DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft |
WOLFGANG VON HIPPEL Eine südwestdeutsche Region zwischen Krieg und Frieden - die wirtschaftlichen Kriegsfolgen im Herzogtum Württemberg |
Die Frage nach den ökonomischen
Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges gilt als Schlüsselfrage
zum Verständnis der wirtschaftlichen Entwicklung im Deutschen Reich
während des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie ist im Verlauf ihrer
wissenschaftlichen Diskussion recht unterschiedlich beantwortet worden und
bedarf auch heute noch einer Klärung, die allseits als einigermaßen
überzeugend empfunden wird. Für diese nicht sonderlich befriedigende
Situation lassen sich vor allem folgende Gründe
nennen:
1. Die Diskussion wurde lange Zeit von
teilweise massiven weltanschaulich-politischen Einfärbungen der
Urteilsbildung überlagert [1];
2. die
lokale oder regionale Forschung, welche die empirische Grundlage für
derartige Bewertungen lieferte, verharrte stark bei der puren
Materialaufbereitung, ohne sie in übergeordnete Problemstellungen
einzuordnen; um so leichter war es, ihre Ergebnisse auf die imaginäre
Größe "Deutschland" hochzurechnen und als Stütze jeweils
für die eigene Einschätzung, wie unter 1. angedeutet, zu
nutzen.
So bildeten sich einige kontroverse
Interpretationsmuster heraus: Die Verfechter der "Katastrophentheorie" gingen
davon aus, der Krieg sei in eine blühende, von wirtschaftlichem Wachstum
gekennzeichnete Wirtschaft eingebrochen und habe entsprechend verheerende
Langzeitwirkungen mit sich gebracht; die Verfechter der "Niedergangstheorie"
dagegen vertraten die Ansicht, bereits in den Jahrzehnten vor dem Krieg habe
sich ökonomischer Verfall in Deutschland abgezeichnet, der Krieg habe
diesen Trend allerdings noch verstärkt und mit dem wirtschaftlichen auch
das politische und kulturelle Niveau des deutschen Volkes für lange Zeit
auf einen besonders niedrigen Stand abgesenkt. Schließlich kam durch
Siegfried H. Steinberg nach dem Zweiten Weltkrieg eine "neue Interpretation" ins
Spiel, die jenseits der bisherigen Katastrophen- und Niedergangsbehauptungen
ältere Umbewertungstendenzen zuspitzte und die wirtschaftlichen
Auswirkungen der Kriegsjahrzehnte überhaupt bagatellisierte. Ohne
überzeugenden Rückbezug auf die bereits vorliegende Einzelforschung
behauptete Steinberg, die Bevölkerung Deutschlands sei durch den Krieg zwar
umverteilt worden, habe jedoch zwischen 1600 und 1650 nicht ab-, sondern sogar
leicht zugenommen; und Entsprechendes gelte für die Wirtschaft: Nicht
Niedergang, sondern Neuorientierung und teilweise regionale Verlagerung von
Handel und Gewerbe seien festzustellen. [2] "Alles in allem waren das
Nationaleinkommen, die Produktivität und der Lebensstandard im Jahre 1650
höher als zu Anfang des Jahrhunderts." [3] Nur im Vergleich mit
anderen westeuropäischen Staaten wie England, den Niederlanden und
Frankreich, die sich rascher entwickeln konnten, schien Deutschland zu
stagnieren. So problematisch diese Aussagen im ganzen wie im einzelnen sind, sie
haben bis heute angesehene Befürworter
gefunden. [4]
Die offensichtlichen
Schwierigkeiten, die Kriegsfolgen zwischen "Katastrophe", längerfristigem
"Niedergang" oder höchstens gebremstem Wirtschaftswachstum genauer zu
ermitteln und zu gewichten, liegen zum einen in dem Umstand begründet,
daß die verschiedenen Bewertungsebenen von Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft nicht isoliert betrachtet werden können, vielmehr die engen
Wechselbeziehungen zwischen ihnen stets zu berücksichtigen bleiben; sie
ergeben sich zum anderen aus den (damit wiederum eng verknüpften) Problemen
adäquater Quellennutzung und Quelleninterpretation. Zwischen der Skylla
pauschaler Einschätzungen und der Charybdis detailversessener
Faktenerhebung hindurchschiffen könnte die Forschung vermutlich am ehesten,
wenn sie von Regionen ausgehend die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten
und Entwicklungen vor, während und nach dem Krieg in längerfristigen
Zusammenhängen anhand eines Rasters systematischer Fragestellungen
analysiert. Die Verknüpfung einer Serie derartiger Untersuchungen, die so
gut wie möglich aufeinander abzustimmen wären, böte wohl die
größte Chance, unser Urteil über die ökonomischen
Kriegsauswirkungen besser abzusichern und angemessen zu differenzieren. Vor mehr
oder weniger spekulativen Hochrechnungen auf die "alles-in-allem"-Ebene einer
nichtexistenten nationalen Volkswirtschaft jedenfalls sollte man sich ebenso
hüten wie vor der unbesehenen Übernahme moderner
Wachstumsvorstellungen, denn sie werden der damaligen Ökonomie in
Mitteleuropa kaum gerecht.
Im Folgenden soll der
regionale Zugriff wenigstens ein Stück weit erprobt werden, und zwar
für das größte und geschlossenste Territorium
Südwestdeutschlands, für das Herzogtum Württemberg.
Württemberg gehörte zu den Gebieten in Deutschland, die vom Krieg
besonders hart getroffen worden sind. Das gilt nicht nur für die
Bevölkerungsverluste, für die das seit langem bekannt ist, sondern
ebenso für die gesamte Ökonomie. Hierüber wissen wir jedoch
bisher nicht allzuviel - nicht deshalb, weil es an Quellen fehlen würde,
sondern weil diese bisher nicht in gebührendem Maß erschlossen worden
sind. Vor allem mangelt es an Strukturdaten, um eine tragfähige Vorstellung
über ökonomische Größenordnungen und damit über die
Basis des wirtschaftlichen Handelns der damals lebenden Menschen zu
gewinnen.
