DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur |
KLAUS GARBER Krieg und Frieden - Dogmatismus und Toleranz in der Literatur des europäischen Humanismus [1] |
I. Erasmus' "Klage des Friedens" als
humanistisches Vermächtnis
"Du verlangst
leidenschaftlich den Krieg? Betrachte erst einmal, was der Friede ist und was
der Krieg, was der Friede an Gutem und was der Krieg an Unheil bringt, und dann
berechne, ob es von Nutzen ist, den Frieden mit dem Krieg zu vertauschen. Wenn
etwas bewundernswert ist, dann ein Land, in dem alles gedeiht, mit
wohlgegründeten Städten, gut bestellten Feldern, mit sehr guten
Gesetzen, mit angesehenen Wissenschaften, mit Anstand und geheiligtem Brauch;
überlege: Das Glück muß ich zerstören, wenn ich Krieg
führe! Und das Gegenstück: Wenn du einmal die Ruinen der Städte,
zerstörte Dörfer, ausgebrannte Kirchen, verlassene Felder, dieses
beklagenswerte Schauspiel, gesehen hast, dann bedenke, daß das die Frucht
des Krieges ist." [2]
So äußert
sich der Fürst der Humanisten in dem wohl bekanntesten Text zum
Friedensgedanken aus dem Umkreis der europäischen Humanisten: Erasmus in
der "Klage des Friedens" aus dem Jahr 1517 - dem Jahr, in dem Luther der Legende
nach seine 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg hämmerte! Der
Anlaß war ein aktueller. In Cambrai sollte eine internationale
Friedens-Konferenz stattfinden. Erasmus, damals schon ein berühmter Mann,
wurde von dem jungen Herzog von Burgund, dem späteren Kaiser Karl V.,
gebeten, eine Rede zu dem Ereignis vorzubereiten. Natürlich gelang es den
Politikern nicht, eine Lösung zu finden. Das Werk des Erasmus aber
überdauerte die Zeiten. Denn es widmet sich einem zeitlosen Thema. Und es
ist so angelegt, daß Generationen über Generationen sich in ihm
wiedererkennen und Argumente gegen den Wahnsinn des Krieges darin finden
konnten. Was ist es, das der kleinen, immer wieder aufgelegten und
übersetzten Schrift ihre Aktualität bis heute
sichert? [3]
Zunächst - noch vor
allen Argumenten - ihre Form. Erasmus war Gelehrter und zugleich doch Publizist.
Er wollte wirken mit dem, was er schrieb. Also galt es, immer auch zu
überlegen, welche Fasson dem gewählten Thema am angemessensten war.
Für seine Friedensschrift wählte er die Form einer Rede. Damit war von
vornherein klargestellt, daß es nicht um akademische Debatten und
Definitionen gehen konnte. Behaupten und begründen ließ sich
schließlich alles und jedes. Es sollte aber überzeugt, es sollten
Wirkungen hervorgerufen und Veränderungen im Denken und Fühlen der
Menschen bewirkt, ihr Handeln selbst auf ein neues Fundament gestellt werden.
Der Form der Rede ist diese aufrüttelnde, auffordernde, zum Handeln
geleitende Funktion seit ihren ersten Anfängen bei den Sophisten in
Griechenland eigen. Erasmus aber ging weiter. Nicht er spricht, sondern der
Friede selbst - oder genauer: die Göttin Frieden. Denn als Göttin war
sie in der Antike, wohin alle Spuren stets zurückführen, erstmals
aufgetreten. Im Bündnis mit Ordnung (Eunomia) und Gerechtigkeit (Dike)
erscheint die Göttin des Friedens, die blühende Eirene, in Hesiods
"Theogonie" aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Zu dritt hegen und
pflegen sie als "Horen" die Werke der Sterblichen. Horen verweisen auf
Jahreszeiten, auf die immer gleiche Abfolge allen Geschehens in der Natur, auf
Ordnung und Gesetzmäßigkeit. So sind natürliche und menschliche
Welt in allen großen Friedens-Entwürfen von frühester Zeit an
parallel geführt. Frieden ist nur als umfassender denkbar. Indem Erasmus
die Göttin selbst sprechen läßt, verleiht er seinen eigenen
Worten als den ihrigen Verbindlichkeit, Würde und unumstößliche
Gewißheit.
Warum aber ist es eine Klage, die
da im Preis des Friedens laut wird? Weil der Gedanke an die unendlichen
Segnungen des Friedens untrennbar ist von dem Erschaudern über die von
keiner Phantasie auszumalenden Greuel des Krieges. Realist, der Erasmus
zeitlebens war, vermochte er sein Auge nicht abzuwenden von dem, was gerade auch
zu seiner Zeit im Herzen Europas, inmitten einer sich christlich nennenden Welt
geschah. Aus dem Munde der Friedensgöttin kann aber das, was er sah und ihr
in den Mund legte, nur als abgründige Klage ertönen. Der feine
Ironiker, der Meister der changierenden Töne, er hat, indem er seine Stimme
der Göttin lieh, einen Rollenwechsel vollzogen. In der Rede der Göttin
gibt es keine spielerischen Rochaden, keine von humanistischem Witz
imprägnierten Andeutungen und Anspielungen. In ergreifender Eindeutigkeit
und tiefem Wissen, in abgründiger Trauer und in nicht versiegender Hoffnung
artikuliert sich hier eine Stimme, die als göttliche zugleich ganz
menschlich ist. Darin gleicht sie derjenigen, auf die sie sich am meisten
berufen wird: derjenigen Jesu Christi. Die antike Friedensgöttin und der
göttliche Friedenshirt im einvernehmlichen Bündnis unter der Regie des
großen Humanisten - sollte in dieser Konstellation nicht vielleicht die
Wirkung beschlossen liegen, welche die Klagerede bis heute auszulösen
imstande ist? Als eindrucksvolle Kundgebung europäischer Geistigkeit im
werdenden Europa muß sie am Anfang unserer kleinen Betrachtung
stehen.
Sie ist wie jede herausragende
Schöpfung gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung. Gut 20 Jahre
reichten hin, um den Humanisten, wenn dies denn noch nicht geschehen war, die
Augen zu öffnen für das, was da auf der Ebene der Politik sich
anbahnte und meilenweit entfernt war von dem, was ihnen vorschwebte. Man
vergesse nicht, neben Erasmus steht Machiavelli, der Zeuge der gleichen
Ereignisse in seinem Heimatland war und sich nun anschickte, auf andere Weise
als Erasmus weit in die Zukunft weisende Folgerungen aus ihnen zu
ziehen. [4] Wir haben uns angewöhnt, das 16. Jahrhundert, oder
genauer: seine erste Hälfte, das Zeitalter eines Raffael, Leonardo,
Michelangelo, als das Goldene Zeitalter der Künste und Wissenschaften, als
den Inbegriff der Renaissance-Kultur anzusehen. Wir vergessen darüber nur
allzu leicht, daß es genau die Zeit ist, in der die Heimat dieser
großen Künstler zum Spielball auswärtiger Mächte und
Interessen herabsank. Das klassische Jahrhundert - wenn nicht der Renaissance,
so doch des Humanismus -, verstanden als umfassende Aneignung der Antike, ist
zumindest auf italienischem Boden, wo für mehr als drei Jahrhunderte alles
in die Moderne weisende anhob, nicht das 16., sondern das 15. Jahrhundert, das
Quattrocento. [5] In dessen zweiter Hälfte hatten sich fünf
führende Mächte herausgebildet - Venedig, Mailand, Florenz, Rom und
Neapel -, unter denen seit dem Frieden von Lodi (1454) eine Atempause herrschte,
kaum gestört durch auswärtige Interventionen. Es ist die Zeit, da die
Florentiner Kultur unter den Medici blühte, Ficino und die Florentiner
Akademie den großen Versuch einer Erneuerung des platonischen und
neuplatonischen Denkens unternahmen, griechische, byzantinische, arabische,
christliche Elemente in einer ersten großen Synthese des modernen Geistes
- wahrhaft einem Friedenswerk! - zusammengeschmolzen wurden, die Zeit der
großen Drucker mit Manutius in Venedig an der Spitze, die Zeit der wie
Pilze aus dem Boden schießenden Akademien, in denen das neue Wissen
verarbeitet und für repräsentative Zwecke in Stadt und Fürstentum
hergerichtet wurde, die sich mit dem Schmuck der erneuerten Antike zierten und
herrschaftlich von ihr profitierten.
