DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft |
GEORG SCHMIDT Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichsstaats |
Der Westfälische
Friedenskongreß in Münster und Osnabrück gehört zu den
Ereignissen, denen das kulturelle Gedächtnis einen eher bescheidenen Platz
auf der imaginären Skala deutscher Erinnerungsorte einräumt. Der
Öffentlichkeit gilt er noch immer als Symbol machtpolitischer Schwäche
und Zersplitterung, nicht als das hoffnungsverheißende Ende eines langen
und zerstörerischen Krieges [1] und schon gar nicht als ein
zäh verteidigtes Grundgesetz, das die deutsche Staatlichkeit weit
länger als alle nachfolgenden Verfassungsordnungen geprägt hat. Das
negative Image des Westfälischen Friedens entspringt den Vorstellungswelten
des souveränen nationalen Machtstaats - mithin dem 19. Jahrhundert. Die
Zeit scheint reif, diese Einschätzungen im Lichte offenerer
Integrationsmodelle zu prüfen. Gefragt wird deswegen nach den Inhalten
eines Vertrages, dessen Entstehen zwar Diplomaten fast aller europäischen
Länder miterlebten, dessen Regelungen sich jedoch weit überwiegend auf
Deutschland bezogen.
Der Friede war inständig
herbeigesehnt worden, und er wurde gefeiert - ad hoc, auf landesherrliche
Verordnung, jährlich wiederkehrend. [2] Der Vertrag mit seinen
Bestimmungen über Amnestie und Entschädigungen, Verfassungsstrukturen
und Konfessionsverhältnisse schrieb eine für das Reich dauerhaft
geltende Ordnung fest. [3] Er wurde Teil des folgenden Reichsabschieds
und der Wahlkapitulationen. [4] Der Friede galt überall dort als
Grundgesetz ("perpetua lex et pragmatica imperii sanctio" [5]), wo der
Kaiser mit seinen Vorrechten und als Symbol der Reichseinheit anerkannt wurde,
wo die Reichsgerichte wirkten und wo die Reichsstände ihre
Zugehörigkeit dadurch dokumentierten, daß sie sich an Reichs- und
Kreistagen wie an den Reichssteuern beteiligten. Dieses engere, politisch
zusammenarbeitende Reich ist deutlich kleiner als der fortbestehende
Lehnsverband des mittelalterlichen Reiches. Es ähnelt in seinen Konturen
dem heutigen Deutschland. Oberitalien, die Eidgenossen, die Niederlande und
weite Teil des burgundischen Reichskreises zählten nicht zu dieser
formierten Handlungseinheit, die erst mit der Konfessionalisierung
Niederdeutschland flächendeckend integriert hatte. [6] Böhmen
und seine Nebenländer standen eher am Rande, auch wenn sie über die
Habsburger mit der Reichspolitik eng verflochten
waren. [7]
Um das engere "deutsche" Reich
als ein konzentriertes Verfassungsgefüge mit dem Reichstag als Zentrum vom
locker geknüpften Lehnsverband "Reich" abzusetzen, um komplizierte
Umschreibungen zu vermeiden und um dessen föderal organisierte
Gesamtstaatlichkeit anzudeuten, wird hier der Begriff "komplementärer
Reichs-Staat" eingeführt. Er kennzeichnet in gewisser Weise den gleichen
Sachverhalt wie Peter Moraws "Reichstags-Deutschland", bringt aber stärker
den neuzeitlichen Aspekt staatlicher Formierung und Konzentration zum Ausdruck.
Im Unterschied zu allen Anspruchs- und Expansionsvorstellungen, die in der
gängigen Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" oder
dem auch in den Quellen nach 1648 immer häufiger anzutreffenden "Deutschen
Reich" mitschwingen, werden derartige ungewollte Assoziationen mit dem Terminus
"Reichs-Staat" vermieden. Der Zusatz "komplementär" verdeutlicht, daß
es sich dabei um ein System gestufter, sich ergänzender Staatlichkeit
handelt - auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Reichweiten.
Kaiser, Reichsstände, Korporationen, Kreise und Bündnisse konnten und
haben sich zu zielgerichteter Handlungsfähigkeit ergänzt. Es ist die
wechselseitige Abhängigkeit von Haupt und Gliedern, die
verfassungsmäßig geregelte Staatlichkeit, die als
"komplementärer Reichs-Staat" neu akzentuiert werden
soll.
Der Westfälische Frieden hat dieses
engere Reich nicht zertrümmert, sondern seine föderale Einheit neu
bestätigt. [8] Deutsche und ausländische Zeitgenossen haben
diese auf Verfassung und nicht auf Macht basierende Staatlichkeit selten
generell in Frage gestellt. Sie versuchten, ihre Besonderheiten zu begreifen -
auch bereits mit dem in Analogie zum Fürstenstaat gebildeten Terminus
"Reichs-Staat". "Reichs-Staat oder Reichs-Staats-Verfassung, Status Imperii
Romano-Germanici Publicus, ist eigentlich nichts anders, als die
Verhältniß des darzu gehörigen Ober-Haupts und Glieder, das ist,
Sr. Kayserlichen Majestät und sämtlichen Churfürsten,
Fürsten und Stände, gegen und unter einander [...]" [9]
Freilich war diese Staatlichkeit weder exklusiv noch allumfassend, sondern bezog
sich nur auf Belange, die von Kaiser und Reich einvernehmlich geregelt werden
mußten: Fragen des Rechts, des inneren Friedens und der
Außenverteidigung.