Einschlägiges Aktenmaterial
entstand gewöhnlich, wenn die Obrigkeit Finanzansprüche selbst geltend
machte bzw. sich gegen finanzielle Ansprüche von anderer Seite abzusichern
suchte. Solchen Ursprung hatten auch die sogenannten Kriegsschadensberichte,
welche die württembergische Regierung 1652 erhob, um damit auf dem
bevorstehenden Reichstag zu Regensburg alle Klagen und Beschwerden auffangen zu
können, die gegen Herzog und Landschaft "ratione der obhabenden Schulden"
zu erwarten waren, und zur vorbeugenden Abwehr "aller andern
ohnerträglichen Zumuethungen". Deshalb forderte die Stuttgarter Regierung
sämtliche Städte und Ämter des Herzogtums Württemberg in
einem Generalausschreiben vom 28. August 1652 auf, darüber zu
berichten,
1. "Wie viel Mannschaft gegen vorig
friedlichen und vollkommenen Ruhestandszeitten diesem Unserm durch den leydigen
Krieg äußerst depopulirten Hertzogthumb annoch
ermangle",
2. wieviel Weinberg, Acker, Wiese und
andere Flächen "noch ohngebauet, wüest und öed zugegen liege"
und
3. wieviele Städte und Dörfer,
Kirchen und Flecken sowie eigene herrschaftliche Schlösser und Gebäude
"durch den ohnersetzlichen Kriegßschaden deß Brandts zu grund
verderbt undt in die aschen gelegt oder doch solchermaßen zugerichtt,
daß sie biß jetzo noch ohnbewohnt und ohnerbauet in ihrer ruin und
was sonst dergleichen für mehr clägliche vestigia deß
verderblichen Kriegß hin und wider in Unserm land und hertzogthumb vor
augen stehen". Die Beamten sollten unverzüglich mit Hilfe von
Bürgermeister und Gericht genaue Erkundigungen über die einzelnen Orte
einziehen. [5]
Das politische Anliegen war
also klar; es schlug sich dementsprechend in der "Specification" nieder, welche
die Regierung aus den eingehenden Angaben der Städte und Ämter
für den Regensburger Reichstag erstellte. Die Stuttgarter Zentrale legte
dabei großen Wert auf möglichst genaue Information und hakte nach,
wenn ihr die vorgelegten Daten nicht präzise genug
ausfielen.
Das Ergebnis ihrer Bemühungen war
die "Specification, Waß das Herzogthumb Württemberg von anfang des
Kriegswesens de Anno 1628.629.630. biß auf dieses 1654.te Jahr an
Einquartierungen, Contributions-Geltern, Blinderungen, Fridens-Geltern und
Römermonten darschiesen, ertragen und überdulden
müesen". [6] Die Rechnung konnte sich sehen lassen (fl =
Gulden):
1) Vom 1. Januar 1628 bis Oktober 1634
zahlte Württemberg den Kriegsvölkern fast durchweg bar: 6.354.326
fl;
2) vom Oktober 1634 bis zur Restitution des
Herzogs im November 1638 hatte das Land durch Einquartierungen und "Pressuren"
aufzubringen mindestens: 45.007.000 fl;
3) vom
November 1638 bis zum Reichsfrieden 1648 waren den einquartierten kaiserlichen
und bayerischen Truppen zum Unterhalt der besetzten Plätze und "zu Zeiten"
auch etwas der französischen Armee fast durchweg in bar zu leisten:
6.211.006 fl;
4) nach dem Friedensschluß bis
zur endgültigen Evakuierung des Schwäbischen Kreises waren den
einquartierten schwedischen und französischen Truppen und Garnisonen in den
Festungen an Bargeld zu zahlen: 719.553 fl;
5)
Für den Unterhalt der Garnison von Heilbronn: 26.883
fl;
6) Satisfaktionsgelder an Schweden: 241.296
fl;
7) 100 Römermonate dem Kaiser bewilligt
und bezahlt: 182.800 fl.
Insgesamt waren dies
58.742.864 fl.
Hinzu kam laut der Spezifikation
der Verlust von 57.721 Haushaltungen ("Mannschaft"); 8 Städte, 45
Dörfer, 67 Kirchen, 150 Pfarr- und Schulhäuser und 36.086 Häuser
und Scheuern wurden als verbrannt und ruiniert, 248.013 Jauchert (= 117.251 ha)
Acker, 40.195 Morgen (= 12.668 ha) Weingarten und 24.503 Morgen (= 7.722 ha)
Wiese als noch unbebaut gemeldet.
Die Genauigkeit
der Daten, die zumindest amtsweise, nicht selten sogar bis auf die Gemeindeebene
hinunter vorgelegt wurden, war natürlich oft genug problematisch. Am
zuverlässigsten waren sicher die Angaben über die "Mannschaft", die
der damit beauftragte Sachbearbeiter als "durchauß zimblich lauter undt
ohne sonderbahre defect" bewertete. [7] Ansonsten mußte er mit
Schätzwerten arbeiten, da die Ämter des öfteren die Flächen
nicht nach Kategorien (Acker, Wiese, Weingarten) trennten und bei den Angaben
über die Gebäude recht unterschiedlich
verfuhren.