Mit diesem
relativen Frieden war es schlagartig vorbei, als Karl VIII. von Frankreich alte
Rechte der Anjou im Süden Italiens geltend machte, 1494 in Italien einfiel
und sich in Neapel festsetzte. [6] Eine der vielen Folgen dieses
Überfalls war die zeitweilige Vertreibung der Medici aus Florenz, die sich
genau wie das Haus Aragon in Neapel als Förderer der neuen Künste
besonders profiliert hatten. Glaubt man aber, daß die Konkurrenten
Frankreichs diesem Machtgewinn tatenlos zugesehen hätten? Schnell war eine
"Heilige Liga" unter Führung Spaniens gezimmert, und schon ein Jahr
später mußte Karl den Rückzug antreten. Und nun begann,
unterbrochen von Phasen "heiliger" Friedensschlüsse und neuer "heiliger
Allianzen", ein nicht endendes Tauziehen um einflußreiche Positionen der
Großmächte auf der Apennin-Halbinsel, der Wiege von Renaissance und
Humanismus. Spanien, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, seit 1519
unter Karl V. in Personalunion vereint, der Papst waren immer dabei, und die
einst stolzen italienischen Republiken und Fürstentümer ständig
wechselnde Koalitionspartner und mehr Spielball denn autonome Spieler in einem
nicht mehr kalkulierbaren Spiel. Jetzt erlebte Fortuna, die
Glücksgöttin, ihren eigentlichen Aufstieg. 1516 regten sich
kurzfristig Hoffnungen auf Frieden, als Franz I. von Frankreich und Karl V. die
Einflußsphären im Norden und Süden Italiens unter sich
abgesteckt hatten. Sie verflogen rasch. Wenige Jahre später wurde Rom das
Opfer wildwütiger deutscher Landsknechte unter Georg von Frundsberg.
Kirchen, Kunstschätze, Bibliotheken gingen in einem Bildersturm zugrunde.
Schaudernd gewahrten Erasmus und seine Freunde die Zerstörung einer
kulturellen Blüte in der "Sacco di Roma" (1527), und alle Versuche Karls
V., den auf ihn gefallenen Makel zu verwischen, blieben vergeblich. Erst 30
Jahre später fand das blutige Ringen zwischen Spanien und Frankreich im
Frieden von Cateau-Cambrésis 1559 sein Ende. Erasmus war lange tot. Aber
die Anfänge der Kirchenspaltung auf deutschem Boden, aus denen alsbald der
Schmalkaldische Krieg erwachsen sollte, hatten er und seine Generations-Genossen
ebenso miterlebt wie das Erwachen der nackten nationalen Expansions-Politik. Sie
wurde auf der Wende zum 16. Jahrhundert von den beiden fortgeschrittensten
Monarchien Europas ein erstes Mal in großem Stil exekutiert und ließ
Europa seither nicht wieder zur Ruhe kommen, bis es schließlich in zwei
Weltkriegen unseres Jahrhunderts in Trümmern versank
...
Das also der Hintergrund auch der "Querela
Pacis" des Erasmus. Langandauernde Wirkungen pflegen Texte zu entfalten, die ein
vielfältiges, weit auseinanderliegendes und sehr oft sogar
auseinanderstrebendes Angebot der geistigen Tradition in einem dichten Gewebe
zusammenzuziehen vermögen. [7] Darin war Erasmus ein Meister, ohne
je darüber der Gefahr des Opportunismus zu unterliegen. Zusammenschau,
Synopsis des europäischen Denkens war nicht nur ein Gebot der Stunde, um
die Hitzköpfe zu beschwichtigen und ihnen unverdrossen ein Gemeinsames vor
Augen zu führen. Es war selbst ein Akt geistiger Friedensstiftung im
Prozeß des Schreibens und Redens. Zwei Aufgaben waren Erasmus wie allen
wirklich originellen Köpfen bewußt: Vermittlung der antiken mit der
christlichen Vorstellungswelt und Ermittlung der für alle Christen
verbindlichen essentials der Botschaft der Bibel. Genau so sehen wir
Erasmus auch in seiner "Klage des Friedens" verfahren. Zunächst mustert er
die Argumente für den Frieden, die dem Bereich der Natur entstammen und
zumeist in der antiken Philosophie behandelt und dann in der Renaissance wieder
aufgenommen worden sind; dann geht er dazu über, Person und Lehre Jesu
Christi zu befragen. Am Ende vermag er festzustellen, daß alle
geprüften Zeugnisse einhellig für den Frieden sprechen, alle also
Anteil haben an der Wahrheit, alle also wert sind, in Erinnerung gehalten und
geehrt zu werden. Sie sind so geartet, daß Menschen verschiedenster
Herkunft und Überzeugung sich leicht über sie verständigen
können müßten.
Das erhabene
Beispiel für Harmonie war für die Denker der Renaissance die im Makro-
wie im Mikrokosmos herrschende Ordnung und Gesetzmäßigkeit.
Entsprechend steht es auch bei Erasmus an allererster Stelle. "So viele
Himmelskörper gibt es, und ihre Bahnen sind nicht dieselben, und ihre
Wirkungskraft ist nicht die gleiche, dennoch gibt es für sie Gesetze, die
schon seit Ewigkeit gelten. Die einander bekämpfenden Kräfte der
Elemente bewahren durch ihr Gleichgewicht einen ewigen Frieden, und trotz der
großen Spannung pflegen sie durch Abgestimmtsein und gegenseitigen
Austausch die Eintracht." [8] Die Natur also im Größten wie
im Kleinsten bewerkstelligt das Grundgesetz allen Seins, Auseinanderstreben und
Widersachertum mit Eintracht und Ausgleich in einem höheren Dritten, dem
Frieden, zu verbinden. Sie ist damit Lehrmeisterin der Menschen, die sich nur zu
ihrer Anschauung erheben brauchten, um die Elementaria auch ihres Daseins darin
symbolisch vorgebildet zu finden. Und so beeilt sich Erasmus denn auch,
ungezählte Beispiele aus dem Bereich der Natur beizubringen, um das eine
aus ihnen zu entnehmen: Durch alle vorgetragenen "Argumente lehrt die Natur
Frieden und Eintracht, durch viele Lockungen fordert sie dazu auf, durch viele
Bande führt sie dazu hin, durch vieles zwingt sie
dazu." [9]
Den Menschen Europas und
alsbald auch der Neuen Welt steht darüber hinaus aber ein weiteres Zeugnis
zur Verfügung, das sie eindringlich lehrt, Frieden zu wahren: dasjenige
Christi. Erasmus hat nichts getan, um ihm den besonderen Charakter einer
Offenbarung beizulegen. Es spricht für sich selbst, bedarf nicht des
Herausgehobenwerdens und wird beglaubigt durch das Tun dessen, der es
verkündet. Das ist wichtig. Denn obgleich Erasmus es nicht ausspricht, ist
dadurch doch indirekt bedeutet, was Aufklärer wie Lessing später in
großem Stil entfalten werden: Christi Stimme ist eine unter mehreren der
großen Religionsstifter. Sie alle konvergieren in einem Gemeinsamen: Liebe
und Versöhnung. Letztlich kommt es überhaupt gar nicht auf die Lehren,
sondern auf die Verhaltensweisen an; sie erst stellen unter Beweis, welcher
Glaube der wahre, sprich der das Leben umgestaltende ist. Gilt aber das, was
Erasmus aus der Botschaft Christi seine Friedensgöttin zitieren
läßt, im Grunde doch schon für alle Menschen, wieviel mehr
müßte es dazu angetan sein, diejenigen, die sich ausdrücklich
Christen nennen, zu verbinden. Dogmatische Differenzen, verschiedenartige
Akzentuierungen des Glaubens - sie mögen immer ihre relative Berechtigung
haben, aber sie dürfen Menschen, Christen, über ihnen den Frieden
brechen, sich unversöhnlich zerstreiten, mit Haß verfolgen. Indem
Erasmus also die einzige schlichte Operation der Statuierung weniger zum Frieden
geleitender christlicher Grundsätze vornimmt, hat er parallel zu dem ersten
öffentlichen Auftreten Luthers sogleich unmißverständlich
festgestellt, daß es Krieg, Terror, Verfolgung um der Lehre Christi willen
nicht geben darf und geben kann, weil diese eindeutig und klar und verpflichtend
in ihren wenigen leitenden Aussagen ist. Sie alle laufen in der Trias Liebe,
Eintracht, Frieden als dem höchsten Gut der christlichen Lehre zusammen.