Das Grundgesetz
Westfälischer Friede bot dafür eine neue Verankerung. Es regelte die
Beziehungen zwischen Kaiser und Reichsständen, Amnestie und
Entschädigungen sowie den Umgang mit den drei reichsrechtlich legitimierten
Konfessionen. Vor 1800 gehörte der Friede als Fundament deutscher
Staatlichkeit zum Zentralbestand des kulturellen Gedächtnisses - auch wenn
er nur in den evangelischen Gebieten mit Friedensfesten gewürdigt wurde.
Johann Gottfried von Meiern, der zwischen 1734 und 1736 die Kongreßakten
herausgab, urteilte: "So große Ursachen nun das gesamte Deutsche Reich und
Vaterland hat, diesen Frieden-Schluß, wordurch die Religion und der Staat
in demselben, zu einer beständigen Ordnung, Sicherheit und Ruhe ist erhaben
worden, als ein Göttliches Gnaden-Geschenck zu verehren, auch selbigen als
das heiligste Gesetz und Grund-Veste seiner äusserlichen
Glückseeligkeit anzusehen, so gegründet ist auch die Pflicht und
Schuldigkeit eines jeden patriotisch gesinneten Deutschen, den Zweck seiner
Wünsche darinnen bestehen zu lassen, daß nie ein Tüttel oder
Buchstabe von diesem herrlichen Gesetz vergehen [...]" möge. [10]
Für Johann Jacob Schmauß war der Friede "das Band, wodurch die Ruhe
des teutschen Reichs und die Freundschaft zwischen Catholischen und Protestanten
aufrecht erhalten wird." [11]
Bei den
Beratungen über die kaiserlichen Wahlkapitulationen oder den Verhandlungen
in den einzelnen Kurien des Regensburger Reichstags bildete das
Reichsgrundgesetz Westfälischer Friede die alles entscheidende Richtschnur.
Ein anonymer deutscher Patriot, der 1789 die "deutsche Freiheit" mit der
"ganze(n) deutsche(n) Nation" mit "alle(n) Theile(n), Glieder(n) und
Stände(n)" identifizierte, urteilte allerdings zu euphorisch: "Seit jener
glücklichen Epoche des Westphälischen Friedens, wo dieses heilsame,
halb monarchische und halb aristokratische Regierungssystem gegründet
wurde, haben die blutigen Auftritte unter Deutschlands Kaisern und Fürsten
aufgehört; von jener Zeit an herrscht allgemeine Sicherheit, Ruhe und
Frieden im Vaterlande: und die gedeihlichsten Folgen davon, als
Bevölkerung, Industrie, Kultur, Aufklärung etc. sind aller Orten
sichtbar." [12] Friedrich Schiller hielt den Frieden von 1648 für
"das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und
Leidenschaft [...]". [13] So wie diese Autoren empfanden Literaten,
Akademiker und Fürsten, denen das deutsche Verfassungsgefüge trotz
seiner offensichtlichen Mängel als eine im großen und ganzen
glückliche, harmonische, angemessene und verteidigungswerte Grundordnung
galt. [14] Sie sahen in dem scheinbaren Chaos von Neben-, Unter- und
Überordnung staatlicher und staatsähnlicher Gewalten ein System
gegenseitiger Machtkontrolle, einen wirksamen Schutz vor Willkürherrschaft
und einen Garanten für Frieden, Recht und gesetzmäßige Freiheit:
Reichspatriotismus ist
Verfassungspatriotismus.
Dem Ende des Alten
Reiches folgte ein radikaler Meinungsumschwung. Unter dem Eindruck
nationalstaatlicher Zielsetzungen geriet im 19. Jahrhundert das Reich - und
damit auch der Westfälische Frieden - zum Dekadenzmodell [15]: vom
(deutschen) Staat des hohen Mittelalters zur machtlosen Kleinstaaterei der
Frühen Neuzeit. Die denunziatorische Abwertung sollte jedes
Wiederanknüpfen an diese Form des Nicht-Machtstaates ausschließen.
Die vorgebliche Mission Preußens zur Schaffung eines deutschen
Nationalstaates wurde hier vorbereitet und später legitimiert. "Aus dem
Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien hob sich der
junge preußische Staat empor. Von ihm ging fortan das politische Leben
Deutschlands aus." Heinrich von Treitschke war lediglich der wortgewaltigste
Interpret einer in preußischer Perspektive wahrgenommenen deutschen
Geschichte. Die Reichsverfassung erschien ihm rückblickend "wie ein
wohldurchdachtes System, ersonnen, um die gewaltigen Kräfte des
waffenfrohesten der Völker künstlich
niederzudrücken." [16] Der Westfälische Frieden wurde nun als
ein von fremden Mächten diktierter Vertrag wahrgenommen, der Deutschland
nicht nur Gebietsverluste gebracht, sondern auch seine Entwicklung zum
Nationalstaat blockiert hatte.