Zuverlässiger als dieses Material
sind die bisher nur punktuell bekannten und zur Kenntnis genommenen Erhebungen
von 1655 für eine neue Steuerbeschreibung, wie sie eben die
Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges erforderlich
machte. [8] Sie eröffnen über unseren bisherigen Kenntnisstand
hinaus einen differenzierteren Einblick in den wirtschaftlichen Zustand des
Herzogtums Württemberg vor dem schweren Kriegseinbruch 1634 und in die
Situation einige Jahre nach Ende des langwierigen Kriegstheaters. Und sie
spiegeln zugleich etwas von dem Bemühen der Landesherrschaft und der
Landstände, die Kriegsfolgen so gut wie möglich zu erfassen und in den
Griff zu bekommen. Der in den Erhebungen vorgegebene Vergleich der Situation vor
der "leidigen Landsoccupation" oder dem "leidigen Einfall" der kaiserlichen
Truppen nach der Schlacht von Nördlingen (5./6.9.1634) mit dem Zustand von
1655 macht eine ganze Menge von den direkten und indirekten Kriegsauswirkungen
sichtbar. Und die Herkunft der Quellen und ihre eher nüchternen
substantiellen Aussagen entziehen sie dem Verdacht, bloß subjektiv
eingefärbte Greuelberichte von erbaulich-schaurig übertreibenden
Pfarrherren zu sein, die möglicherweise besonders leicht Opfer von
Plünderungen geworden waren. [9] Auch der mehrjährige Abstand
zum Kriegsende ist von Vorteil, weil die Annahme entfällt, die
mitgeteilten, oft enormen Bevölkerungsverluste seien vor allem die Folge
zeitweiser Flucht vor Truppen und Kriegslagern gewesen: Derartige
Scheineinbußen waren inzwischen durch Rückwanderung längst
behoben; die Berichte lassen vielmehr auf Grund der inzwischen bereits
zögernd einsetzenden Zuwanderung von Ortsfremden die tatsächlichen
Verluste bis zum Kriegsende eher zu niedrig erscheinen. Deshalb darf man ihre
Aussagen natürlich nicht unbesehen übernehmen. Ihre Entstehung und die
Solidität ihrer Aussagen bleiben zu
überprüfen.
Für die vergleichsweise
hohe Qualität der Berichte, welche die Städte und Ämter 1655
lieferten, um Regierung und Landschaft über den Zustand der Steuerobjekte
und über die jeweils geltenden Steuermodalitäten zu informieren,
spricht aber eben ihre Entstehungsgeschichte: Zwar hatte die Regierung von
Herzog Eberhard III. nach langen Verhandlungen mit den Ständen unter dem
wachsenden Druck des Krieges 1629 die erste allgemeine Steuerinstruktion
durchgesetzt, um für ein Mindestmaß an Gleichheit der
Besteuerungsprinzipien im ganzen Land zu sorgen [10], doch wurden die in
Steuerbüchern der Gemeinden festgeschriebenen Ergebnisse durch die
Kriegsverluste und -zerstörungen sehr bald gründlich in Frage
gestellt. Der Verteilungsschlüssel für die Steuerumlage entsprach nach
dem Krieg nicht mehr der Steuerkraft der einzelnen Ämter und Gemeinden, und
die so entstandenen Ungleichheiten der Belastung lösten angesichts der
allgemein gesunkenen Leistungsfähigkeit - zumal während einer
ausgesprochenen Nachkriegsdepression - verständliche Unzufriedenheit
aus.
Daher häuften sich die Beschwerden wegen
Steuerüberbürdung aus allen Teilen des Landes, die
Rückstände bei der Steuerzahlung schwollen an [11], und die
Bevollmächtigten des Größeren Ausschusses des Landtags wurden
beim Herzog Anfang 1655 wegen Festlegung eines neuen Steuerfußes
vorstellig. [12] Nach einigem Hin und Her einigten sich beide Seiten auf
folgendes Verfahren: Die Amtsvorsteher hatten Ort für Ort unter
Hinzuziehung von Schultheißen, Bürgermeistern und Gericht sowie der
verpflichteten Steuersetzer die früheren und gegenwärtigen
Steuerverhältnisse anhand vorgegebener Fragen zu erheben und über das
Ergebnis binnen zweier Monate an den Geheimen Regimentsrat zu berichten.
Hauptziel des ganzen Unternehmens war die "durchgehende Gleichheit" der
Steuerveranlagung auf Grund der jeweils ermittelten Steuerkraft. Hierzu sollte
für den Zeitpunkt "vor der Landtsoccupation" und für die Gegenwart
erfragt werden:
- Mannschaft und
Bürgerschaft;
- hauptsächliche "Nahrung
oder Commercien jedes Orths";
- Zahl,
Vermögen und etwaige Veranlagung der Taglöhner, "welche man doch mit
Lohn nirgendt erfüllen oder genug bezahlen
kan";
- Zahl der steuerpflichtigen Gebäude
(Häuser, Scheuern, Mühlen u.a.);
Angaben
über die steuerpflichtigen Flächen von
-
Wiesen, Gras- und Krautgärten;
-
Weingärten;
-
Äckern;
- Wäldern in privater
Hand.
- Wurden auch die derzeit unbebauten
Güter besteuert und, wenn ja, wie hoch? Mußten die bebauten
Güter die unbebauten ohne Unterschied vertreten, und mußte jeder Ort
seine 1629 festgelegte Steuersumme bezahlen?
-
Kapitalwert der Frucht-, Wein- und
Geldgülten;
- Kapitalwert von Handel und
Handwerk, "welche bey so wohlfeyler Zeit an khein Tax oder Billigkheit mehr sich
wollen binden", sondern sich alles in Bargeld "überzahlen" lassen;
besonders sollte geprüft werden, ob sie im Verhältnis zur
Landwirtschaft "nach Proportion" angelegt waren.
-
Anschlag der Fischwasser;
- verzinsliche
Kapitalien von Stadt und Amt zusammen, der einzelnen Gemeinden, der
Privaten.