Wie aber sieht es in praxi unter den Menschen aus, die sich mit dem Namen
Christi zieren? Hören wir noch einmal das Wort der verzweifelt unter den
Menschen nach ihren Segnungen Ausschau haltenden Gestalt des
Friedens:
"Wenn ich das Wort 'Mensch' höre,
laufe ich schnell hin wie zu einem vorzugsweise für mich geborenen
Lebewesen, voll Vertrauen, daß ich dort Ruhe finden könnte. Wenn ich
das Wort 'christlich' höre, eile ich noch schneller herbei, voll Hoffnung,
daß ich bei diesen Menschen gewiß werde herrschen können. Aber
gerade da muß ich leider voll Scham sagen: Marktplätze,
Gerichtshallen, Rathäuser und Kirchen dröhnen so vom Streit wie
nirgends bei den Heiden." [10] Schlimmer als bei den Christen kann es
auch bei den Heiden nicht zugehen. Im Gegenteil, sie beschämen die Christen
und sind damit offensichtlich im Besitz einer Religion, die zwar weniger
anspruchsvoll auftreten mag, dafür aber mehr Macht über die
Gläubigen besitzt, womit indirekt und unausgesprochen den Christen allemal
das Recht aberkannt ist, sich zu Kreuzzügen, Missionsreisen, geistlichen
Eroberungs- und Überwältigungstourneen aufzumachen, solange es im
eigenen Haus so ausschaut, wie Erasmus es mit den Augen seiner Friedensfigur
allen seinen Hörern und Lesern vergegenwärtigt. In den Städten
und an den Fürstenhöfen Zwietracht, obgleich doch gerade die
Fürsten "Geist und Auge des Volkes" sein sollten, indem sie dem ersten
"Lehrer und Fürsten des Friedens", Jesus Christus, nacheifern. [11]
Unter den Gelehrten, den Philosophen und Theologen an der Spitze,
unerbittlicher, bis zur körperlichen Auseinandersetzung führender
Kampf und Streit. Unter den Priestern und Bischöfen, unter den einzelnen
Orden und innerhalb der Ordensgemeinschaften selbst, in den Klöstern, aber
auch in den Häusern der Familien, unter den Eheleuten und Blutsverwandten,
ja noch in der Seele des einzelnen Menschen - wohin die Friedensgöttin auch
blickt, gewahrt sie Formen des Lebens, die den Titel "christlich" nicht für
sich beanspruchen dürfen.
Denn was ist
Christus, was fordert er von den Seinen? "Wenn man sein gesamtes Leben
betrachtet, was ist es anderes als eine Lehre der Eintracht und der
gegenseitigen Liebe? Was prägen seine Lehre, seine Gleichnisse anderes ein
als den Frieden, als gegenseitige Liebe? Als jener große Prophet Isaias,
vom Heiligen Geiste erfüllt, verkündete, daß Christus als der
große Versöhner aller Dinge kommen werde, nennt er ihn da etwa einen
Satrapen oder einen Städtezerstörer oder einen Kriegsherrn oder einen
Triumphator? Keineswegs. Was also? Einen Friedensfürsten. [...] Er ist ein
Friedensfürst, er liebt den Frieden und er wird durch Zwietracht
gekränkt." [12] Wie aber ist es denn möglich, daß Gott
zumal im Alten Testament als ein "Gott der Heerscharen", als ein "Gott der
Rache" tituliert wird? Darauf hat Erasmus zwei Antworten bereit. Zunächst
bekennt er sich dazu, daß es in der Tat Unterschiede zwischen dem Bilde
Gottes im Alten und im Neuen Testament gibt. Vor allem aber möge man sich
daran gewöhnen, wie es schon die großen Kirchenväter des
Altertums hielten, dem verborgenen Sinn des göttlichen Wortes nachzusinnen.
Denn gilt der Aufruf zum Kampf nicht zunächst jedem einzelnen, den Streit
mit Laster und Sünde aufzunehmen, die "gottlosen Leidenschaften aus dem
Herzen zu reißen"? [13] Überwältigend aber stimmen Altes
und Neues Testament überein in der Botschaft vollkommener Seligkeit als der
des Friedens. "Sooft die Heilige Schrift die vollkommene Seligkeit bezeichnet,
verkündigt sie sie mit dem Wort des Friedens. Wie Isaias sagt: 'Mein Volk
wird in der Herrlichkeit des Friedens wohnen'. Und ein anderer sagt: 'Frieden
über Israel.' Isaias rühmt 'die Füße derer, die den Frieden
verkünden, die eine gute Nachricht bringen'. Wer immer Christus
verkündet, verkündet den Frieden. Wer immer Krieg verkündet,
verkündet den Widersacher Christi. [...] Deshalb wollte er, daß
Salomon sein Urbild sei, der Friedensstifter genannt wird. So groß David
auch war, wurde ihm dennoch nicht gestattet, das Haus des Herrn zu erbauen; weil
er ein Krieger war, weil er mit Blut bespritzt war, verdiente er nicht, in
dieser Hinsicht das Urbild Christi, des Friedensstifters,
darzustellen." [14]
Verstehen wir also das
Anliegen des Erasmus, das so aktuell geblieben ist wie seit eh und je? Er legt
denjenigen das Handwerk, die da begierig darauf aus sind, einen Keil zwischen
Juden und Christen zu treiben. Altes und Neues Testament koinzidieren im
Entscheidenden, in der Heils- als Friedens-Botschaft. Aber auch die Differenzen
unter den Christen lösen sich in nichtiges Menschenwerk auf, betrachtet im
zugleich hellen und doch milden Licht der Worte und des Lebens Christi.
