"Westfalen im Bild" - Texte

Bolle, Rainer
"Als das Licht kam..."
Die Elektrifizierung in Westfalen 1890-1955
Münster, 1997



Einleitung

"Endlich ist dem langersehnten Wunsche, unsere Ortsstraßen beleuchtet zu sehen, abgeholfen. Ein allgemeiner Jubel brach gestern abend aus, als unerwartet das ganze Dorf im electrischen Glanze erstrahlte. Jung und Alt lustwandelten auf den Straßen und bewunderten die hübsche Einrichtung. Dorstfeld kann auf diese Einrichtung stolz sein, weil es das erste Dorf im Deutschen Reiche ist, welches elektrische Beleuchtung hat. ... Es hatten sich viele Fremde eingefunden, um die Einrichtung unserer Straßenbeleuchtung zu besichtigen. ... Ein imposanter Zug, der Gemeinderat an der Spitze, bewegte sich nach der Zeche 'Dorstfeld', um durch diese Ovation der Verwaltung, die die Bereitwilligkeit der Herren Gewerken zur unentgeltlichen Hergabe der Maschinen- und Dampfkraft zur Entwicklung der nötigen Elektrizität vermittelt, zu danken. Jedermann war vollständig befriedigt über das so schön gelungene Werk der elektrischen Straßenbeleuchtung." [1]

So berichtete die Dortmunder Zeitung im Jahre 1887 über das Ereignis vom Vortag in Dorstfeld. Vier für die Frühzeit der Elektrifizierung sehr wesentliche Aspekte kommen hier zum Ausdruck:
  1. Das elektrische Licht war die erste und für das alltägliche Erleben der Menschen lange Zeit wichtigste "Sensation" der Elektrifizierung.
  2. Dieses Licht brachte gegenüber älteren Beleuchtungsarten eine völlig neue Qualität. In dem zitierten Zeitungsbericht kommt das zum Ausdruck, wenn von einem "allgemeinen Jubel" die Rede ist. In anderen Augenzeugenberichten wird oft fast ehrfürchtig von "dem Licht" gesprochen.
  3. Die Initiative für die Elektrifizierung geht zunächst von Gewerbebetrieben, hier von der Zeche "Dorstfeld" aus, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand Stromgeneratoren in die oft schon vorhandenen Dampfkraftanlagen einbauen konnten. Sie beleuchteten zunächst nur ihre eigenen Produktionsanlagen und dann darüber hinaus Straßen und Gewerbegebiete.
  4. Aus dem zuletzt Gesagten folgt, daß Gegenden m t ausgeprägt gewerblicher Struktur - wie das Ruhrgebiet und auch das märkische Sauerland eine frühe Elektrifizierung (seit ca. 1885) erlebten. In ländliche oder gar in schwer zugängliche Gebiete gelangte der elektrische Strom dagegen teilweise erst nach 1945. Aber auch dort konnte das elektrische Licht die Menschen nachhaltig beeindrucken, wie der Bericht einer Bäuerin aus dem Salzburger Land belegt:
    "Ich könnte es heute noch keinem Menschen sagen, wie glücklich ich war, als wir im Hochsommer 1957... Licht- und Kraftstrom erhielten, so glücklich war ich vorher nur einmal in meinem Leben." [2]

Aus heutiger Sicht fällt es schwer, diese Ergriffenheit nachzuvollziehen, denn wir sind es gewohnt, im Haushalt alltäglich mit elektrischem Licht und einer Vielzahl von elektrischen Geräten umzugehen. Auch außerhalb des privaten Haushaltes hat der elektrische Strom auf vielfältige Weise das gesellschaftliche Leben verändert.

Neben den allgegenwärtigen Erscheinungsformen Licht und elektrischer Maschinenantrieb ("Licht und Kraft") gibt es auch weitreichende Auswirkungen der Elektrizität, die nicht auf den ersten Blick zu entdecken sind:

Im Bereich des Städtebaus z.B. wurde die Errichtung von mehr als zehnstöckigen Hochhäusern im Grunde erst durch elektrisch angetriebene Fahrstühle möglich, die diese Wolkenkratzer erschließen. Moderne Kommunikationsmittel wie Telefon und Computer ermöglichen es erstmals, daß sich Menschen - mündlich oder schriftlich (e-mail) - miteinander unterhalten, ohne sich dabei anzuschauen! Es ist offensichtlich, daß diese neue Möglichkeit die ganze Art der Kommunikation verändern konnte und verändert hat. Franz Kafka bezeichnete die neuen Kommunikationsmittel Telefon und Telegraphie einmal als "Gespensterverkehr". [3] Richtig: Durch die Elektrizität hat sich die Kommunikation vom Verkehr emanzipiert.