Als Vergleichsmaterial sollte die
Kommission angesichts des Verlusts zahlreicher Güterbücher im ganzen
Land die Steuerunterlagen der Landschaft von 1629 heranziehen; sie sollte auch
etwaige Ausstände aufspüren und besonders darauf achten, "ob nicht
etwan die Vermögliche übertragen, hingegen allein die
Mittelmäßige und Unvermögliche zu Abstattung ihrer
Schuldigkeitten angehalten
werden". [13]
Nachdem die Berichte
eingegangen waren, überprüfte eine von Herzog und Landtag
paritätisch besetzte Kommission diese Unterlagen in elf Ämtern noch
eigens vor Ort. Insgesamt bestätigte sie, daß man sich auf die
Angaben der Ämter, auch wenn sie unterschiedlich ausführlich waren,
verlassen konnte. [14] Auf dieser Erfahrungsgrundlage ging der
Größere Ausschuß die Berichte der Städte und Ämter
durch und überlegte, wie jeder Ort neu veranschlagt werden könne;
nachdem die Ergebnisse im Plenum vorgetragen worden waren, nahm sich der Landtag
seinerseits anhand der Unterlagen Städte und Ämter in alphabetischer
Reihenfolge Ort für Ort vor, ließ anschließend die Abgeordneten
der einzelnen Orte zu Wort kommen, hörte dann Vertreter der benachbarten
Orte an, erstellte daraufhin den Steueranschlag und holte die Meinung der
fürstlichen Deputierten ein; das ganze Geschäft der
Steuereinschätzung konnte so Anfang Juni 1656 in fünf Tagen
abgeschlossen werden. [15]
Auch wenn die
Ämterberichte nicht mit dem Maßstab heutiger statistischer Erhebungen
gemessen werden dürfen, sie bieten für einen vergleichsweise
großen Raum doch einen Grundbestand an Daten, die im Vergleich von Vor-
und Nachkriegszeit mit gebotener Vorsicht Aussagen über die damaligen
wirtschaftlichen Gegebenheiten und über deren Veränderung infolge des
Krieges ermöglichen. [16]
Soweit es
die Vorkriegssituation betrifft, kann man anhand der Angaben über die
vorhandene "Mannschaft", verstanden als Bürger mit eigenem Haushalt, die
vor dem Krieg bestehende Bevölkerungsdichte einigermaßen zutreffend
schätzen [17]: Sie belief sich im gesamten Herzogtum auf wenigstens
50 Einwohner/km [2], variierte allerdings je nach Tragfähigkeit der
vorhandenen Landwirtschaft - in Hochlagen der Alb und des Schwarzwaldes lag sie
unter 20 Einwohner/km [2], in den fruchtbareren Ackerbauzonen des
Unterlandes stieg sie auf 60 bis 70 Einwohner/km [2] und erreichte in
den ausgesprochenen Weinbaugebieten fast durchweg Werte von über 100
Einwohner/km [2] . Das Herzogtum Württemberg rangierte damit unter
den besonders dicht besiedelten Regionen Deutschlands, ja Europas auf einem der
ersten Plätze. Wenn das Bevölkerungswachstum Württembergs in den
Jahrzehnten vor dem Krieg offensichtlich eine rückläufige Tendenz
aufwies, so ist der Rückschluß erlaubt, daß hier der
Nahrungsspielraum unter wachsenden Bevölkerungsdruck geraten war.
Dafür sprechen auch die vorhandenen Vergleichsdaten über die
besteuerten landwirtschaftlichen Nutzflächen (Acker, Wiese, Weinberg).
Diese sind zwar gewiß nicht einfach identisch mit den tatsächlich
vorhandenen Flächen, denn die Meßgenauigkeit entsprach keineswegs
modernen Standards, es gab steuerfreie Güter, und es gab zweifellos auch
noch genügend Land, das nicht in die Steuerrechnung einging. Aber die
Steuerbefreiungen hielten sich gerade im Herzogtum Württemberg insgesamt in
engen Grenzen, und die nicht weiter ausgewiesenen Flächen wie
Gemeindeeigentum (Weiden) oder abgelegenes Nutzland zählten unter den
damals bestehenden Bedingungen zu ausgesprochenen Grenzböden; man darf also
nicht davon ausgehen, daß auf ihnen erhebliche Teile des Sozialprodukts
erwirtschaftet worden sind.
Auf Grund einer Reihe
von möglichst realitätsnahen Annahmen über vorhandenes
Arbeitskräftepotential, über den erforderlichen Einsatz von
Arbeitskräften zur Bestellung der verfügbaren Flächen, über
durchschnittliche Ernteerträge und über den Nahrungsmittelbedarf der
Bevölkerung lassen sich auf die wirtschaftlichen Verhältnisse in
Württemberg vor dem Dreißigjährigen Krieg mit der gebotenen
Vorsicht Rückschlüsse ziehen. Demnach konnten bei einigermaßen
rationeller Nutzung annähernd 70 Prozent der Arbeitskräfte in der
Land- oder in der Forstwirtschaft ein Auskommen finden. Die errechnete
Getreideproduktion deckte in den erfaßten Ämtern den
tatsächlichen Bedarf aber nur zu etwa 85 Prozent, so daß noch eine
beachtliche Zufuhr vonnöten gewesen wäre. Die verstreute
zeitgenössische Information läßt zumindest deutlich erkennen,
daß in Württemberg die Nahrungsmitteldecke dünner wurde,
daß zunehmend Grenzböden unter den Pflug kamen und hierbei auch der
Wald als Landreserve nicht verschont blieb, daß man vor allem in den
besonders dicht besiedelten Landesteilen die Viehhaltung zugunsten des Feldbaues
so weit wie möglich reduzierte, auf diese Weise aber wiederum die
Regenerationsmöglichkeiten für den Boden durch Düngerzufuhr
verschlechterte. Der Konsum von Fleisch, tierischem Eiweiß und Fett war
entsprechend gering und wurde durch obrigkeitliche Maßnahmen
zusätzlich eingeschränkt. Der Ausbau der Rebflächen stellte
demgegenüber den wichtigsten landwirtschaftlichen
Intensivierungsprozeß in Württemberg während des Jahrhunderts
vor dem Dreißigjährigen Krieg dar. Bisher nicht oder schlecht
genutzte Flächen wie Steilhänge, Wald und Weide, aber auch
Ackerböden wurden mit Rebstöcken bepflanzt: Der "Neckarwein" fand
seinen Weg nach Oberschwaben, Bayern und Österreich, in die Schweiz und in
den Norden Deutschlands. Doch trotz solch überregionaler Nachfrage blieb
der Gewinn, gemessen an dem erforderlichen Arbeitseinsatz, deutlich hinter
demjenigen aus dem Getreideanbau zurück. Wenn dennoch Acker für den
Weinbau umfunktioniert wurde, so spricht das erneut dafür, daß
Arbeitskraft überreichlich zur Verfügung
stand.