Rückkehrend nach guter humanistischer Manier zu den Quellen, geben diese -
mit offenen Ohren vernommen - eine Wahrheit preis, die ebenso schlicht wie
radikal, ebenso besonders wie allumfassend, ebenso Verstand wie Gefühl
eines jeden Menschen anrührend und befriedigend ist. Es ist, Erasmus hat es
am Schluß gesagt, im Grunde nicht mehr die Botschaft einer bestimmten
Religion, sondern die der Humanität, der "humanitas" selbst, in der alle
Menschen aller Glaubensrichtungen sich wiederzufinden
vermögen. [15] Ist dem aber so, daß sie umfassende
Verbindlichkeit erheischt, dann wandelt sie sich zugleich zu einer
untrüglichen Sonde der Kritik. Und als solche wird sie von Erasmus
gehandhabt. Gemessen an einem auf den schlichten Kern der Bergpredigt
reduzierten Christentum mußten sich die christlich verfaßten Staaten
Europas aus dem Munde des Fürsten unter den Humanisten die bittersten
Wahrheiten anhören. Bald standen die spanische und italienische
Übersetzung auf dem Index. Die Kirche bekundete dem Werk damit die Ehre,
die ihm bis heute gebührt, nämlich kompromiß- und schonungslos
die heillose Differenz zwischen Worten und Taten, Anspruch und Wirklichkeit im
Leben der Menschen wie den Verlautbarungen der Staaten hervorzukehren.
Schlechter, abstrakter, hoffnungslos überzogener Moralismus,
wirklichkeitsfremde Utopie, wie immer wieder und bis heute zu hören? Nein,
sondern konsequente Artikulation eines Neuen und Unverbrauchten an der Scheide
zwischen einer alten und einer neuen Zeit, den alten abgelebten Gewalten und
Einrichtungen mutig den Kampf ansagend, einem neuen reineren Leben ebenso mutig
den Weg bahnend, so steht die "Querela Pacis" wie das gesamte Werk des Erasmus
vor uns.
II. Die Humanisten in den
entfesselten europäischen
Bürgerkriegen
Eine landläufige
Vorstellung, auch in seriösen geschichtlichen Darstellungen immer wieder
anzutreffen, besagt, daß mit dem Auftreten des Erasmus der Humanismus
seinen Zenit erreicht und noch zu seinen Lebzeiten der Abstieg eingesetzt habe.
Die Führungsrolle sei an die Reformatoren übergegangen, welche die
Herzen in ihren Bann gerissen hätten. Schicksal des Humanismus sei
indessen, zumal auf deutschem Boden, geblieben, zunehmend zu erstarren, sich in
Scholastizismen zu gefallen, gegen die man einst doch gerade angetreten sei, und
darüber den Kontakt zum Leben, zu den Problemen der Zeit zu verlieren. Es
wird noch langer Fristen bedürfen, so müssen wir befürchten, bis
eine gegenteilige Erkenntnis sich endlich durchgesetzt haben wird. Wir
können nicht mehr tun, als geduldig immer erneut zu zeigen, wie verkehrt
diese Sicht der Dinge gleichermaßen im deutschen wie im europäischen
Maßstab sich ausnimmt. Der Rückgang zu den Ursprüngen ist auch
deshalb so wichtig, weil nur so deutlich wird, wie anfängliche Impulse sich
erhalten haben, aufgenommen, produktiv umgeformt und den Bedingungen der Zeit
angepaßt wurden. Will man ein Paradoxon wagen, so darf man sagen - und hat
es gesagt -, daß erst mit dem Weltereignis der Reformation auch der
Humanismus zu seiner eigentlichen geschichtlichen Bewährungsprobe
aufgerufen war. [16] Und das in vielerlei Hinsicht. Zur Bewährung
nämlich seiner an der Antike gebildeten Überzeugungen, wo diese im
Zuge einer sich radikalisierenden Gläubigkeit über Bord zu gehen
drohten. Zur Bewährung aber auch und vor allem seiner vermittelnden
Befähigungen zwischen den Extremen. Und schließlich zur Suche nach
Auswegen, als in dem Haß und wechselseitigen
Vernichtungswillen der sich etablierenden Konfessionen seit
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts phantasievolle und kenntnisreiche
Denker von Alternativen in der Krise dringender denn je gefragt waren.
Ungeschrieben als Ganzes, bleibt das Kapitel Humanismus und Konfessionalismus,
das mehr als ein Jahrhundert währte, der europäischen
Kulturwissenschaft aufgetragen. Immerhin, Ansätze, Orientierungspunkte, ja
auch Versuche zur europäischen Synopsis besitzt sie durchaus, an der
Spitze, so will es uns scheinen, bezeichnenderweise das Werk eines
Außenseiters: Friedrich Heers "Die dritte Kraft, der europäische
Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters", fast vierzig
Jahre alt, doch jung geblieben und allen Interessierten an vorderster Stelle zur
Lektüre empfohlen. [17]
Ein Land nach
dem anderen wurde von der Fackel entzündet, die da Erleuchtung bringen
sollte und sich fast immer verkehrte in die sengende Glut des Scheiterhaufens,
in das Gemetzel der fanatisiert aufeinander Losstürmenden, aufgeputscht nur
allzu häufig von kirchlichen wie politischen Gewalten, die ganz andere
Ziele verfolgten als die lautere Sache des Glaubens. Schon die radikalen
Franziskaner auf italienischem Boden, die Franziskaner-Spiritualen, mußten
Exkommunizierung und Verfolgung von seiten der Papstkirche erdulden. Der erste,
einen ganzen Staat in seine Gluten reißende Brand entzündete sich in
Böhmen. Aus dem England John Wyclifs war der Funke übergesprungen an
die eben gegründete Prager Universität, wo Jan Hus und seine rasch
wachsenden Anhänger nur das reine göttliche Wort, unverstellt von
Tradition und Dogma, gelten ließen und den Laien den Kelch des Abendmahls
nicht länger vorenthalten wollten. "Frommer Christ, suche die Wahrheit,
höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, liebe die Wahrheit, sprich die
Wahrheit, halte die Wahrheit fest, verteidige die Wahrheit bis zum Tod, denn die
Wahrheit befreit dich von der Sünde, vom Teufel, vom Tod der Seele und
schließlich vom ewigen Tod, der den ewigen Abschied von Gottes Gnade
bedeutet und von aller Glückseligkeit." [18] In dieser
Überzeugung bestieg Jan Hus, verurteilt vom Konstanzer Konzil, im Jahre
1415 den Scheiterhaufen. Erst mit seinem Tod formierten sich die Hussiten,
alsbald auch sie in Gemäßigte und Radikale geschieden, die letzteren
als Taboriten die Gewalt nicht länger scheuend, dem Kampf mit der
staatlichen Gewalt, die mehr als einmal wankte und zu zerbrechen drohte, nicht
ausweichend. Über Jahrzehnte zogen sich die Auseinandersetzungen hin und
blieben keineswegs auf Böhmen
beschränkt.
Europa also wußte, was mit
den Dingen des Glaubens auf dem Spiel stand. Dieses Wissen war es, das Erasmus
instinktiv zögern ließ, auf die Seite Luthers zu treten und ihn
bewog, mit allen ihm möglichen Mitteln zu versuchen, die Kirchenspaltung
abzuwenden - vergeblich. Luther, ganz anders als Erasmus unbesorgt um die
politischen Folgen, trachtete allein nach der unverstellten Artikulation der
Glaubenserfahrung. Und es bedurfte der politischen und sozialen Ummünzung
seiner Gedanken in den Bauernkriegen, um sein Glaubenswerk dem Schutz der
Fürsten anheimzustellen. Damit aber war es, ob gewollt oder nicht,
zwangsläufig zu einem Politikum geworden. Die erste große Schlacht um
den Glauben und zugleich doch um Reich und kaiserliche Gewalt wurde im
Schmalkaldischen Krieg, keine 30 Jahre nach dem angeblichen Thesenanschlag,
ausgetragen. Eben war das Fazit im Augsburger Religionsfrieden von 1555 gezogen,
da setzten auf deutschem Boden die Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern,
Zwinglianern und Calvinisten ein, die alsbald die zwischen den Evangelischen und
den Altgläubigen an Schärfe und Bitterkeit übertrafen. Von Genf
aus aber bahnte sich der neue Glauben in der Calvinschen Gestalt seinen Weg in
den Westen, nach Frankreich, in die Niederlande, in das Puritanertum nach
England. Frankreich war es zunächst beschieden, den Europäern ein
Lehrstück für die Politisierung des Glaubenskampfes zu liefern, wie es
in dieser Radikalität noch nicht gesehen worden war. Den Höhepunkt und
zugleich das Fanal für alle Protestanten bildete die Bartholomäusnacht
im Jahre 1572, in der auf Geheiß Katharina von Medicis Tausende von
Hugenotten, wie die Reformierten auf französischem Boden sich nannten,
ermordet wurden. Die Bilder der grausamen Abschlachtung gingen um den Kontinent.
