Staat / Politik > Seminarsitzung 3


 

Seminarsitzung 3


 
 
Thema
Das "Volksgemeinschaftsmitglied" als materieller Nutznießer -
Wirtschaftliche Verwertung des jüdischen Vermögens durch die Finanzverwaltung
 
 
Leitfrage
Wie organisierte die Finanzverwaltung die Übertragung des Vermögens der Deportierten an die Angehörigen der "Volksgemeinschaft"?
 
 
Lernziel
Durch die Analyse des von der Finanzverwaltung koordinierten Verwertungsprozesses jüdischen Vermögens mit dem Ankauf desselben durch unterschiedliche Organisationen und Privatpersonen aus allen Bevölkerungsschichten soll die Studentin/der Student die wirtschaftliche Ausplünderung als "soziales System" begreifen.
Sabine Mecking

Verfolgung und Verwaltung
Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden


 
Einführung
Mit der als "Aktion 3" getarnten Deportation wurde die Rassenpolitik mit dem Endziel der Vernichtung der Juden entscheidend forciert. An ihrer Vorbereitung und Durchführung war auch die Finanzverwaltung beteiligt. Der Reichsfinanzminister unterrichtete am 04.11.1941 die Oberpräsidenten über den geplanten Ablauf der Deportation. In seinem Erlass hieß es: "Das Vermögen der abzuschiebenden Juden wird zugunsten des Deutschen Reichs eingezogen. Es verbleiben den Juden 100 RM und 50 kg Gepäck je Person." [40] Die Verwaltung und Verwertung dieses Vermögens wurde den Oberfinanzpräsidenten übertragen.

Bis 1941 waren die Emigranten nach ihrer Ausreise zunächst noch Eigentümer ihrer im Deutschen Reich zurückgelassenen Möbel, Immobilien, Grundstücke und sonstigen Vermögens- und Wertgegenstände, wenngleich sie de facto nicht mehr darüber verfügen konnten. Damit der NS-Staat sich dieser Vermögensgegenstände formal legal bemächtigen konnte, musste für jeden Einzelfall ein Verfahren eingeleitet werden, an dessen Ende mit der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit die Einziehung des zurückgelassenen jüdischen Vermögens stand. [41] Der für die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit und zur Vermögenseinziehung erforderliche Verstoß des jüdischen Emigranten gegen die Pflicht zur Treue zu Reich und Volk wurde regelmäßig in dessen Ausreise gesehen. [42]

Mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 [43] änderte sich die Rechtslage. Nach § 2 dieser Norm verlor ein Jude bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland [44] die deutsche Staatsangehörigkeit und nach § 3 verfiel dann das jüdische Vermögen automatisch an das Deutsche Reich. Konkret bedeutete dies für die aus dem Reichsgebiet in die Ghettos und Vernichtungslager Osteuropas Deportierten, dass sie mit dem "Überrollen" der Grenzen des Altreiches die deutsche Staatsangehörigkeit verloren und ihr Vermögen sofort ohne Einzelfallprüfung von der Finanzverwaltung vereinnahmt werden konnte. [45]
 
 
Auf der als äußerst geheim eingestuften Planungssitzung am 19.11.1941 in Münster wurde die Deportation der westfälischen Juden nach Riga im Dezember 1941 vorbereitet. An dieser Sitzung nahmen neben Vertretern der Gauleitung, der Geheimen Staatspolizei und der Stadtverwaltung auch der Leiter der beim Oberfinanzpräsidenten 1941 neugeschaffenen Dienststelle für die Einziehung von Vermögenswerten, Oberregierungsrat Heinrich Heising, teil. Sofort nach dem Abtransport der Juden aus ihren Wohnungen durch die Polizei sollte die Finanzverwaltung das zurückgelassene Vermögen sichten und sichern. [46]

Der Oberfinanzpräsident Westfalen informierte die ihm nachgeordneten Finanzämter am 8. Dezember 1941 über die bevorstehende Deportation. [47] Die Finanzämter hatten das zurückzulassende Hausinventar sicherzustellen. Zwei Finanzbeamte suchten unmittelbar nach dem Abtransport der Juden am 13.12.1941 die leerstehenden Wohnungen auf und glichen die von den Eigentümern aufgestellten Vermögensverzeichnisse mit den dort tatsächlich vorhandenen Gegenständen ab. Anschließend wurden die Wohnungen versiegelt. [48] Ein Teil der vorgefundenen Möbel, Kunst-, Wert- und Gebrauchsgegenstände wurde dabei sozusagen als "Bearbeitungsgebühr" direkt für die eigene Behörde abgeschöpft. Von der Schreibmaschine für die Amtsstube bis hin zu Schlafzimmergarnituren, Musikinstrumenten und Tischtüchern für die Behördenerholungsheime gingen Gegenstände als Eigenbedarf in den Besitz der Finanzverwaltung über. [49] Der größte Teil des Vermögens wurde jedoch auf öffentlichen Versteigerungen verkauft.