Denn die Arbeitsmöglichkeiten
außerhalb der Landwirtschaft blieben beschränkt. Zwar wies
Württemberg, soweit erfaßbar, schon früh beachtliche
Gewerbequoten auf: Im frühen 18. Jahrhundert, als die Bevölkerungszahl
aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg noch keineswegs
überall wieder erreicht war, beliefen sich Handwerkerhaushalte auf ein
Viertel und mehr des Gesamtbestandes. Doch handelte es sich hierbei
überwiegend nur um Teilerwerbsplätze in Verbindung mit einer kleinen
Landwirtschaft. Auch hier darf man davon ausgehen, daß wachsender
Bevölkerungsdruck angesichts knapper werdender landwirtschaftlicher
Ressourcen einen Ausweg in handwerklicher und heimgewerblicher Tätigkeit
suchte, vor allem in der Textilproduktion (Spinnen und Weben), die mit der
Herstellung von Wolltuchen im württembergischen Schwarzwald (Calw als
Zentrum) und von Leinwand auf der Schwäbischen Alb Exportartikel
produzierte. Selbst wenn man weitere Tätigkeitsfelder in Fürsten- und
Kirchendienst sowie in Handel und Fuhrgewerbe berücksichtigt,
läßt sich insgesamt eine Arbeitslosenquote von etwa 15 Prozent
errechnen. Das bedeutete in Wirklichkeit die Unterbeschäftigung eines sehr
viel größeren Teils der
Bevölkerung.
Nach dem Gesagten ist es nicht
verwunderlich, daß unter dem wachsenden Bevölkerungsdruck auch die
Einkommens- und Vermögensdisparitäten offensichtlich zunahmen. Die
zeitgenössischen Nachrichten über steigenden Wohlstand und wachsende
Armut widersprechen sich nur auf den ersten Blick, denn vornehmlich die
Verteilung des knappen und begehrten Grundbesitzes bzw. der ihm gegenüber
bestehenden Ansprüche auf Abgaben wie Gülten und Zehnten bestimmte
maßgeblich auch die Einkommens- und Vermögensverteilung. Nur
umfangreicherer Landbesitz sicherte die Eigenversorgung und darüber hinaus
die Chance zu Marktgewinnen, die um so größer waren, je stärker
die Nachfrage infolge der Bevölkerungszunahme wuchs, während die
Löhne zumindest real, teilweise sogar nominal absanken. Der Drang nach
eigenem Landerwerb entsprang dem Bedürfnis, sich soweit wie möglich
aus der riskanten Abhängigkeit von Lebensmittel- und Arbeitsmarkt zu
lösen, er trieb freilich seinerseits wiederum die Preise für Grund und
Boden in zuvor nicht gekannte Höhen und förderte die Verschuldung
breiter Bevölkerungsschichten. Dies war kein Risiko, solange die
Bodenpreise weiter im Steigen begriffen waren; sobald sie allerdings infolge
sinkender Bevölkerung und damit auch sinkender Nahrungsmittelnachfrage
abstürzten, drohte die Verschuldung in Überschuldung umzuschlagen, wie
sich nach dem Dreißigjährigen Krieg zeigen
sollte.
Die ökonomische Gesamtsituation vor
dem Krieg in Württemberg fügt sich weder in das Bild einer
florierenden noch in das einer niedergehenden Wirtschaft. Bei steigendem
Bevölkerungsdruck beinhaltete das vergleichsweise beschränkte absolute
Wirtschaftswachstum freilich in längerfristiger Perspektive wohl ein
sinkendes reales Pro-Kopf-Einkommen. Daran konnten auch Intensivierungsprozesse
wie die Ausweitung des Weinbaues und der exportorientierten Woll- und
Leinenproduktion nichts Grundlegendes ändern. Die Ungleichverteilung von
Einkommen und Vermögen vergrößerte sich unter derartigen
Rahmenbedingungen. Breite Bevölkerungsschichten dürften eine Existenz
geführt haben, die von Unterbeschäftigung, Unterernährung und im
Fall schlechter Ernten von akuter Not und sprunghaft ansteigender Sterblichkeit
geprägt war.
Vor diesem Hintergrund sind die
Kriegsfolgen zu beurteilen. Zunächst stiegen die Steuern in bisher
unbekannte Höhen, und die Einquartierungen durchziehender Truppen mehrten
sich. Die berüchtigte Periode der Kipper und Wipper 1621/22, gekennzeichnet
durch die Produktion minderwertiger Münzen, um den allseits wachsenden
Kriegsbedarf zu finanzieren, blieb zwar weit entfernt von den Wirkungen einer
modernen "großen" Inflation, traf jedoch die lohnabhängigen Schichten
durch Preiserhöhungen beim Getreide auf etwa das Vierfache des bisherigen
Normalstands - das entsprach den Folgen einer schweren Mißernte. Die
unterschiedliche Intensität der Münzverschlechterung verstärkte
das Preisgefälle zwischen benachbarten Regionen und trieb eine
wirtschaftliche Scheinblüte hervor, wie der Anstieg der
württembergischen Zolleinnahmen etwa auf den dreifachen Durchschnitt
belegt. Immerhin suchte die württembergische Regierung durch
Höchstpreisbestimmungen im Land und Exportsperren für Lebensmittel den
drohenden Schaden für die eigene Bevölkerung in Grenzen zu halten;
demselben Ziel diente ihr Bemühen, die Rückzahlung von Schulden mit
schlechtem Geld gesetzlich zu verhindern.
