Kirche und Kirchhof im Dorf > Die neue Kirche


Die Lippe mit Blick zur Wallfahrtskirche St. Ida, Herzfeld, um 1930 (Ausschnitt) / Münster, Westfälisches Landesmedienzentrum, 01_2121






Jörg Laumeier

"Nicht erhaltenswert"?

Wie ein mittelalterlicher Kirchbau einem prestigeträchtigen "Dorfdom" weichen musste

Die beiden wichtigsten Ereignisse, die zum Abriss der katholischen Kirche im südöstlich von Beckum gelegenen Herzfeld führten, ereigneten sich rund 60 Kilometer voneinander entfernt und lagen knapp ein Jahr auseinander.

Das erste Ereignis fand im Sommer 1899 statt. Der Kirchenvorstand der Pfarrgemeinde St. Ida in Herzfeld gab nach einer der zahlreichen Sitzungen dieser Tage bekannt, dass die eigene Pfarr- und Wallfahrtskirche als "nicht erhaltenswert" einzustufen sei. Die Kirche biete außerdem seit geraumer Zeit zu wenig Platz für die immer größer werdende Gemeinde. Der Kirchenvorstand sprach sich mit dieser Entscheidung klar gegen Restaurierung und Ausbau der im Architekturstil der westfälischen Spätromanik des 13. Jahrhunderts erbauten Kirche aus und befürwortete die Schaffung eines Neubaus.

Das zweite Ereignis fand im Mai 1900 in Münster statt. Das Bischöfliche Generalvikariat der Diözese erteilte die "Abrissgenehmigung der Kirche zu Herzfeld". Das Schicksal des hochmittelalterlichen Sakralbaus war besiegelt.

Zwischen beiden Ereignissen setzte sich ein Mann für die Erhaltung und mögliche Erweiterung der romanischen Kirche und gegen den Bau einer neuen Kirche ein.

Sein Name war Albert Ludorff, seit 1892 Konservator der preußischen Provinz Westfalen, seit 1893 für die "Denkmalwache und Denkmalpflege" der Kirchen der Provinz zuständig. Ludorff stellte sich die Frage, wie man die alte romanische Kirche in Herzfeld erhalten und so ergänzen könne, dass die Forderungen einer größer gewordenen Kirchengemeinde berücksichtigt werden, ohne die Aspekte der Denkmalpflege und der Erhaltung außer acht zu lassen. Seine Idee: Den ursprünglich einschiffigen romanischen Bau in nördliche oder südliche Richtung so zu erweitern, dass sich ein dreischiffiger Kirchraum ergeben und somit Platz für mindestens 1000 Menschen geboten hätte. Die Umsetzung dieses Erweiterungsplanes wäre finanziell wesentlich leichter zu bewerkstelligen gewesen, als die Errichtung eines Neubaus.

Ludorff hatte jedoch einen Gegenspieler mit gewichtigem Einfluss. Lambert von Fisenne, ein aus Gelsenkirchen stammender Architekt, beschäftigte sich im Auftrag des Kirchenvorstandes seit mehreren Jahren mit der Frage, ob die alte Kirche für die Pfarrgemeinde St. Ida noch geeignet erscheine. Nach der Erstellung mehrerer Gutachten kam er zu dem Schluss, dass der mittelalterliche Bau "in seiner jetzigen Gestalt nur Bauperioden" zeige und daher nicht als abgeschlossenes Kunstobjekt der Romanik betrachtet werden könne. Fisenne bezog sich in seinen Gutachten vornehmlich auf die Umbauarbeiten des 16. Jahrhunderts, die das äußere Erscheinungsbild der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kirche nachhaltig verändert hatten.