Besonders die
Garantiemächte - Frankreich und Schweden - waren den auf nationalstaatliche
Souveränität fixierten Historikern des 19. Jahrhunderts suspekt. Die
wie vieles andere wenig eindeutig formulierten Vertragsklauseln [17]
sprechen jedoch lediglich unter bestimmten Bedingungen von einer Schutz- und
Beistandspflicht der vertragschließenden Parteien ("omnes huius
transactionis consortes") gegenüber jedem, der in seinen aus dem
Friedensvertrag herrührenden Rechten beeinträchtigt wird. Letztlich
erlaubte diese Formel, auch alle Reichsstände - wie von Schweden
gewünscht - oder überhaupt alle Beteiligten - wie von Frankreich
gefordert - als Garantiemächte zu verstehen. Der Kaiser hatte dem
allerdings stets vehement widersprochen, und Artikel XVII, Paragraph 6 (IPO)
gibt ihm insofern recht, als die Gerichtsrechte und die jedem Stand zustehende
richterliche Gewalt ausdrücklich ausgenommen
werden. [18]
Die Garantie führte
nicht zum Eingreifen fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des
Reiches. Obwohl Ludwig XIV. von Frankreich diese Klausel im diplomatischen
Verkehr hochspielte und als Druckmittel nutzte, hat er sie nie angewandt.
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg ließ 1673 auf dem
Regensburger Reichstag die französische Interpretation entschieden
zurückweisen, daß der Westfälische Friede es den
Reichsständen verbiete, einem Feind der Krone Frankreichs beizustehen. Er
appellierte an den als "Vater des Vatterlandes" bezeichneten Kaiser und an das
Reich, endlich entschiedener gegen den französischen Aggressor
vorzugehen. [19] Ludwig XIV. hätte sich zudem bei einem
Rückgriff auf die Garantieklausel mit Schweden, aber auch mit dem Kaiser,
der meist vergessenen dritten Garantiemacht, verständigen müssen:
für seine Eroberungsfeldzüge wie für die Reunionspolitik eine
denkbar schlechte Voraussetzung. Französische Juristen fanden andere
Begründungen. Frankreich beteiligte sich beispielsweise am ersten
Rheinbund, um größeren Einfluß in Deutschland zu gewinnen, als
ihm die Garantieklausel gewährte. [20] Welche Rückwirkungen
diese dennoch auf die Verhaltensdispositionen von Kaiser und Reichsständen
besessen hat, müßte näher untersucht
werden.
Wie langlebig Vorstellungen von
auswärtigem Interventionsdruck und staatlicher Zersplitterung gewesen sind,
zeigen noch die Arbeiten Fritz Dickmanns. Trotz leidvoller Erfahrungen mit der
spezifisch deutschen Variante des nationalen Machtstaates war er 1959 der
Ansicht: "Der Frieden bedeutete für unser Volk ein nationales Unglück
und für das Heilige Römische Reich, in dem es bis dahin seine
staatliche Form gefunden hatte, den Anfang der tödlichen Krankheit, der es
schließlich erlag." [21] An anderer Stelle notierte er 1965: "Was
dem Reich an Hoheitsrechten und politischer Macht verloren ging, fiel den
Einzelstaaten zu, sie allein hatten noch eine Zukunft, das Reich war zum
Absterben verurteilt; das Reich hörte auf, Staat zu sein, alle politischen
Energien sammelten sich in den Territorien, insbesondere in den
größeren unter ihnen, die von nun an allein noch den Namen "Staat"
verdienen." [22]
Wenn Dickmanns
Einschätzung richtig ist, wenn der Friede den Fürsten tatsächlich
die "Souveränität" gewährte [23] und er für das
Reich "mehr zerstörend als aufbauend" wirkte [24], wäre
verständlich, warum ihm die Nation kein Denkmal gesetzt hat. Münster
und Osnabrück sind erst anläßlich der Jubiläen im
ausgehenden 19. Jahrhundert zu Erinnerungsorten gemacht worden. Man feierte dort
eher abstrakt einen Frieden und nicht die Verfassung des vormodernen deutschen
Staats. 1998 steht das Gedenken im Zeichen Europas. Damit scheinen die
Schwierigkeiten der Deutschen mit ihrem Frieden umgangen, und es wird eine
zukunftsträchtige integrierende Perspektive gewonnen: vom Diktat fremder
Mächte zur europäischen Friedensordnung. Als europäische
Erinnerungsorte können Münster und Osnabrück aber nur bestehen,
wenn die konkreten Ergebnisse weniger als die Verfahren und die sie tragenden
Wertvorstellungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Nicht das
Friedensgebiet, sondern die Friedensfindung war europäisch. Sie wies die
Richtung für ein künftiges europäisches Staatensystem auf der
Basis von Souveränität und diplomatischer
Gleichrangigkeit. [25] Die deutschen Stände oder Frankreich wollten
jedoch die Kriege des spanischen Königs nicht in die Verhandlungen
einbezogen sehen [26], und der Münsteraner Friede zwischen Spanien
und der Republik der Niederlande läßt sich auch als ein eher
zufälliges Ergebnis bestimmter Verhandlungskonstellationen
verstehen. [27] Die Regelungen für Oberitalien, Savoyen und den
burgundischen Reichskreis [28] waren lediglich so etwas wie Optionen auf
Frieden, denn der Krieg zwischen Frankreich und Spanien ging ungehindert
weiter.