Vom Strom abhängige Medien wie Radio und Fernsehen brachten die Welt ins Wohnzimmer. Die Zeitspanne zwischen dem Vollzug von Ereignissen und der Berichterstattung darüber ist immer mehr verringert worden. In der Sendeform "live" fällt schließlich beides zeitlich zusammen. Nachrichten aus aller Welt können heute mit nur kurzem Zeitverzug überall dorthin gesendet werden, wo es Elektrizität und die entsprechenden Geräte gibt. Zugespitzt formuliert z.B. Norbert Bolz [4], daß sich die Weltgesellschaft überhaupt erst dadurch konstituiert hat, daß es möglich wurde, sich z.B. tagesaktuelle Bilder aus Japan auf den Schirm zu holen. Die modernen Massenmedien, die ohne Elektrizität nicht denkbar sind, haben die Welt und durch den Medienkonsum auch das Alltagsleben der Menschen verändert.

"Das Medium ist selbst seine eigentliche Botschaft". Diese bis heute provozierende und sehr einflußreiche These stellte der amerikanische Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan bereits in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts auf. [5] Und ist es nicht in der Tat so, daß uns eine Verlegung der Sendezeit der "Tagesschau" von 20 auf z.B. 21 Uhr 15 persönlich mehr irritieren würde als ein weiterer Kriegstag irgendwo auf der Welt? Das verläßliche Funktionieren des Mediums selbst ist - gemäß der These McLuhans wichtiger als die schnell wechselnden Inhalte desselben.

Die Elektrizität hat so viele und weitreichende Veränderungen bewirkt, daß hier nicht auf alle Einzelaspekte eingegangen werden kann. Viele neue Erfindungen wie Telefon, Radio, Fernsehen, Computer usw. konnten im Rahmen dieser Diaserie nicht berücksichtigt werden. Die vorliegenden Bilder und Texte wollen vor allem davon berichten, was in der Frühzeit der Elektrifizierung geschah, als die Elektrizität noch neu war, für alle, die damit arbeiteten und für die Menschen, die sie im Alltag benutzten.

Neue Dinge brauchen neue Namen und Beschreibungen, so auch hei Elektrizität. Die verwendeten Worte und Symbole orientierten sich - wie oft in solchen Fällen - an der bekannten Welt. Strom "fließt" (wie etwa Wasser) und elektrisches Lichts brennt" (wie das Feuer). Strom ist ursprünglich, wie das Feuer und wie der Blitz, eine Naturgewalt. Der Blitz ist ein in der Natur vorkommendes, elektrisches Phänomen! Der gebündelte Blitz auf Warnschildern "Achtung Hochspannung. Lebensgefahr" o.ä. warnt vor den bestehenden Gefahren im Umgang mit dieser gebändigten Kraft. Die Verwendung des Blitzes geht vor allem zurück auf den griechischen Gott Zeus, der als Beherrscher der Naturgewalten galt und dessen wichtigstes Machtsymbol der (geschleuderte) Blitz war. [6]

Der Umgang mit der neuen Energie mußte erst geübt werden, auch durch leidvolle Erfahrungen: In der Anfangszeit erlitten viele Menschen mehr oder weniger starke Stromstöße, denn "man meinte wohl, es sei wie beim Wasser, wo der Zulauf eine Zeit dauert. [7] Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß die ersten Lichtschalter ausschließlich Drehschalter waren, obwohl ein Kippschalter bei Elektrizität aus konstruktiven Gründen wesentlich sinnvoller ist. Aber Drehschalter waren von der Gaszufuhr her bekannt und so wurden sie zunächst auch bei einer neuen Anwendung eingesetzt.

Die Erscheinungsbilder von Stadt und Land veränderten sich. Es wurden Kraftwerke, Umspannstationen, Trafohäuschen usw. gebaut und betrieben. Es wurden Leitungen verlegt und schließlich wurde das Licht angeknipst oder die Arbeitsmaschine eingeschaltet. Wie ging all dies vonstatten und was erlebten die Menschen dabei? Auf weiche Weise veränderte die Elektrizität und ihre Technik in der Frühzeit das Alltagsleben der Menschen? Dies sind die zentralen Leitfragen des vorliegenden Materials.