Er versuchte ab dem Frühjahr 1899 den Abriss der mehr als 600 Jahre alten Kirche zu erreichen, um an gleicher Stelle seine eigenen Pläne für einen Neubau umsetzen zu können. Unterstützt wurde Fisenne in seiner Haltung nicht nur vom bischöflichen Generalvikariat in Münster, sondern auch von den Mitgliedern der Pfarrgemeinde in Herzfeld. In dem gesamten, uns heute zur Verfügung stehenden Quellenbestand der Jahre zwischen 1896 und 1900 ist kein Widerstand vonseiten der Pfarrgemeinde gegen den Abbruch ihrer Kirche auszumachen. Diese mutmaßliche Einwilligung der Herzfelder in den Abbruch ist sicherlich nicht nur auf den ständigen Platzmangel bei den Messfeiern zurückzuführen. Die Pfarrgemeinde hatte im Laufe der vorausgehenden 40 Jahre ein beträchtliches Kapital in einem Baufond angespart, das die Gesamtkosten eines Kirchenneubaus zu zwei Drittel abdeckt hätte. Man wollte diese große Geldmenge eingesetzt wissen; und das möglichst schnell.

Eine Umsetzung der Erweiterungspläne Ludorffs hätte dem finanziellen Rahmen des Baufonds ungefähr entsprochen, sodass weitere Kredite nicht nötig gewesen wären. Die Möglichkeit der Umsetzung eines bescheideneren Projektes wurde aber in Herzfeld nicht einmal diskutiert. Die Pfarrgemeinde trat diesem Vorschlag sehr schnell nach Bekanntwerden geschlossen entgegen.

Diese Form der Demonstration von Geschlossenheit ist typisch für die Katholiken Westfalens im ausgehenden 19. Jahrhundert. In den Jahrzehnten des Kulturkampfes offenbarte sich die katholische Kirche als organische Ganzheit mit gesteigertem Selbstbewusstsein. In der Vorstellung, aus dem Kulturkampf als Sieger hervorgegangen zu sein, suchten die Katholiken in Westfalen nun eine neue Ausdrucksform, die ihrem ausgeprägten Stolz gerecht werden sollte. Das gesteigerte Selbstbewusstsein und das Auftreten als homogene Gruppe lässt sich bis auf die niedrigsten Ebenen verfolgen, sodass diese Attribute auch in der Herzfelder Pfarrgemeinde wiederzufinden sind.

Wodurch konnten die Herzfelder also stärker ihr Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringen als durch die Schaffung eines neuen, prestigeträchtigen und alles überragenden Gotteshauses?

So wurde innerhalb von drei Jahren in Herzfeld an der Stelle der romanischen Kirche eine neugotische Basilika mit einer Turmhöhe von 78 Metern geschaffen. Diese neue Kirche ist beispielhaft für eine Vielzahl im ländlichen Raum geschaffener Pfarrkirchen, die vorwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbauten wurden. Sie werden in der historischen Forschung als "westfälische Dorfdome" bezeichnet, da sie durch ihre monumentale Größe das Dorfbild verhältnismäßig kleiner Ortschaften fast ausschließlich prägen.

Hatte Ludorff mit seinen bescheideneren, den Aspekt der Erhaltung berücksichtigenden Ideen unter diesen Gegebenheiten überhaupt eine Chance, sich durchsetzen zu können?

Wohl eher nicht! Die Pfarrgemeinde wollte um jeden Preis ein Prestigeobjekt schaffen und das bischöfliche Generalvikariat stand diesem Wunsch gerne zur Seite. Zusätzlich fehlte es an einer gesetzlichen Regelung zur Denkmalpflege, welche den staatlichen Behörden die Möglichkeit gegeben hätte, den Abriss der romanischen Kirche mit härteren Auflagen zu versehen.

Ludorff stand von Beginn an auf verlorenem Posten...













Die Kirche und der Kirchhof im Dorf -
Berichte aus Westfalen im
konfessionellen Zeitalter








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Seitenansicht der alten Pfarrkiche
Herzfeld


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Innenansicht der alten Pfarrkirche
Herzfeld


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Provinzialkonservator Albert Ludorff


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Seitenaufriss der St.-Ida-Kirche in Herzfeld


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Die Lippe mit Blick zur
neuen St. Ida-Kirche,
Herzfeld, um 1930