Der Westfälische Friede ist eine
Friedensordnung für den Reichs-Staat unter Einschluß Böhmens
sowie für die Niederlande und die Eidgenossenschaft, die als souverän
anerkannt werden. Er gab dem Reich deutscher Nation eine neue, wenn auch wenig
veränderte Verfassungsordnung. Ferdinand III. hatte sich dagegen gewehrt,
daß die Osnabrücker Verhandlungen zum Verfassungskongreß
mutierten. Die auswärtigen Kronen sollten nicht über die
Reichsangelegenheiten mitentscheiden, die er statt dessen auf dem Frankfurter
Deputations- oder einem neuen Reichstag behandelt sehen wollte. Doch mit der
Zulassung der Reichsstände waren die Würfel gefallen. In den am 11.
Juni 1645 übergebenen Friedensbedingungen der beiden Kronen bildete die
Ausgestaltung der Reichsverfassung einen zentralen Bereich. "Teutsche
libertät", ständische Eigenstaatlichkeit und Garantien gegen ein
künftiges "kaiserliches dominat" lauteten ihre Hauptforderungen. Die
kaiserliche Politik sollte an die Zustimmung der Reichsstände gebunden
werden. [29] Während Ferdinand III. sich weiterhin sperrte,
verdeutlichten die Schweden im Januar 1646, daß es ohne bindende
Übereinkunft zur Reichsverfassung keinen Frieden geben werde. "So
hätten die Nachbarn, als welche ihres Staats Sicherheit, auf des
Römischen Reichs unperturbirten Staat und dessen Aequilibrium fundireten,
nicht minder als die Deutschen selbst, große Ursachen darüber zu
arbeiten, und es dahin zu verhelffen, daß der Staat des Römischen
Reichs gegründet und auf die Constitutiones des Reichs reduciret, auch zu
vorigem Herkommen hinwieder gebracht werden
möcht." [30]
Die
Kongreßteilnehmer kannten die Auffassungen eines Bogislaw Philipp von
Chemnitz, der unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide 1640 die Staatsräson
des Reiches an die Bewahrung seiner Verfassung geknüpft hatte. Da die
übermächtig gewordene Habsburger Kaiserdynastie gegen Räson und
Verfassung des Reiches permanent verstoße, müsse sie aus dem Reich
verbannt werden. Nur so sei Despotismus zu vermeiden und ein stabiles
Gleichgewicht auf der Grundlage der deutschen Freiheit zu erreichen. In
Anlehnung an Bodin sah Chemnitz das Reich als reine Aristokratie: Nicht der an
die Reichsgrundgesetze gebundene Kaiser, sondern die auf dem Reichstag
versammelten Reichsstände stehen über dem positiven Recht: Sie sind
der Reichsgesetzgeber. Der Kaiser ist nur primus inter
pares. [31]
Chemnitz argumentierte
noch ganz unter dem Eindruck des Prager Friedens von 1635. [32] Sein
Verfassungspatriotismus stand nicht - wie ihm häufig vorgeworfen wird - im
Dienste fremder Mächte, sondern entsprang radikalen reichsständischen
Positionen, wie sie schon im Vorfeld der Schmalkaldischen
Bundesgründung [33] und immer dann geäußert worden
waren, wenn ein monarchisches System drohte. Zwar wollte der
Friedenskongreß die Habsburger nicht verbannen, wohl aber ihre Kompetenzen
festlegen. In diesem Sinne hat die anonyme Schrift ihre Wirkung nicht verfehlt.
Der Friedensvertrag stellte die Territorialstaaten auf eine gesicherte
Rechtsbasis und gilt als "Magna Charta der deutschen
Landesfürsten". [34] Er hat jedoch weder die staatliche
Zersplitterung noch den fürstlichen Absolutismus hervorgebracht. Beides
basiert auf älteren Entwicklungen. Die in Artikel VIII des Osnabrücker
Vertrags zusammengefaßten Bestimmungen zum Verhältnis von Kaiser und
Ständen schrieben in erster Linie die Ordnungen fest, die sich im 16.
Jahrhundert eingespielt und im großen und ganzen auch bewährt hatten.
Unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Verfassungskrise um 1600 und
dem kaiserlichen Übergewicht, das sich besonders im Restitutionsedikt von
1629 und im Prager Frieden zeigte [35], wurde das Reich auf der Basis
von Bewährtem und Machbarem pragmatisch neu
geordnet.
Damit über die Verfassung ("in
statu politico") kein Streit entstehe, erhielten alle Kurfürsten,
Fürsten und Stände die Landeshoheit ("ius territoriale" bzw. "ius
territorii et superioritatis" [36] ) sowie das Bündnisrecht
verbrieft. Daß damit gerade nicht Souveränität als höchste
Gewalt im Sinne Bodins gemeint war, ergibt sich aus dem Kontext. Das
zusammenfassende "ius territoriale" [37] steht im Friedensvertrag mitten
in einer Aufzählung von Ansprüchen, die die Reichsstände auch
schon im 16. Jahrhundert wahrnahmen, und die ihnen nun bestätigt wurden:
alte Rechte, Prärogativen, Freiheiten, Privilegien,
Botmäßigkeiten und Regalien. Der Kaiser hatte dies schnell akzeptiert
- im Gegensatz zum stets zurückgewiesenen
Souveränitätsbegriff. [38] Reichsrittern sowie den Freien und
Reichsstädten wurden ähnliche Rechte garantiert. [39] Da die
Reichsstände nur über die Landeshoheit verfügten, wurden die
Konsequenzen des Bündnisrechts weit
überschätzt. [40]
Der Friede
machte aus den deutschen Ständen keine Völkerrechtssubjekte, die als
souveräne Staaten im europäischen Mächtekonzert agieren konnten.