Die soziale Ausgrenzung und die wirtschaftlich diskriminierenden Maßnahmen bis hin zur Deportation stützten sich letztlich auf eine hohe direkte oder zumindest indirekte Akzeptanz innerhalb weiter Kreise der Bevölkerung. Das Interesse an jüdischem Besitz war während des Krieges und der damit verbundenen Mangelwirtschaft in der sogenannten Volksgemeinschaft groß. Aus allen Bevölkerungsschichten erwarben Personen Grundbesitz, Immobilien, Wohnungsinventar und Hausrat der deportierten Juden. Auf den von den Finanzämtern bzw. den in ihrem Auftrag durchgeführten, in der Tagespresse bekannt gegebenen Auktionen versorgten sich sowohl Privatpersonen als auch Behörden, Firmen, Parteigliederungen, soziale sowie kulturelle Institutionen und Einrichtungen mit Mobiliar, Hausrat oder sonstigen Gebrauchs- und Wertgegenständen ihrer ehemaligen jüdischen Nachbarn.

Für das Versteigerungs- und Speditionsgewerbe entwickelte sich diese Form der "Arisierung" als lukratives Geschäft. [50] Es gab nichts, was sich nicht verwerten ließ. Die Nachfrage nach freiem Wohnraum und beschlagnahmten Möbeln war so groß, dass sich selbst Synagogen als Wohn- oder Lagerraum nutzen ließen. Jüdische Friedhöfe waren u.a. als Weideland begehrt. [51] Der zunächst freie Verkauf der in Reichseigentum übergegangenen Vermögenswerte wurde später eingeschränkt, um besonders Kriegsversehrte, Vertriebene, Frontkämpfer oder verdiente Nationalsozialisten zu versorgen. [52] Die zahlreichen Kaufinteressenten legten jeweils detailliert bei den Finanzbehörden ihre besondere Situation und ihre Ansprüche dar, wie das Beispiel der Synagoge in Höxter zeigt. Jeder wusste seine Sonderstellung bzw. seine besondere Hilfsbedürftigkeit herauszustellen, indem beispielsweise auf eine Bombenschädigung, auf die Unterbringung einer kinderreichen Familie oder auf die Aufrechterhaltung eines kriegswichtigen Betriebes hingewiesen wurde, um zum begünstigten Personenkreis zu gehören. Die Verkaufserlöse gingen an die Finanzkasse. Gelder, die sich noch auf den Konten der abtransportierten Juden befanden, wurden von den Sparkassen und Privatbanken an die Oberfinanzkasse überwiesen. [53]

In gleicher Weise wie bei den Juden wurde ab 1943 bei der Deportation und Enteignung der Sinti und Roma verfahren. Zur Vereinfachung des Verfahrens wurden die erzielten Verkaufserlöse auf "Zigeuner-Sammelkonten" verbucht. Die Gesamteinnahmen aus dem Vermögensverfall nach der 11. Verordnung betrugen für das Deutsche Reich 777.726.342 RM. [54]
 
 
Fragen und Arbeitsaufträge
  • Welche Verfügungen und Erlasse und welche politisch-soziale Situation schufen die Grundlage für die Einziehung und Verwertung des jüdischen Vermögens?
  • Welche Denkweisen und Mentalitäten in der Beamtenschaft ermöglichten das reibungslose Funktionieren?
  • Wie verhielten sich die Angehörigen der "Volksgemeinschaft"? Wer beteiligte sich an den öffentlichen Auktionen?
  • Wann und unter welchen wirtschaftlichen Bedingungen fanden die Versteigerungen von jüdischem Vermögen statt?
  • Spielen Sie den Dialog eines Ehepaares nach, dass durch Bomben einen Teil seines Hausrats und seine Wohnung verloren hat und nun überlegt, zu einer Versteigerung jüdischen Besitzes zu gehen, wobei ein Ehepartner Skrupel hat!
 
 
Anmerkungen
[40] Erlass des FM vom 04.11.1941, abgedruckt in: Walk: Sonderrecht, S. 354; sowie Léon Poliakov/Joseph Wulf: Das Dritte Reich und seine Diener, Wiesbaden 1989, S. 211ff.
[41] Vgl. das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14.07.1933 (RGBl. 1933 I, S. 480) in Verbindung mit dem Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14.07.1933 (RGBl. 1933 I, S. 479-480); auch abgedruckt in: Walk: Sonderrecht, S. 36, 38.
[42] Vgl. auch Blumberg: Etappen, S. 33f.
[43] RGBl. 1941 I, S. 722-724.
[44] Die besetzten Gebiete galten als Ausland.
[45] Siehe hierzu auch Quelle 12a, Quelle 12b.
[46] Protokoll der Besprechung vom 19.11.1941, Münster 20.11.1941, in: Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36, 18 d, S. 122ff. sowie abgedruckt in: Arno Herzig/Karl Teppe/Andreas Determann (Hg.): Verdrängung und Vernichtung der Juden in Westfalen, Münster 1994, S. 136ff.
[47] Siehe Quelle 11.
[48] Ausführungsverfügung des OFP Westfalen vom 08.12.1941, abgedruckt in: Birkwald: Steuerverwaltung, S. 271ff.
[49] Jörg Friedrich: "Die Hausschlüssel sind beim Hausmeister abzugeben”. Die Beraubung der Juden, in: Ulrich Wank (Hg.): Lust an der Geschichte. Ein Lesebuch, München 1992, S. 277-292, besonders S. 279.
[50] Vgl. Bajohr: Hamburg, S. 265ff., 332.
[51] Siehe Quelle 13.
[52] Blumberg: Etappen, S. 37.
[53] Ebd.: S. 38.
[54] Mehl: Reichsfinanzministerium, S. 97.