In den benachbarten Niederlanden versuchte Philipp II. durch seinen Statthalter
Alba und dessen vor nichts zurückschreckenden Truppen, den Funken des neuen
Glaubens auszutreten. Der Kampf wogte jahrzehntelang, ohne daß es den
Spaniern gelang, die Aufständischen zu bezwingen. Nach 1579 teilten sich
die Niederlande: Die nördlichen Provinzen - die Utrechter Union - bewahrten
ihren calvinistischen Glauben, während der Süden, das heutige Belgien,
katholisch blieb. Damit waren im Westen Bündnispartner für den neuen
Glauben erwachsen, auf die insbesondere die reformierten Fürstentümer
auf deutschem Boden setzten. Unaufhörlich nahm die Frontenbildung auf
beiden Seiten ihren Fortgang, bis das Drama im Prager Fenstersturz seinen Anfang
nahm und zu dem härtesten Krieg auf deutschem Boden vor dem Zweiten
Weltkrieg führte. Nur England schien verschont zu bleiben, wo ein
gemäßigtes nationales Kirchentum sich herauskristallisiert hatte, das
einen tragbaren Kompromiß zu verkörpern schien. Doch der Schein trog.
Die anglikanische Kirche wie die Protestanten radikalisierten sich. Als das
puritanische Parlament König Karl I. aus dem Hause Stuart aufs Schafott
zwang, ging ein Erdbeben durch Europa.
Was hier in
knappster Form aus fast zwei Jahrhunderten europäischer
Bürgerkriegsgeschichte erinnert werden mußte, bildet den Hintergrund
für das politische Engagement, das ungezählte Humanisten an den Tag
legten, und den Friedensweg, den sie erkundeten und mutig beschritten. Wir
können nicht mehr als den einen oder anderen Namen aufrufen, um zu
erinnern, welch geistiges - und menschliches! - Potential Europa in den zwei
Jahrhunderten in sich barg, die sich erstrecken zwischen der endgültigen
Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien und der "Bill of Rights", dem
ersten Auftreten Luthers und dem Versuch eines Gottfried Arnold, den
Ungezählten und vielfach Namenlosen, den Opfern zumeist, ein
kompendiöses geschichtliches Denkmal zu setzen - um nur einige und beliebig
austauschbare Merkposten
herauszugreifen.
Vorkämpfer für die
Einheit der Kirche - und so auch international von den Humanisten wahrgenommen -
wurde das rasch erstarkende Spanien. Der Aufstieg des Staates ging einher mit
dem Kampf für die Reinheit des Glaubens - im eigenen Land wie alsbald im
Reich und den niederländischen Provinzen. Die über weite Strecken von
Arabern besiedelte iberische Halbinsel war über Jahrhunderte ein Hort der
Toleranz gegenüber den Nichtchristen, einschließlich der Juden
gewesen. Das änderte sich im Gefolge der Reconquista, als die Araber
schließlich auf die letzte Bastion in Granada zurückgedrängt
waren. 1478/80 wurde in Kastilien die Inquisition eingeführt, 1487 wurde
sie auf Aragon ausgedehnt. 1492 zogen nach fast zehnjährigem Kampf Isabella
von Kastilien und Ferdinand von Aragonien in Granada ein; die Reconquista war
erfolgreich beendet, und rasch wuchs die Begehrlichkeit, nach Afrika selbst
herüberzugreifen ... Nun konnte die Krone, gestützt auf die
Inquisition, dazu übergehen, Juden und Moslems zur Annahme des christlichen
Glaubens zu zwingen oder auszuweisen. Weit über eine halbe Million Juden
und Mauren verließen das Land. Der in dieser gewaltsamen Uniformität
sich bekundende Vorrang des staatlichen Interesses vor den heterogenen
Bekenntnissen seiner gemischten Bevölkerung, einst Ehrentitel des Landes,
trat erstmals in der modernen Geschichte Europas nach dem böhmischen
Vorspiel kraß zutage und ließ Spanien bald zum gefürchteten
Statthalter und Propagatoren der rücksichtslosen Knebelung religiöser
Minderheiten werden. Da Tausende von Juden und Moslems nur zum Schein
konvertierten, blieb die Inquisition wie in keinem Land sonst mit dem nicht zu
brechenden Phänomen des Ketzertums vor allem im Blick auf den
Kryptojudaismus befaßt.
Im Namen und Zeichen
des Erasmus setzten sich seine Anhänger dagegen zur Wehr und zogen alsbald
das Mißtrauen von Kirche und Staat auf sich. [19] Noch zu Ende des
15. Jahrhunderts - 1498 - war die Universität von Alcalá durch
Kardinal Cisneros gegründet worden, alsbald das eine Bollwerk des
Erasmianismus; das andere bildete für eine Weile der Hof Karls V. selbst.
Hier entstanden Lehrstühle für Griechisch, Hebräisch, Arabisch,
Syrisch, so daß ein Bibelstudium in den Ursprachen und schon 1517 eine
polyglotte Bibel-Edition möglich wurden. Zur gleichen Zeit wurde Erasmus in
Spanien bekannt. Eben in Alcalá bei Miguel de Eguia kam ein Sammelband
religiöser Schriften des Erasmus heraus. Alfonso und Juan de Valdés,
Francisco de Vergara, Fra Alonso de Virues und allen voran Juan Luis Vives
machten sich zu Anwälten seiner Botschaft der Toleranz, des einfachen
gläubigen christlichen Lebens, der Würde der Ehe und der Frauen - und
natürlich des Friedens. 1529 erschien in Alcalá der "Diálogo
de doctrina cristiana" des Juan de Valdés, der in der Erasmus so
beliebten Form des Gesprächs dessen Botschaft von der Nächsten- und
Gottesliebe, dem unvergänglichen Ethos der Bergpredigt, wiederholt. Der
Bruder Alfonso, gleichfalls Erasmianer, stand als Sekretär in den Diensten
Karls V. Er deutet in einem "Dialog über die in Rom vorgefallenen
Geschehnisse" den "Sacco di Roma" als Gottesgericht über die verweltlichte
Stadt. Was sind die Greuel der kaiserlichen Soldaten "verglichen mit den
Skandalen der hurenden Kardinäle und allen anderen Greueltaten der Kurie?