Dies gelang nur Österreich und Brandenburg-Preußen. Den
Reichsständen räumte der Vertrag lediglich ein Bündnisrecht unter
sich und mit Auswärtigen zu ihrem eigenen Schutz und ihrer Sicherheit ein.
Die Verbindung durfte sich aber nicht gegen Kaiser und Reich, den diesen
geleisteten Treueeid, den Landfrieden oder den Westfälischen Frieden
richten. Reichsfreundliches Verhalten blieb verfassungsrechtlich vorgeschrieben.
Bündnisse waren - wie selbst der Reichshofrat meinte - Reichsherkommen,
ihre ausdrückliche Erlaubnis 1648 nur die Revision ihres Verbotes im Prager
Frieden. Einungen und Korporationen hatten seit dem Spätmittelalter
geholfen, die staatlichen Defizite des Reichs auszugleichen und die innere
Sicherheit durchzusetzen. "Der wesentlichste Unterschied zwischen der
höchsten Gewalt einer unabhängigen Macht und der Landeshoheit eines
Teutschen Reichsstandes bestehet unstreitig darin, daß sie noch einer
höhern Gewalt, wie sie theils vom Kaiser alleine, theils von Kaiser und
Reich ausgeübet wird, untergeordnet ist, jene hingegen gar keine
menschliche höhere Gewalt über sich
erkennet." [41]
Der Reichstag blieb
Koordinationsforum der Reichspolitik. Die hier versammelten Stände der
deutschen Nation mußten dem Erlaß oder der Auslegung von Gesetzen,
Werbungen sowie Entscheidungen über Krieg und Frieden, Einquartierungen und
Abgaben zustimmen. Daß die Rechte der deutschen Stände von anderer
Qualität waren als diejenigen der französischen Parlamente, hatte die
auf Gleichbehandlung dringende kaiserliche Gesandtschaft schon im Zuge der
Kongreßzulassungen erfahren müssen. [42] Die auch vor 1648
vom Reichstag beanspruchten Partizipationsrechte gingen aber keineswegs auf die
einzelnen Stände über [43], sondern wurden dem
Ständecorpus insgesamt garantiert. Binnen sechs Monaten sollte ein
Reichstag stattfinden, um die Gebietsabtretungen an Frankreich zu
ratifizieren [44], Verfahrensmängel zu beseitigen und einen
römischen König zu wählen. Zudem mußten eine
beständige Wahlkapitulation, Polizei- und Justizreformen sowie über
das Vorgehen bei Achterklärungen beschlossen, die Reichskreise und die
Reichsmatrikel erneuert, die Zusammensetzung des ordentlichen Deputationstags
und die Aufgaben der Direktorien in den Reichskollegien festgelegt
werden. [45] Dieses Programm wurde nie realisiert. Kurfürst Johann
Georg von Sachsen urteilte darüber 1651, daß nicht nur der
kaiserlichen Autorität im Friedenschluß "fast hart und schwer zu nahe
getretten", sondern auch die kurfürstliche "praeeminenz [...] in einem und
anderm ziemblich angezapfft und mercklich verschnitten" worden
sei. [46]
Der nächste Reichstag trat
1653/54 in Regensburg zusammen und sollte der letzte sein, der mit einem
regulären Abschied endete. [47] Er enthält wichtige
Bestimmungen "zum Justiz-Werck, ohne welches kein Reich in Ordentlichem
friedlichen Wesen erhalten werden kann [...]" [48] und zum
Schuldenproblem. Die alten Exekutionsordnungen wurden neuerlich
eingeschärft und ein allgemeines Besteuerungsrecht der Fürsten zum
Zwecke der Landesverteidigung definiert - auch gegenüber den
Landständen. Über alle anderen 1648 zurückgestellten Punkte
("negotia remissa") gelang keine Einigung. Der folgende Reichstag wurde
darüber zum immerwährenden.