Die Bildbeispiele stammen fast ausschließlich aus Westfalen, ebenso bezieht sich der wichtigste Teil der verwendeten Literatur auf den westfälischen Raum. Die zitierten Augenzeugenberichte stammen z.T. aus Österreich, jedoch sind sie in ihren zentralen Aussagen auf die in Deutschland und Westfalen bereits einige Jahre früher vollzogene Elektrifizierung zu übertragen.

Es ist auch von den Brüchen, Hemmungen und Rückschlägen der Entwicklung der Technik sowie im Umgang mit ihr zu berichten. Z.B. brannte das elektrische Licht in der Anfangszeit nicht immer so, wie wir es kennen: gleichbleibend hell und zeitlich unbegrenzt. Vielmehr war die Stromerzeugung durch kleine Generatoren oftmals von der Menge her gering oder unregelmäßig. Die Generatoren hatten häufig Ausfälle: Es gab kein Wasser zum Antreiben, Leitungen waren schlecht oder gar nicht isoliert usw. Jedenfalls waren zu Anfang nicht immer alle Menschen mit der elektrischen Energie nur glücklich, wie die Erinnerung von Gisela Staudecker an eine schlechte Versorgung belegen kann: "Heut brauch ma a Kerzen, daß ma's Elektrische sicht." [8]

Große Teile Westfalens wurden und werden von der VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen AG) mit Sitz in Dortmund bzw. von ihren Vorläuferunternehmen mit Strom versorgt. Bereits 1930 reichte das Versorgungsgebiet der VEW von Laasphe und Berleburg im Süden bis Lünen und Gronau im Norden, von Borken und Bochum im Westen bis Fürstenberg und Gütersloh im Osten. [9] Die restlichen Teile wurden von anderen Unternehmen, wie u.a. von dem Elektrizitätswerk Minden-Ravensberg GmbH elektrifiziert.

Strom wurde ursprünglich nur Dampf- und Wasserkraftwerken erzeugt, wobei die Dampfkraftwerke das Rückgrat der Versorgung darstellten. Sie waren hinsichtlich ihrer Technik am Ende des 19. Jahrhunderts keine Erfindung der Zeit, sondern sie sind eher zu verstehen als zur Reife weiterentwickelte Dampfkraftanlagen, die im Prinzip auch schon 100 Jahre vorher im Einsatz waren. "Strom braucht Kohle"; dieser Satz gilt auch noch heute im Zeitalter von Atomkraftwerken, Solar- und Windkraftanlagen. Ganz besonders aber bezieht er sich auf die Frühzeit der Elektrifizierung von 1900 bis ca. 1960, in der über 90 % der deutschen Stromproduktion auf der Verbrennung von Kohle basierte.

Dabei ist der Weg von der Kohle zum Strom weit: Kohle wird verbrannt, dadurch entsteht Wärmeenergie. Mit der Wärme wird Wasser erhitzt und so Dampf erzeugt. Dieser Dampf wiederum treibt durch Entspannung von hohem auf niedrigen Druck eine Turbine an. Die so erzeugte mechanische (Bewegungs-) Energie wird schließlich von einem Generator in elektrische Kraft umgewandelt. Vier technisch aufwendige Schritte von der Kohle bis zum Strom: dennoch hat diese Technik die Stromversorgung in der Frühzeit dominiert. Dies geschah deshalb, weil ausreichend Kohle gefördert wurde und man damals noch davon ausgehen konnte, daß dieser fossile Energieträger nie ausgehen würde. Wind und Wasser konnte man nicht in dieser beliebigen Weise nutzen. Ölförderung und Kernspaltung waren technisch noch nicht genügend fortgeschritten bzw. nicht einmal angedacht. Die Kohle war als Energieträger für den gesamten lndustrialisierungsprozeß in Europa von herausragender Bedeutung und so auch für die Frühzeit der Elektrifizierung in Deutschland.