Ist es so schlimm, wenn Rom ausgeraubt wurde, wenn die Reliquien verschleppt
wurden, da sie sich doch oft schon mehrfach in der Welt befinden? Die Vorhaut
des Jesuskindes habe ich selbst gesehen in Rom, Burgos, Antwerpen, allein in
Frankreich gibt es über fünfhundert Zähne des Jesuskindes; die
Milch der Mutter Gottes wird an vielen Orten aufbewahrt. Dasselbe gilt von den
Federn des Heiligen Geistes [...]". [20] Ein Jahr später lag sein
"Dialog von Merkur und Charon" vor, angeordnet um die beiden elliptischen
Brennpunkte des Weltfriedens und der kaiserlichen Politik als Vollstreckerin
dieser großen Aufgabe. "Schämt ihr euch nicht, euch Christen zu
nennen, die ihr viel schlimmer lebt als die Araber und wilde
Tiere?" [21] Das ist Originalton Erasmus, transformiert ins spanische
Milieu. Nimmt es Wunder, daß Valdés freundschaftlich mit
Melanchthon verkehrte? Mit dem Tod des Kanzlers Gattinara, des Sekretärs
Alfonso de Valdés', erstarb die kurze und so verheißungsvolle
Erasmische Blüte in Spanien, beseelt von dem Wunsch, den Kaiser auf den
Friedensweg zu weisen und ihn darauf zu
unterstützen.
Einen gänzlich anderen Weg
beschritt die konkurrierende Großmacht Frankreich. Sie war nicht behindert
durch imperiale Aspirationen. Und sie hatte das Glück, daß das Wirken
ihrer Humanisten letztlich dem Staat voll zugute kam, seinen Handlungsspielraum
erweiterte statt verengte, ihm den Weg in die Moderne ebnete. Es bedurfte
freilich der zeitweiligen Lähmung, wo nicht Auflösung der staatlichen
Souveränität, um inmitten der tiefsten Krise den rettenden Ausweg zu
finden. Dieses Verdienst gebührt Frankreichs großen
Parlaments-Juristen des 16. Jahrhunderts, die alle vom Geist des Humanismus
berührt waren, zugleich aber im Pariser Parlament und in denen der Regionen
an den Schalthebeln der Macht saßen und ihren Ideen politische
Durchschlagskraft zu verleihen wußten. [22] Michel de
L'Hôpital (1503-1573) war Kanzler, Jacques Auguste de Thou, führender
Historiker des Landes und Verfasser einer großen Zeitgeschichte,
Präsident des Parlaments, Philippe Duplessis-Morney (1549-1623) Publizist.
Verschieden in Herkunft, Position und geistigem Horizont, war ihr Denken doch
allemal bestimmt von der Erfahrung des Bürgerkriegs in ihrem
Land.
Auch Frankreich kannte die Erasmianer der
ersten Stunde mit Guillaume Budé an der Spitze, die von Bischof Guillaume
Briçonnet begründete "Schule von Meaux" mit Lefèvre
d'Estaples, Gérard Roussel, zu denen Mächtige wie die Schwester des
Königs, Margarete von Navarra, und der Bischof von Bayonne, Jean du Bellay,
sowie dessen Bruder Guillaume stießen. [23] Sie alle wollten die
Reform, ohne daß die eine Kirche darüber zerbrach. Und in dem
bleibenden Werk Guillaume Postels (um 1510-1581) wird - genau wie bei Nicolaus
von Cues - bereits die Synthese aus den verschiedenen Religionen
gedacht. [24] Doch alle von den Irenikern ins Werk gesetzten
Einigungsbemühungen zwischen Katholiken und Hugenotten blieben vergeblich,
allen immer erneut unternommenen Versuchen, sich auf Kolloquien zu
verständigen, war ein dauerhafter Erfolg versagt. Statt dessen regierte
fanatischer Haß und nackte Gewalt, in die auch die königliche
Autorität hineingezogen wurde, ja, die sie selbst
beförderte.
Das Fazit, das die Gruppe der
Juristen, der "Politiker", - gipfelnd in den "Sechs Büchern über den
Staat" des Jean Bodin (1530-1596) - daraus zog, war ein eindeutiges,
ausgestattet mit der Klarheit und Stringenz französischen Denkens, dem die
Zukunft gehören sollte. Wenn die religiösen Parteien nicht in der Lage
sind, aus sich heraus Lösungen zu erzeugen, die ihr friedliches
Zusammenleben möglich machen, dann ist es Aufgabe des Staates, dafür
zu sorgen, daß Verträglichkeit unter ihnen waltet. Voraussetzung
dafür ist, daß er seinerseits nicht Partei für eine der
Gruppierungen ergreift, sich in religiösen wie überhaupt allen
weltanschaulichen Dingen strikt neutral verhält. Ausgestattet mit diesem
Befriedungs-Auftrag, den der Staat notfalls mit der von ihm monopolisierten
Gewalt durchsetzen muß, garantiert er allen religiösen und
weltanschaulichen Gemeinschaften ihr Existenzrecht und ihr Betätigungsfeld,
solange sie sich jedweder Anwendung von Gewalt enthalten und den
Andersgläubigen und -denkenden ihr Recht auf ungehinderte Entfaltung
zubilligen. Er privatisiert mit anderen Worten die Überzeugungen seiner
Bürger, macht sich selbst nicht mehr zum Agenten einer bestimmten
Konfession und gebiert in der Preisgabe eines weltanschaulichen Monopols sich
selbst als Wahrer des Rechts und der Sicherheit seiner Bürger. So ist noch
inmitten des 16. Jahrhunderts der Gedanke des modernen Staats in die Welt
getreten, selbstverständlich in der Gestalt der Monarchie, flankiert aber
von mächtigen juristischen Institutionen, den Parlamenten. Im Edikt von
Nantes des Jahres 1598, das allen Bürgern freie Ausübung der Religion
garantierte, kam dieser aus humanistischem Geist erzeugte staatstragende Wille
unter der Regentschaft Heinrichs IV. - dem Henri Quatre Heinrich Manns - am
überzeugendsten zum Ausdruck. Wenn es keine 100 Jahre später (1685)
unter Ludwig XIV. wieder eingezogen wurde, so war damit klargestellt, daß
der absolute Staat eine zentrale Errungenschaft erneut preisgab - und damit an
seinem Untergang mitwirkte, wie er dann in der Französischen Revolution
vollzogen wurde.
In den Niederlanden ging die
Behauptung des neuen Glaubens Hand in Hand mit der Erlangung staatlicher
Selbständigkeit. Dieser doppelte und sich wechselseitig stützende
Effekt bewirkte, daß die Niederlande auch kulturell im letzten Drittel des
16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur führenden
protestantischen Macht aufstiegen. Die Abschüttelung der spanischen
Herrschaft, so die Meinung der hellsten Köpfe, den französischen
politiques ganz verwandt, müsse mit einer Garantieerklärung
freier Religionsausübung einhergehen, darin finde die werdende Nation
gerade auch gegenüber Spanien ihre innere ideelle Einheit. Diese wahrhaft
weitsichtige Philosophie des "Religionsfrid" galt es nun zu bewahren, nachdem es
nicht gelungen war, die 17 Provinzen zusammenzuhalten, und das Land politisch
und konfessionell auseinandergebrochen war. In der jungen Republik bildeten die
Calvinisten die herrschende Kirche. Aber es gab Katholiken, einige lutheranische
Gemeinden, Wiedertäufer, und zu Anfang des 17. Jahrhunderts
erschütterte der arminianische Streit das Land. Wieder waren die
Religionstheoretiker gefragt, und wieder waren es die am Humanismus geschulten
Köpfe, welche die Artikulation der Toleranz zu ihrer Sache
machten.
Kennt man noch den Namen eines Dirck
Volckertzoon Coornhert (1522-1590), mit dem schon vor 100 Jahren ein Kenner der
frühneuzeitlichen Geistes- und Religionsgeschichte, Wilhelm Dilthey, seine
berühmte Abhandlung über das "natürliche System der
Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert" eröffnete? [25] Er steht,
obgleich er den katholischen Glauben nicht verließ, politisch und
konfessionell zwischen allen Fronten, weil er wie Erasmus in erster Linie an der
Ethik und ihrem einen lebensnotwendigen Fundament - Freiheit - interessiert ist.