Das ewige
Reichsverfassungsgesetz Westfälischer Friede war den anderen Grundgesetzen
("constitutiones fundamentales imperii") gleichrangig und durch den Vertrag
selbst jeder einseitigen Änderung entzogen. [49] Es entsprang einer
vertragsmäßigen Übereinkunft des Kaisers mit den deutschen
Ständen unter Assistenz der auswärtigen Kronen und regelte wie die
Goldene Bulle, die Land- und Religionsfrieden, die Exekutions-, Kammergerichts-
und Reichshofratsordnungen oder die jeweils jüngste Wahlkapitulation die
verfassungsmäßige Ordnung des Reichs-Staates. Johann Jacob Moser
nannte Reichsgrundgesetze "eine solche Verordnung, ohne welche der Staat von
Teutschland nicht so wäre, als er würklich
ist." [50]
Daß die Reichsstände
während des Friedenskongresses auch mit Blick auf das Ganze handelten, wird
besonders bei den Religionsbestimmungen deutlich. Praktisch entzogen sie sich
selbst ihr Recht zur Festlegung einer verbindlichen Landeskonfession. Zwar
bestätigte Artikel V den Augsburger Religionsfrieden, die Zusatz- und
Ergänzungsbestimmungen setzten das landesherrliche ius reformandi
jedoch zugunsten der auf den 1. Januar 1624 festgelegten Normaljahrsregelung
außer Kraft. Nach Artikel VII durfte ein konvertierter Landesherr seine
Untertanen nicht mehr zum Konfessionswechsel zwingen. Sonderregelungen sorgten
dafür, daß der Kurfürst von der Pfalz neben der neugeschaffenen
achten Kur auch die Erlaubnis erhielt, die Rheinpfalz auf den Stand von 1618 zu
restituieren, also das reformierte Bekenntnis neuerlich
einzuführen [51], und daß in den habsburgischen Ländern
das Prinzip des "cuius regio, eius religio" erhalten blieb - nur in Schlesien
und Niederösterreich mußten Protestanten geduldet
werden. [52]
Die im Frieden festgelegte
prinzipielle Gleichrangigkeit von lutherischem, reformiertem und katholischem
Bekenntnis auf Reichsebene blieb auch für die Territorien nicht ohne
Folgen. Artikel V zwang mit den Paragraphen 31 bis 37 alle Reichsstände zur
gestuften Duldung der beiden anderen Bekenntnisse, sofern diese schon 1624
bestanden hatten [53]: Die private Religionsausübung ("exercitium
privatum") mit Bethaus und Privatprediger mußte dann gestattet werden.
Selbst dort, wo 1624 keine andere Konfession geduldet worden war, wurde allen
Untertanen die Hausandacht ("devotio domestica"), die vollständige
Gewissensfreiheit und der auswärtige Gottesdienstbesuch zugesichert. Der
Landesherr konnte sie jedoch nach wie vor - unter Wahrung einer Frist von
mindestens drei Jahren - zur Auswanderung
zwingen.
Duldung und Gewissensfreiheit stehen in
Deutschland am Beginn des Toleranzgedankens. Sie waren hier aber nicht nur
unverbindliches Wertmuster, sondern einklagbare Rechtsnorm. Es wundert daher
nicht, daß Johann Jacob Moser die freie Religionsausübung zu den
individuellen Grundrechten jedes Deutschen zählt. [54]
Gegenüber dem Augsburger Religionsfrieden brachten die neuen Regelungen
eine drastische Reduzierung des Konfliktpotentials und eine gewisse
Rechtssicherheit für die Untertanen und die Kirchentümer. Einer
expansiven Konfessionspolitik, die um 1600 das Klima im Reich so nachhaltig
belastet hatte, waren die Grundlagen
entzogen.
Spektakulärster Ausdruck der neuen
konfessionellen Gleichheit war das Verbot von Mehrheitsentscheidungen auf dem
Reichstag bei religiös bedingtem Streit. Er sollte durch gütlichen
Vergleich der in zwei gleichberechtigten Korpora vereinigten Konfessionsparteien
ausgeräumt werden. [55] Am Reichskammergericht mit seiner
Fastparität - die katholischen Stände und der Kaiser
präsentierten 26 Assessoren, die protestantischen 24 - und selbst am
Reichshofrat galten im Konfliktfall ähnliche Regelungen. [56] Man
wollte Extrempositionen vermeiden und die Konfessionsparteien in das
Reichsverfassungsgefüge einbinden. Der heilsame Zwang zum Kompromiß,
der die Entscheidungsfindungen im Reichs-Staat ohnehin auszeichnete, wurde hier
auf die Spitze getrieben. Der Osnabrücker Verfassungsgeber versuchte, aus
den Erfahrungen der Zeit um 1600 zu lernen, konstruierte darüber jedoch
Regelungen, die leicht zur völligen Verfassungsblockade hätten
führen können. Um das verbleibende Übergewicht der Katholiken auf
dem Reichstag auszumanövrieren, mußten die Protestanten nur die
konfessionellen Hintergründe des jeweiligen Konflikts
betonen.
Friedrich der Große hat versucht,
mit dieser Bestimmung vor allem im Siebenjährigen Krieg Politik zu machen
bzw. zu verhindern. [57] Haug-Moritz spricht von einer
"Rekonfessionalisierung der Reichspolitik" [58], Aretin hat ihr
widersprochen. [59] Tatsächlich setzte sich die restriktive
kaiserlich-katholische Interpretation durch. Das Verfahren wurde nur in sehr
wenigen Fällen angewandt. Man verglich sich im Vorfeld oder verzichtete auf
eine Entscheidung, die das Reichsverfassungsgefüge zum Einsturz hätte
bringen können. Die Möglichkeit einer Aufteilung des Reichstags in
zwei konfessionelle Corpora gehörte dennoch zur Wirklichkeit des
späten Reichs. Insgesamt hat der Westfälische Frieden die Folgen der
Konfessionskonflikte jedoch weitgehend säkularisiert und dadurch
entschärft. Der Osnabrücker Verfassungsgeber schuf hier neues
Verfassungsrecht, während er ansonsten das Verhältnis von Kaiser und
Reichsständen auf der Basis des Herkömmlichen, Notwendigen und
Machbaren regelte.