Eine weitere wichtige Voraussetzung der Elektrifizierung waren die elektrotechnischen Erfindungen. [10] Erst sie ermöglichten eine Stromerzeugung in einem großen Maßstab. Hier ist nicht der Ort, um alle relevanten Innovationen des 19. und 20. Jahrhunderts aufzuführen. Ihre Geschichte stellt sich dar als eine lange Kette von Einzelgliedern, die für sich genommen oftmals nur kleine Schritte von einem Wissensstand zum nächsten waren. Erst in der Gesamtheit wird daraus die Erfolgsgeschichte der Elektrizität. Nur einige herausragende Namen und Eckdaten sollen hier zum besseren Verständnis genannt werden: 1786 hatte L. Galvani die strömende Elektrizität entdeckt. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts untersuchten A. Volta, J.W. Ritter, H. Chr. Oersted, A.M. Ampère, G.S. Ohm und M. Faraday Eigenschaften und Verhalten des elektrischen Stroms. Die ersten Versuche, den elektrischen Strom auch technisch anzuwenden, begannen vornehmlich in den Labors der Physiker. Mit der Voltaschen Säule, vereinfacht gesagt eine Frühform der Batterie, wurde die Elektrizität zum Strom, denn man konnte nun dauerhafte Ströme erzeugen. Die Grenzen der statischen Elektrizität (Reibung) waren damit durchbrochen.

Schon 1820 hatte Hans Christian Oersted den Zusammenhang zwischen elektrischen Strömen und Magnetismus entdeckt. Dem englischen Physiker Michael Faraday glückte 1831 die letzte große Entdeckung der klassischen Elektrizitätslehre: Nach jahrelangen Experimenten gelang es ihm, aus Magnetismus elektrischen Strom zu erzeugen, indem er einen zylindrischen Magnetstab fortlaufend in einer Drahtspule bewegte: Nur die fortlaufende Bewegung erzeugte den Strom!

Die wichtigste Grundlage für die Starkstromtechnik und die wirklich breite Anwendung der Elektrizität schuf Werner von Siemens im Jahre 1866 mit dem von ihm entdeckten elektrodynamischen Prinzip und dem Bau seiner "Dynamomaschine". Siemens entdeckte, daß auch ein geringer Restmagnetismus in einem einmal magnetisierten Eisen ausreicht, um bei Bewegung einen schwachen Strom zu induzieren. Dieser Strom verstärkt dann von selbst das magnetische Feld und somit auch wieder den durch dieses Feld induzierten Strom.

Erstmals konnte also auch mit einem verhältnismäßig kleinen Generator eine hohe Spannung erzeugt werden, denn die Höhe der Spannung war nicht mehr an die Größe des verwendeten Magneten gebunden. Die "Dynamomaschine" hatte einen zweiten großen Vorteil, denn sie war gleichzeitig als Elektromotor zu verwenden, wenn ihr Strom zugeführt wurde.
Vor allem die Erfindung der Dynamomaschine ebnete den Weg zu einer universellen Ausbreitung und Nutzung der elektrischen Energie.


[1] Dortmunder Zeitung vom 30.01./01.02.1887, zitiert nach Horstmann, Theo: Die Zweite Industrielle Revolution" in Westfalen, in: Horstmann, Theo (Hrsg.): Elektrifizierung in Westfalen, Fotodokumente aus dem Archiv der VEW. Hagen 1990, S. 31f.
[2] Arnold, Viktoria: "Als das Licht kam": Erinnerungen an die Elektrifizierung. Wien, Köln, Graz 1986, Bericht von Barbara Passrugger, S. 157.
[3] Vgl. Bolz, Norbert: Das Zeitalter der Elektrizität, in: Spohler, Henrik: Transformationen - Schauplätze der Energie. Mannheim 1993, S. 22.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Fritzsch, Walter u. Heutger-Berost, Jutta: Stromversorgung im Sauerland 1891-1935. Arnsberg 1991, S. 183ff.
[7] Arnold, Viktoria: "Als das Licht kam": Erinnerungen an die Elektrifizierung. Wien, Köln, Graz 1986, Bericht von Therese Egger, S. 22.
[8] Arnold, Viktoria: "Als das Licht kam": Erinnerungen an die Elektrifizierung. Wien, Köln, Graz 1986, Bericht von Gisela Staudocker, S. 22.
[9] Vgl. Horstmann, Theo (Hrsg.): Elektrifizierung in Westfalen, Fotodokumente aus dem Archiv der VEW. Hagen 1990.
[10] Böth, Gitta; Cornelius, Steffi; Döring, Peter u. Horstmann, Theo (Hrsg.): Der Weg ins Licht - Zur Geschichte der Elektrifizierung des märkischen Sauerlandes, Ausstellung im Westfälischen Freilichtmuseum Hagen. Hagen 1989, S. 17ff.

Westfalen im Bild, Reihe: Energiewirtschaft, Heft 2