Frei auch ergreift der Heilige Geist vom Menschen Besitz, genau so wie der
große Gegenspieler Luthers, Sebastian Franck, gelehrt hatte. Gelebte
Toleranz hieß allemal Bekenntnis zu den Minderheiten; so mußte er
zwangsläufig in Konflikt mit den Calvinisten geraten. Es sei unter gar
keinen Umständen Aufgabe des Staates, sich zum Sachwalter und
Beschützer eines einzigen Bekenntnisses zu machen - dies wurde auch und
gerade einem so überzeugten Verfechter staatlicher Macht wie seinen
Landsmann Justus Lipsius ins Stammbuch geschrieben. "Die Fürsten dieser
Welt versäumen nicht, sich als Beschützer der christlichen Kirche
aufzuspielen. Aber die Kirche kann mit keiner Waffe beschützt werden, weil
das Reich Christi nicht von dieser Welt
ist." [26]
Kurze Zeit später sah sich
die herrschende Kirche selbst mit der Spaltung konfrontiert, indem ihr in Jacob
Arminius (1550-1609) ein Kritiker der Prädestinationslehre ganz im Geiste
Coornherts erwuchs. Die größten Humanisten, die Holland
hervorgebracht hat, ein Hugo Grotius, ein Gerard Vossius, waren alsbald unter
denen, die Toleranz gegenüber beiden Seiten forderten. Die Synode von
Dordrecht (1619) verurteilte jedoch den Arminianismus und gab eines der
führenden politischen Häupter der Republik, den 72jährigen
Oldenbarnevelt, dem Tod auf dem Schafott preis. Damit war ein schwerer Schatten
auf den jungen Staat gefallen. Grotius aber, nach erfolgreicher Flucht aus
seinem Vaterland, verarbeitete auch diese Erfahrung in seinem das
Völkerrecht begründenden Werk "De Jure belli et pacis", das zugleich
eines der großen europäischen Dokumente religiöser Toleranz
darstellt. Wiederherstellung der Einheit der Kirche, Traum der
Größten zwischen Erasmus und Leibniz, blieb die Hoffnung, an die auch
er sich klammerte. Es gehört zu den Glücksfällen der Geschichte,
daß es den jungen Niederlanden gelang, das Regiment des unnachsichtigen
Calvinismus allmählich zu lockern. An der Schwelle zur Aufklärung
waren die Niederlande das liberalste Land Europas - so wie zwei Jahrhunderte
vorher Polen! -, in dem die Verfolgten Unterschlupf fanden und vor allem ihre
unterdrückten Schriften erscheinen konnten. Die großen Ausgaben eines
Erasmus, eines Jakob Böhme, die Werke eines Abraham von Franckenberg,
Quirinus Kuhlmann und wie die Namen der Ausgestoßenen lauten, erblickten
hier das Licht der Welt. Hier entstand mit dem "Dictionnaire historique et
critique" des aus Frankreich seines Glaubens wegen geflüchteten Pierre
Bayle das erste große Lexikon, in dem sich der die Überlieferung
kritisch prüfende Geist der frühen Aufklärung umfassend
kundtat. [27]
Wiederum ganz anders
gelagert waren die Verhältnisse in England. Um so interessanter, daß
Vorstellungen und Argumente wiederkehren, die uns vom Kontinent her wohl
vertraut sind. Sie gehören zum gemeineuropäischen Besitz, passen sich
neuen Situationen an und bezeugen immer wieder die Durchschlagskraft der
humanistischen Gedanken. Erasmus besaß seine besten Freunde in England.
Zwei der drei hier zu nennenden betraten vor dem Tod des Erasmus (1536) das
Schafott auf Geheiß Heinrichs VIII. John Fisher, Bischof von Rochester,
vertrat die Königin Katharina gegen das Scheidungsbegehren des Königs
und wurde 14 Tage vor Thomas Morus 1535 enthauptet. Morus lehnte als
Staatskanzler die kirchliche Oberhoheit des Königs ab, war sie doch mit der
Trennung von Rom und damit der Spaltung der Kirche verbunden, und ging gelassen
und für seinen Widersacher, den König, betend in den Tod. John Colet
(1467-1519) schließlich baute als Dekan St. Paul's in London zu einer
Pflegestätte christlich-humanistischer Kultur aus, machte das Griechische
in England heimisch und sorgte mit für die eindrucksvolle
Platon-Renaissance vor allem in Cambridge. [28] In der Herausgabe der
"Utopie" des Thomas Morus durch Erasmus im Jahre 1516 kam die enge Verbindung zu
dem Humanistenkreis sinnfällig zum Ausdruck. Wir pflegen Morus' Werk unter
dem Stichwort "Staatsutopie" abzubuchen. Es ist zunächst und zuerst eine
Vergegenwärtigung gelungenen Lebens und Zusammenlebens, das Glück und
Segen des Lebens als kostbarstes Geschenk preist, welches es zu hegen und
pflegen gilt in tiefem verstehendem Gewährenlassen, statt ihm durch
Reglementieren, Uniformieren, geistiges und geistliches Strangulieren Gewalt
anzutun. Gottesliebe, Gottesverehrung - sie nimmt überall auf der Welt
verschiedene Formen an und ist ihrem Wesen nach doch immer nur eine. "Dabei ist
jeder einzelne überzeugt, was er für seine Person für das
Höchste hält - es mag sein, was es will -, das sei doch
schließlich immer dasselbe Wesen, in dessen alleiniger göttlicher
Erhabenheit und Majestät wir den Inbegriff aller Dinge (nach dem
übereinstimmenden Urteil aller Völker) zu erblicken
haben." [29] So das heitere und weise Bekenntnis eines Mannes, der in
der ruhigen Gewißheit jenseitigen Fortlebens in den Tod
ging.
Eben an der Bindung kirchlicher, geistlicher
Belange an das Königtum, wie es Heinrich VIII. durchgesetzt und damit eine
alte, auf Dante zurückzudatierende Errungenschaft der Humanisten
rückgängig gemacht hatte, entzündete sich die Kritik vor allem.
