt. Der Fahrzeugbau beschränkte sich im wesentlichen auf die Herausbildung von Zuliefererbetriebe im märkischen Sauerland und in Ravensberg sowie auf das im Jahre 1960 in Bochum gegründete Opel-Werk. Die Luft- und Raumfahrzeugindustrie faßte in Westfalen keinen Fuß. M. a. W. die sich bereits seit den 1880er Jahren vollziehende Umstrukturierung von alten zu neuen industriellen Wachstumsträgern gelang in Westfalen nur unvollkommen. Sie war angesichts der boomenden altindustriellen Branchen auch bis in die 1920er Jahre hinein kaum nötig, wurde dann aber auch in den 1960er Jahren gerade im Ruhrgebiet von der Montanindustrie behindert bzw. von Städten und Staat nur zögerlich eingeleitet. Die dritte Industrielle Revolution, die seit den 1970er Jahren anlaufende Einführung der Mikroelektronik und der Biotechnologie, führte - trotz der Innovationsleistungen von Heinz Nixdorf in Paderborn und der seit Ende der 1970er Jahre einsetzenden Gründung zahlreicher Technologiezentren - bislang noch nicht nicht zur Entstehung gesamtwirtschaftlich relevanter Branchen. Auch erzielte sie aufgrund der Mobilisierung vergleichsweise weniger, hochqualifizierter Arbeitskräfte keine nennenswerte arbeitsmarktpolitische Bedeutung.
Karl Ditt

Westfalens Wirtschaft im
20. Jahrhundert -
Vom Vorreiter zum Nachzügler


 
 
Schließlich blieb auch in Westfalen die Umstrukturierung vom Industrie- zum Dienstleistungssektor, der sich vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts zum dominanten wirtschaftlichen Wachstumsträger entwickelte, gegenüber der Entwicklung auf nationaler Ebene zurück. Dieser Sektor war bereits in der ersten Jahrhunderthälfte in Westfalen - und insbesondere im Ruhrgebiet - schwach ausgeprägt. In den großen Bereichen Handel, Verkehr, Banken und Versicherungen, öffentliche Verwaltungen wies Westfalen - abgesehen von dem überproportional ausgestatteten Verwaltungsstandort Münster - keinen besonderen Akzent auf; die Zentralen der entsprechenden Großunternehmen und Verwaltungen Nordrhein-Westfalens lagen häufig im Rheinland, in Essen und Düsseldorf.

Die relative Unterausstattung mit Dienstleistungsgewerbe und die Überausstattung mit niedergehenden Industriebranchen führten in Westfalen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu beträchtlichen Strukturproblemen, so daß dieser Raum, aber auch Nordrhein-Westfalen insgesamt, innerhalb der Bundesrepublik wirtschaftlich gegenüber anderen Ländern der alten Bundesrepublik zurückfiel: ein Prozeß, der auch für andere norddeutsche Länder galt. Da zugleich die Wachstumsraten der süddeutschen Länder aufgrund ihrer z. T. nachholenden Industrialisierung, der Ansiedlung der Wachstumsträger der zweiten und dritten Industriellen Revolution und der Expansion des Dienstleistungsgewerbes deutlich höher lagen, trugen die Strukturprobleme der westfälischen Wirtschaft, insbesondere des Ruhrgebiets, wesentlich zur Entstehung eines ökonomischen Süd-Nord Gefälles in der Bundesrepublik bei.