Erst
seit dem Herbst 1634 traf der Krieg mit aller Härte das Herzogtum und
verwandelte es schon während des ersten schweren Einfalls der kaiserlichen
Truppen 1634/35 in eines der Hauptzerstörungsgebiete innerhalb
Deutschlands. Der Einbruch in die Erntearbeiten, die Plünderung fast
sämtlicher Orte des Landes, umfangreiche Fluchtbewegungen der
Bevölkerung, der plötzliche Rückgang des Getreideanbaues bei
kräftiger zusätzlicher und meist nicht bezahlter Nachfrage seitens des
feindlichen Militärs - all dies mündete in eine akute Hungersnot und
verstärkte die Auswirkungen der als "Pest" bezeichneten Seuche(n), die
durch die Armee eingeschleppt und durch Militär und fliehende
Bevölkerung im ganzen Land verbreitet wurde(n). Im Unterschied zu
früheren Seucheneinbrüchen verstärkten sich nun die Wirkungen von
Krieg, Krankheit, Hunger und Bevölkerungsflucht wechselseitig über
einen längeren Zeitraum: Dem katastrophalen Einbruch 1634/35 folgten
zahlreiche Truppendurchzüge, Sommer- und Winterquartiere der verschiedenen
kriegführenden Parteien mit all ihren Bedrängnissen. Die Berichte
lassen längerfristige Wirkungen recht zuverlässig erkennen: 1655
belief sich der Bevölkerungsstand landesweit nur noch auf 43 Prozent
desjenigen aus der Zeit vor der "leidigen Landsoccupation"; die Streubreite nach
Ämtern lag zwischen 69 und 23 Prozent. Die beträchtlichen regionalen
Unterschiede waren Folge unterschiedlich intensiver Kriegseinwirkungen: Orte an
wichtigen Durchgangsstraßen und strategisch bedeutsame Plätze waren
die Hauptleidtragenden, abgelegene Gegenden blieben stärker verschont;
Städte, die durch ihre Mauern vor allem gegen Marodeure und kleine
Militärtrupps besseren Schutz boten, zogen Bevölkerung aus dem
näheren Umfeld an und erschienen daher in geringerem Maße
betroffen.
Weniger die direkten Kriegshandlungen,
sondern vor allem Seuchen und Hunger hatten ein derartiges Massaker unter der
Bevölkerung angerichtet. Diese Tatsache spiegelte sich auch in den
zahlreichen Spuren der Zerstörung, die der Krieg im Lande hinterließ.
So blieb, verglichen mit der Bevölkerung, ein deutlich größerer
Anteil an Gebäuden erhalten, nämlich 57 Prozent, freilich in
erbärmlichem Zustand, da sie infolge längeren Leerstehens verwahrlost
waren oder weil Militär und Zivilbevölkerung sie ausgeschlachtet
hatten, um sich auf bequeme Weise mit Bau- und Brennholz zu
versorgen.
Die landwirtschaftlichen Flächen
wurden, abgesehen vom Weinbau, der nur ca. 40 Prozent des Vorkriegsstandes
erreichte, in sehr viel erheblicherem Umfang wieder genutzt, als es dem
Bevölkerungsschwund entsprach: Die ortsnahen Gärten waren fast
völlig bestellt, die Wiesen zum größten Teil, die Äcker
immerhin zu 58 Prozent. Die Flächenerträge dürften der immer
wieder beklagten Verwilderung zum Trotz kaum unter denjenigen der Vorkriegszeit
gelegen haben, weil jetzt natürlich Grenzböden brach liegenblieben.
Offensichtlich nutzten die Menschen die nun gegebene Chance, die
Anbaufläche zur eigenen Ernährung sowie in Hoffnung auf guten Gewinn
über ihre bisherigen Möglichkeiten hinaus auszudehnen. Da aber auch
die einstigen Absatzgebiete infolge verminderter Bevölkerung den
Eigenbedarf weit besser als früher zu decken vermochten, ließ die
unvermeidlich eintretende Überproduktion die hohen Getreidepreise der
Vorkriegs- wie der Kriegszeit unter die Rentabilitätsgrenze abfallen. Wenn
die Bauern trotz der einhelligen Klagen über die sich weit öffnende
Schere zwischen den abgesackten Getreidepreisen einerseits und den
demgegenüber ungewohnt hohen Löhnen sowie Preisen für gewerbliche
Produkte andererseits nicht versuchten, Kapital und Arbeitskraft vorteilhafter
einzusetzen, so mag das wenigstens zu einem Teil darauf zurückzuführen
sein, daß sich die wirtschaftliche Situation auch in vielen Zweigen des
Handwerks keineswegs besonders günstig gestaltete. Denn die Nachfrage nach
ihren Erzeugnissen mußte maßgeblich von den Landwirten ausgehen,
blieb jedoch angesichts des gesunkenen und schlecht bezahlten Absatzes der
landwirtschaftlichen Produktion entsprechend schwach und beschränkte sich
auf das Allernotwendigste. Vor allem Bauhandwerker und Tagelöhner als
gesuchte Arbeitskräfte profitierten daher von den niedrigen
Getreidepreisen, während die Handwerker anderer Branchen sich wegen
ungenügender Beschäftigung selbst auf Taglöhnerei oder
Landwirtschaft verlegten.
Immerhin standen
offenbar genügend Ackergerät und Zugvieh zur Verfügung, um einen
vergleichsweise umfangreichen Ackerbau zu betreiben. Allerdings mußten die
Bauern sich recht häufig Vieh auf Borg oder als Stellvieh über
größere Entfernungen (z.B. aus dem Elsaß) besorgen. Kapital
blieb knapp. Kapitalmangel trug auch zum Rückgang der Rebkultur bei, zumal
die Preise gerade bei den einfachen Weinsorten verfielen. Der Anbau zog sich
infolgedessen auf die besten Gebiete des Unterlandes zurück, wobei die
Winzer mangels eigener Mittel noch stärker als früher in
Abhängigkeit von Kapitalgebern gerieten, die ihnen mit Blick auf die
nächste Weinlese ausliehen.