Voraussetzung für das
Funktionieren des komplementären Reichs-Staates blieb ein Minimalkonsens
aller Beteiligten: der Wille, pragmatisch zusammenzuarbeiten und dieses
vergleichsweise komplizierte Verfassungsgefüge zu erhalten. Die 1648
vorangetriebene Verrechtlichung des Staatlichen sicherte zudem den Status quo
und verhinderte sowohl die Annexion kleinerer Reichsstände durch
größere als auch despotische Regierungsformen in den Territorien.
"Souverän" war lediglich der komplementäre Reichs-Staat, das
Verfassungsgefüge insgesamt, nicht sein Oberhaupt und nicht seine Glieder.
Dies erinnert ein wenig an das englische Prinzip des "King in Parliament", auch
wenn die englische Variante weit durchsetzungsfähiger war und von einer
Einheitlichkeit der Staatsgewalt in Deutschland meist keine Rede sein
kann.
Die Reichsstaatsrechtslehre vermochte dieses
zusammengesetzte Staatsgefüge, bei dem sich die unterschiedlichen
Handlungsebenen zu einem Ganzen fügten, nur schwer zu klassifizieren: dem
"monstro simile" Pufendorfs [60] ließ der ältere Moser sein
"Teutschland wird auf teutsch regiert" folgen. [61] Limnaeus machte aus
der Herrschersouveränität Bodins diejenige der staatlichen
Gemeinschaft: Während die Reichsstände die "maiestas realis"
ausübten, gebühre die davon abzuleitende "maiestas personalis" dem
Kaiser als Organ des Reiches. [62] Sah Chemnitz (Lapide) im Reich eine
reine Aristokratie, bezeichnete es Reinkingk wegen der vielfältigen
kaiserlichen Rechte als Monarchie. [63] Beide Positionen bilden
Polstellen in einem breiten Meinungsspektrum. Mehrheitlich setzte sich die
status-mixtus-Lehre durch: eine gemischte Regierungsform aus Monarchie und
Aristokratie. [64] Einige Publizisten meinten darüber hinaus - vor
allem mit Blick auf die Reichsstädte - oligarchische und demokratische
Züge zu erkennen. Moser kommentierte: "Aber, wenn man auch dieses
weißt, ist man so klug als zuvor, und hat doch keinen hinlänglichen
Begriff von der teutschen
Staatsverfassung". [65]
Der
komplementäre Reichs-Staat funktionierte teilweise wie eine begrenzte
Monarchie und teilweise wie ein Staatenbund - "eine nicht wenig komplizierte
Staatsverfassung, die dem Teutschen Reiche in ihrer Art ganz eigen ist [...] ein
Reich, das aus mehreren besonderen, jedoch einer gemeinsamen, höheren
Gewalt noch untergeordneten Staaten bestehet." [66] Der Reichs-Staat
organisierte Außenverteidigung und Rechtssystem, die Kreise vor allem
Exekutionswesen und Infrastruktur, die Territorialstaaten Verwaltung und
Disziplinierung der Untertanen. In Wien betonte der Prinzenerzieher auch noch im
18. Jahrhundert: "Nichtsdestoweniger ist das Deutsche Reich noch in kein Systema
Civitatum zerfallen, sondern nur ein einziger Staat [...], wo die
majestätischen Rechte teils von dem Kaiser allein und teils mit
Genehmhaltung der Kurfürsten, in den mehresten Fällen aber mit
Vorwissen und Bewilligung aller Reichsstände insgesamt ausgeübt
werden." [67]
Die Reichsstände
bildeten mit dem Kaiser den Reichs-Staat, indem sie zusammen übergreifende
Gesetze erließen und das gemeinsame politische Wollen definierten. Sie
übten jedoch auch einzeln staatliche Gewalt in ihren jeweiligen
Obrigkeitsbereichen aus. Veit Ludwig von Seckendorffs "Teutscher Fürsten
Stat", die weit verbreitete Anleitung einer fürstlichen Landesherrschaft
nach dem Westfälischen Frieden, nennt als Einschränkungen der
Landeshoheit: alte Verträge, aus dem Naturrecht abzuleitende Ansprüche
der Untertanen, die Privilegien der Landstände, die Pflicht zur Duldung der
drei reichsrechtlich legitimierten Bekenntnisse [68] und insbesondere
die Gehorsamspflicht gegenüber "Kaiser und Reich". [69] Der
Fürst muß Reichsgesetze verkünden und seine Normsetzungen daran
orientieren. Zur "Erhaltung der gemeinen Reichs-Ruhe und Wolfahrt" ist es "gantz
unentbehrlich, daß das Band und Harmonie zwischen Oberhaupt und Gliedern
des Reichs von tag zu tag vielmehr gestärcket als geschwächet
werde". [70] Schon das Titelkupfer verweist auf diesen Zusammenhang: Der
Reichsadler schwebt über dem Fürstenstaat - eine Meßlatte
kennzeichnet den erlaubten
Abstand. [71]
In den meisten Fällen
übernahmen die Reichsstände schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse
die Reichsgesetze, modifizierten sie allerdings. Selbst Kurfürsten und
Fürsten konnten sich gerade bei der Ordnungsgesetzgebung koordiniertem
Vorgehen auf Reichs- oder Kreisebene kaum entziehen: Polizei-, Münz-,
Gewerbe- oder Gesindeordnungen erreichten die gewünschte vereinheitlichende
und disziplinierende Wirkung nur dann, wenn ihr Geltungsbereich nicht an den
Landesgrenzen endete. Zudem resultierten die Rahmenregelungen des Reichs aus
einem Konsens von Kaiser und Ständen. Eine ständische Mehrheit hatte
ihnen zugestimmt und dabei sehr genau darauf geachtet, daß die eigene
Landeshoheit nicht mehr als unbedingt erforderlich tangiert wurde. Karl
Härter hat am Beispiel der Polizeigesetzgebung gezeigt, wie wenig die
gängige Formel - "macht- und wirkungsloses Reich auf der einen,
souveräne, in der Polizeygesetzgebung erfolgreiche Territorialstaaten auf
der anderen Seite" - der historischen Realität entspricht. [72]
Landes- und Reichsordnungen standen in einem ähnlich komplementären
Verhältnis wie Fürsten- und
Reichs-Staat.