Die
Grundversorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln war wegen der starken
Bevölkerungsverluste in den Jahrzehnten nach dem Krieg besser
gewährleistet als vor dem verheerenden Kriegseinbruch. In dieser Hinsicht
wirkte sich der Dreißigjährige Krieg ähnlich aus wie der
katastrophale Einbruch der Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, auch
hinsichtlich der sich verschiebenden Austauschrelationen zwischen agrarischen
Produkten einerseits, gewerblichen Erzeugnissen und menschlicher Arbeitskraft
andererseits. Ansonsten allerdings bestanden zwischen den
Wirtschaftsdepressionen um die Mitte des 14. und der des 17. Jahrhunderts
gravierende Unterschiede: Nach dem Dreißigjährigen Krieg mußte
der Kapitalstock vor allem der Landwirtschaft zu einem großen Teil neu
gebildet werden, gleichzeitig aber ging die gesamte Wirtschaft aus dem Krieg mit
hohen Schuldenlasten und Steuerverpflichtungen hervor. Um die geforderten
Steuern, Brandschatzungen und ähnliches aufbringen zu können, waren
die Landstände, aber auch die Gemeinden und Ämter während des
Krieges immer wieder genötigt gewesen, hohe Kredite aufzunehmen. Dank des
gut eingespielten Kreditsystems vermochten die kriegführenden Parteien
über die augenblickliche Belastungsgrenze hinaus erst künftig
anfallende Erträge aus dem Land zu ziehen. Und da ein beträchtlicher
Teil der Kredite nicht aus dem Inland stammte oder einschlägige
Schuldverschreibungen von ausländischen Interessenten vor allem in der
Schweiz aufgekauft wurden, flossen die entsprechenden Aufwendungen für
Zinsendienst und Tilgungsraten ins Ausland ab und verschärften so den
inländischen Kapitalmangel.
Der Bestand an
Mobilien und Kapital schrumpfte infolge des Kriegs auf einen Bruchteil des
einstigen Wertes. Gleichzeitig sackte der Wert der Immobilien angesichts des
Bevölkerungsrückganges und der entsprechend gesunkenen Nachfrage nach
Wohnraum und Nahrungsmitteln ins Bodenlose: Bei starker regionaler Streuung
dürfte der Preissturz durchschnittlich etwa 75 Prozent des Vorkriegswertes
betragen haben. Einst erträgliche Verschuldung für Grunderwerb schlug
also durch die Einwirkungen des Krieges in massive Überschuldung um, denn
selbst ein nominal gleichbleibender Schuldenstand bedeutete nun eine etwa
vierfach so hohe reale Belastung. Soweit bisher Daten verfügbar sind, lag
die private Pro-Kopf-Verschuldung nach dem Krieg aber selbst nominal über
dem Stand von 1629 und erreichten die Orts- und Amtsschulden
schätzungsweise das Vierfache des damaligen Nominalwertes, während das
versteuerte Gültkapital nur noch ein Viertel des Standes von 1629 betrug.
Nimmt man dies alles zusammen, so liegt der Schluß auf der Hand, daß
die reale Verschuldung (gemessen an den damaligen Immobilienpreisen) insgesamt
auf wenigstens das Vierfache angestiegen
war.
Diese knappen und recht abstrakten Aussagen
könnten mit einer Fülle von Einzelheiten, welche die Berichte der
Ämter liefern, farbiger und differenzierter ausgemalt werden. Bewertet
waren die betreffenden Angaben gewöhnlich aus der Perspektive derer, denen
es vor dem Krieg besser gegangen war, aus der Sicht der wohlhabenderen Bauern
und Bürger. Von daher ertönte fast stereotyp die Klage über den
Verfall der Getreidepreise und die gestiegenen Kosten für Lohn- und
Handwerkerarbeit, so daß sich die Landwirtschaft kaum noch lohne, und
ebenso regelmäßig wiederholte sich das Jammern über die
Einbuße früherer ergiebiger Erwerbsquellen - des Verkaufs von
Schiffsholz nach Holland, von Brenn- und Nutzholz innerhalb des Landes, des
rentablen Absatzes von Wein, des Fuhrwerks zum Transport von Holz und Wein, des
zusätzlichen Gewinns aus dem Obstbau, während jetzt die
Fruchtbäume zum großen Teil abgeholzt seien, des Betreibens
profitabler Viehzucht, um wenigstens das Wichtigste zu
nennen.