Das Reichsgrundgesetz von 1648 hat
über anderthalb Jahrhunderte geholfen, die Mitte Europas als wahrnehmbare
staatliche Einheit in der Vielheit zusammenzuhalten. Es hat definierend und
integrierend gewirkt. Wer diese Ordnung anerkannte oder anerkennen mußte,
gehörte zum Reichs-Staat, der von den Alpen bis an die Küsten der
Nord- und Ostsee reichte. Als erbliche Landesherren und als Korpora auf dem
Reichstag verfügten die Reichsstände über eine
Schlüsselstellung bei der Definition vormoderner deutscher Staatlichkeit.
Es ist jedoch ein prinzipielles Mißverständnis der langen Diskussion
um die Staatlichkeit des Reiches, daß man diese nach den allzu simplen
Kriterien eines "Null-Summen-Spiels" beurteilt: "Was dem Reich an Hoheitsrechten
und politischer Macht verloren ging, fiel den Einzelstaaten zu
[...]". [73] Im politischen Kräftefeld gilt keineswegs, daß
der Gewinn eines Akteurs auf Kosten eines anderen gehen muß. Der
Westfälische Frieden verschob zwar die Gewichte im Balancesystem "Kaiser
und Reich(sstände)" zugunsten der letzteren, doch dies änderte wenig
an der traditionellen Rollenverteilung: Die einzelnen staatlichen Ebenen
konkurrierten selten miteinander, sondern ergänzten sich meist im Sinne der
Komplementarität. Staatlichkeit im Reich war nie exklusiv. [74]
Österreich und Brandenburg-Preußen agierten als europäische
Großmächte außerhalb dieser Ordnung. Doch auch sie sprengten
das Reich aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht, obwohl sie immer wieder
gegen dessen Verfassungsprinzipien
verstießen.
Ob das strukturbedingt nicht
angriffsfähige Reich ein Staat war, bleibt eine Definitionsfrage. Auch wenn
der komplementäre Reichs-Staat die Kriterien eines National-, Macht- oder
Steuerstaates nicht unbedingt erfüllte, war er doch ein politisch
zielgerichtet handlungsfähiges System mit kaiserlicher Spitze - ein Staat.
Selbst der Dreiklang des völkerrechtlichen Staatsbegriffes - eine
Staatsgewalt, ein Staatsgebiet und ein Staatsvolk -, der stärker den
Nationalstaat des 19. Jahrhunderts als die Verbindung staatlicher und
überstaatlicher Ordnungsgefüge widerspiegelt, läßt sich im
komplementären Reichs-Staat erkennen: keine einheitliche Gewalt, aber doch
ein abgrenzbares Gebiet und eine Bevölkerung, deren Mitglieder sich
zumindest in der Fremde als Deutsche fühlten [75], auch wenn im
Reichs-Staat selbst andere Zugehörigkeitsempfindungen
dominierten.
Man kann die komplementäre und
zusammengesetzte Staatlichkeit des Alten Reiches als Partikularismus und
Kleinstaaterei abtun. Obwohl diese Position in der Forschung längst
überwunden ist [76], entspricht sie dem gängigen
Geschichtsbild. Man kann aber auch - und dies scheint heute aus vielen
Gründen naheliegend - auf die zahlreichen Zentren von Wissenschaft und
Kultur, die vielfältigen Formen der Kontrolle und der Begrenzung von
Herrschaft, die einklagbare Gewissensfreiheit oder den Föderalismus als
zentrales Bestimmungselement deutscher und künftig wohl auch
europäischer Staatlichkeit verweisen. [77] Der komplementäre
Reichs-Staat wird dadurch zur historischen Alternative zum nationalen
Machtstaat. Steht der Westfälische Frieden aber nicht mehr für ein
fremdgesteuertes, Deutschland marginalisierendes Vertragsdiktat, sondern
für eine gelungene föderative Integration, und steht der Kongreß
insgesamt für die Wertvorstellung eines friedlichen Mit- und Nebeneinanders
der Konfessionen und der europäischen Staaten auf der Basis von
Gleichrangigkeit und Souveränität, ist Münster und Osnabrück
ein herausragender Platz als deutscher und europäischer Erinnerungsort
gewiß.