Es lag nahe, daß die herzogliche
Regierung vor allem diesen Bevölkerungsgruppen aufzuhelfen suchte, die als
tragende Stütze des Wohlstandes im Lande galten. Der Wiederaufbau der
Landwirtschaft war zweifellos der wichtigste Ansatzpunkt, um die
ökonomische Stagnation der Nachkriegsperiode zu durchbrechen. Den
größten Effekt konnte die Regierung durch Abbau bestehender
Belastungen erzielen. Beliebige Handlungsspielräume standen ihr hierbei
freilich kaum zur Verfügung. Im Rahmen der Steuererhebung suchten Herzog
und Landstände die regionalen Ungleichheiten der Belastung auszugleichen
und Handel und Gewerbe stärker als bisher zur Kasse zu bitten. Wichtiger
noch waren Maßnahmen, die Verschuldung des Grundbesitzes so weit wie
möglich in ein angemessenes Verhältnis zum gesunkenen Wert zu setzen,
denn nur dann durfte man mit einer rascheren Wiederbesiedlung des Landes
rechnen: Solange bürgerliche Niederlassung mit der Übernahme hoher
Kriegsfolgelasten in Gestalt von Schulden und Steuern verbunden war, mußte
es Zuwanderern vorteilhafter erscheinen, zunächst nicht seßhaft zu
werden, sondern nur die eigene Arbeitskraft zu vergleichsweise hohem Preis zu
vermarkten. Die Gemeinden aber verzichteten fast durchweg auf die Besteuerung
der neuen Bewohner, weil sie andernfalls deren Abzug befürchteten. Einen
rigorosen Schuldenabbau hat Württemberg freilich nicht in die Wege
geleitet. Die Tilgung von 75 Prozent der aufgelaufenen Zinsrückstände
war reichsrechtlich begründet. Für den württembergischen
Steuerzahler war es von Bedeutung, daß es der württembergischen
Landschaft in einem Vergleich mit ihren Gläubigern gelang, deren
Ansprüche und damit auch die ihnen gegenüber zu leistenden Zins- und
Rückzahlungsverbindlichkeiten auf die Hälfte zu mindern. Aber auch
dann noch verharrte die Steuerlast selbst nominal gegenüber der
Vorkriegszeit etwa auf dem doppelten, umgerechnet auf den Kopf der
Bevölkerung sogar auf annähernd dem vierfachen
Stand.
Wohl noch wirksamer waren die private
Bereinigung von Schuldverpflichtungen und Gläubigeransprüchen und die
Klärung von Besitzrechten an verlassenem Grund und Boden. Die Schulden
wurden hierbei auf dem Wege des Vergleichs gewöhnlich auf ein Drittel als
Obergrenze reduziert. Eine weitergehende Umverteilung, die zu spürbarer
Konzentration des Grundbesitzes geführt und die überkommene
Agrarverfassung in Frage gestellt hätte, wurde auf diese Weise von
vornherein vermieden.
Sonstige Versuche der
Regierung, die Position der Landwirtschaft auf dem Arbeitsmarkt und beim Absatz
ihrer Produkte zu verbessern, erwiesen sich als nicht sonderlich erfolgreich:
Die zahlreichen Taxordnungen, die unter Hinweis auf "christliche Billigkeit" und
"christliche Liebe" den Preis für Lohnarbeit und Handwerksleistungen
zugunsten der Landwirtschaft abzusenken bemüht waren, konnten die
ökonomische Wirklichkeit nicht in dem gewünschten Maße steuern.
Dasselbe galt für die freilich erst 1672 amtlich erfolgte Festsetzung von
Mindestpreisen für Getreide. Auch die Abwehr "ausländischer" Produkte,
um die Nachfrage so weit wie möglich auf inländische Erzeugnisse
umzulenken, dürfte nicht allzu viel erbracht haben. Luxus- und
Kleiderordnungen oder Importsperren, besonders bei Textilien und bei Wein,
griffen kaum sonderlich wirksam in das Marktgeschehen
ein.
Die sich nach dem Krieg verstärkenden
Ansätze zu einer merkantilistisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik zielten
nicht über die tradierte Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus.
Die Höhe der Grundabgaben blieb, soweit erkennbar, in vollem Umfang
erhalten, die gewährten Freijahre bei der Neubestellung wüstliegender
Güter hielten sich in äußerst bescheidenen
Größenordnungen. Einer rascheren Wiederbesiedlung des Landes stand
das gewiß ebenso im Wege wie die mangelnde Bereitschaft,
großzügig religiöse Toleranz walten zu lassen. Anders als z.B.
der Pfälzer Kurfürst Karl Ludwig verzichtete Württemberg damit
auf das wirksamste Instrumentarium einer erfolgreichen Einwanderungspolitik,
denn die Hauptmasse der Zuwanderer nach Südwestdeutschland stammte aus den
katholischen und reformierten Alpenländern, aus Tirol, Bayern und vor allem
aus der Schweiz; angesichts der eingeschränkten Aufenthaltserlaubnis
für Nicht-Lutheraner aber fand sie nur zögernd den Weg in das
Herzogtum. Das durchaus beachtliche Bevölkerungswachstum von
durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr zwischen 1652 und 1678 erklärt sich
überwiegend aus dem hohen Geborenenüberschuß der
Nachkriegsjahrzehnte, der den Anteil der Kinder und Jugendlichen im Alter bis zu
14 oder 15 Jahren auf Werte zwischen 40 und 50 Prozent der
Gesamtbevölkerung steigen ließ.
Der
Dreißigjährige Krieg hat in Württemberg wie andernorts neue
Tatbestände und auch Möglichkeiten auf dem Feld der Wirtschaft
geschaffen. Offensichtlich wäre es zu einfach, ihm ohne Wenn und Aber die
Vernichtung einer vorangehenden wirtschaftlichen Blüte anzulasten;
dafür zeigten die damaligen ökonomischen Gegebenheiten unter dem Druck
des Bevölkerungswachstums zu deutliche Zeichen der Anspannung, ja teilweise
der Überspannung. Daß der Krieg selbst einen verheerenden Einbruch in
den damals erreichten beachtlichen Stand der materiellen Kultur darstellte und
daß er sich selbst aus deren Substanz so lange ernähren konnte, ist
unzweifelhaft. Aber ihm folgte keine langanhaltende Periode des wirtschaftlichen
Niedergangs oder der Stagnation, sondern eher eine Periode des mühsamen
ökonomischen Wiederaufbaues. Wenn dieser Aufbauprozeß im späten
17. und frühen 18. Jahrhundert durch die Kriege mit dem Frankreich Ludwigs
XIV. freilich recht nachhaltig unterbrochen und verzögert wurde, so ist
dies zu einem guten Teil auf die politisch-militärischen Konstellationen
zurückzuführen, die wiederum der Dreißigjährige Krieg durch
Schwächung der Reichsorganisation bei gleichzeitigem Ausbau der
französischen Machtposition im Elsaß und am Oberrhein für den
deutschen Südwesten geschaffen
hat.