Sie wurde gleichermaßen von der zunächst besonders betroffenen
katholischen Seite wie später von den sich radikalisierenden Protestanten
artikuliert. An einem Publizisten wie Robert Persons, einem Jesuiten,
läßt sich sehr schön beobachten, wie sich nun gerade die Lehre
der französischen politiques als hilfreich erwies bei dem Kampf
gegen die Verquickung von Staat und Kirche im anglikanischen System. "Es
wäre eine schwere Gefahr und große Unsicherheit für Glauben und
Heil, wenn die Religion vom Willen des Fürsten und den Gesetzen, die diesen
Willen zum Ausdruck bringen, abhinge, so daß man, um auf dem
kürzesten Wege zur wahren Religion zu gelangen, nur die eine
Möglichkeit hätte, sich der Meinung der weltlichen Macht
anzuschließen und seinen Glauben nach der Laune der Fürsten zu
regeln." [30] Eben diese wechselseitige Befreiung zum Wohle beider war
Erkenntnis der fortgeschrittenen Kreise zu Ende des 16. Jahrhunderts. Den von
Calvin herkommenden Puritanern aber war natürlich der
kompromißlerische Charakter der High Church ein Dorn im Auge. Viel
radikaler müsse die Lösung von den blasphemischen Relikten des alten
Glaubens erfolgen. Die geistliche Gewalt gehöre in die Gemeinden. Ein
Traktat wie der von Samuel Rutherford, "A free disputation against pretended
liberty of conscience" aus dem Jahre 1649, als die Gemüter auf dem
Kontinent anfingen, sich zu beruhigen, in England hingegen der Stuart-König
Karl I. von dem rebellierenden puritanischen Parlament unter Oliver Cromwell
aufs Schafott geführt wurde, zeigt, was das insulare England nun
verspätet durchzukämpfen hatte. Gewissensfreiheit? Freie Entfaltung
der heterogenen Bekenntnisse? Im Gegenteil. Magistrate wie Pastoren hatten
über die Reinheit des Bekenntnisses zu wachen und diese notfalls mit
Gewalt, ja mit Tötung der Widerstrebenden durchzusetzen. "Der christliche
Magistrat, der über Gottes Ehre wachen muß, hat die Pflicht, alle
offen zutage liegenden falschen Lehren, gleichgültig ob grundlegend oder
nicht, zu bestrafen." [31]
Es ehrt
Männer wie John Goodwin oder Roger Williams und ungezählte andere, vor
allem aus den wie Pilze aus dem fruchtbaren englischen Boden sprießenden
Sekten, daß sie dagegen nicht anders als gegen die anglikanische Kirche
sogleich Sturm liefen. Ermächtige man die weltliche Hand zum Eingriff in
Religionsdinge, so solle man doch gleich Gott bzw. Christus auf dem Thron
installieren, denn auf Usurpation göttlicher Rechte liefe doch alles
hinaus. "Wir müssen durch die Hand eines Engels des Lichts zu dieser
Einheit geführt werden, nicht hineingejagt durch einen bösen Engel der
Furcht und des Schreckens." [32] Humanistische Überzeugung,
übersetzt in die Sprache eines Arminianers, nachdem er die Puritaner wegen
ihrer Intoleranz rasch verlassen hatte. Oder die Stimme zweier Baptisten:
"Laßt sie Häretiker, Türken, Juden oder anderes sein, es steht
der irdischen Macht nicht zu, sie zu bestrafen." [33] "Alle diese
Bischöfe, die die Fürsten und die Völker zwingen, ihren Glauben
und ihre Disziplin zu empfangen, greifen wie Judas Christus in seinen Gliedern
mit Schwertern und Knüppeln und Hellebarden an." [34] Das ist immer
noch der Nachklang einer lebens- und religionsfreundlichen Philosophie, wie sie
von Erasmus und den Seinen formuliert worden war. Am Schluß war aus der
Mitte der unzähligen Sekten das Bekenntnis zur Koexistenz aller und zur
Abstinenz des Staates unverrückbar statuiert. Am radikalsten und
konsequentesten von Roger Williams, dem Gründer der Kolonie Rhode Island
und der Stadt Providence. Die Vermischung von Geistlichem und Weltlichem
erscheint als das eigentliche "Mysterium der Bosheit". [35] Das Reich
Christi besitzt kein fleischliches Schwert! Das Übel beginnt schon mit
Konstantin und seinem gutgemeinten Schutz der Christen! Der Papst als Tier der
Apokalypse - hier ist der Vergleich wieder da, ohne daß es auf der
protestantischen Seite irgend besser aussähe, wenn nach der weltlichen
Gewalt geschielt, mit ihr paktiert, sie mit geistlichen Attributen inthronisiert
würde. Elisabeth als "Päpstin" der anglikanischen Kirche! Seit Dante
und Marsilius von Padua hatten sich die Humanisten für die Trennung der
Gewalten ausgesprochen. Jetzt, nach mehrere Jahrhunderte währendem Kampf,
wurde sie im England der Mitte des 17. Jahrhunderts von einem Theoretiker wie
Roger Williams kompromißlos bestätigt und praktisch umgesetzt in der
Neuen Welt. - Im Bereich der politischen Philosophie aber zog John Locke - und
auf andere Weise der größte englische Dichter des 17. Jahrhunderts,
John Milton - ein Fazit, mit dem England nun mit einem Schlag sich an die Spitze
Europas setzte. Noch im 17. Jahrhundert - genau 100 Jahre vor der
Französischen Revolution - erschienen John Lockes "Briefe über die
Toleranz" (1689-1692); sie flankierten den politischen und gleichfalls weit in
die Zukunft weisenden Kompromiß zwischen Parlament und Königtum in
der "Bill of Rights" im selben Jahr
1689. [36]
Italien aber, das Ursprungsland
des Humanismus, war nun Schauplatz des Tridentinischen Konzils, auf dem sich der
Katholizismus im Bündnis mit dem von Ignatius von Loyola gegründeten
Jesuitenorden zur geistlichen, moralischen und militärischen
Rückeroberung Europas rüstete. Hier, auf italienischem Boden,
formierte sich noch einmal das am weitesten in die Zukunft weisende Experiment
radikalen religiösen Denkens - mit allen unabsehbaren Folgen für die
Verfechter eines in kein Schema mehr passenden und folglich von allen
Konfessionen gleich wütend verfolgten Bildes, das einem der Vernunft wieder
zugänglichen Gott galt. [37] Ihnen allen waren die Worte
zugesprochen, und sie alle durften die Worte auf sich beziehen, die Sebastian
Castellio furchtlos dem rasenden Calvin entgegengeschleudert hatte, der einen
der ihren - Michel Servet - unter der Zustimmung selbst eines Melanchthon in
Genf dem Scheiterhaufen überantwortet hatte. "Oh, in welchen Zeiten leben
wir? Wir werden zu blutrünstigen Mördern durch den Eifer für
Christus, der, damit das Blut der anderen nicht vergossen werden muß, das
seine vergossen hat. [...] O Christus, Schöpfer und König der Welt,
siehst du das? Bist du völlig anders geworden als du warst, so grausam und
im Widerspruch gegen dich selbst? [...] Wenn du Christus, diese Dinge tust und
zu tun befiehlst, was hast du dem Teufel zu tun vorbehalten? [...] O böse
Vermessenheit der Menschen, die es wagen, Christus Dinge zuzuschreiben, die auf
Befehl und Anstiftung Satans getan werden!" [38] Servet hatte die
Trinitätslehre als klerikale Konstruktion verworfen. Hier knüpften die
Italiener an. Schon zwei Jahre vor Servet war Giorgio Siculo in Ferrara
hingerichtet worden. "Warum erniedrigen die Protestanten so sehr die Vernunft? -
und stellen die menschliche Natur niedriger als die eines Pferdes. [...] Warum
belasten sie die göttliche Gnade mit aller unserer Schuld und unseren
bösen Taten? Die Heilige Schrift tut das Gegenteil: Sie verherrlicht
großartig die menschliche Natur und läßt uns seine
Größe und göttliche Würde erkennen." [39] So
vermählten die Sozinianer die Botschaft der Renaissance eines Ficino, eines
Lorenzo de' Medici, eines Pico della Mirandola mit derjenigen Christi. In Basel,
teils auch in Graubünden, fanden diese Italiener, ein Camillo Renato, ein
Lelio und Fausto Sozzini, ein Bernardino Ochino, ein Celio Secundo Curione und
wie sie heißen, zeitweilig Asyl, bevor sie und ihre Nachfahren
weiterziehen mußten, in den Osten, nach Polen, Siebenbürgen,
Rußland, dann in den Westen, die Niederlande, England, Amerika. Die
Ausnahme im 16. Jahrhundert, wir deuteten es an, bildete Polen als freiestes
Land auf dem Kontinent, alsbald Heimat der Antitrinitarier, Sozinianer,
Unitarier, Böhmischen, Polnischen Brüder etc. Noch im 17. Jahrhundert
war es für die schlesischen, böhmischen, ungarischen Humanisten (und
Dichter wie Opitz!) ein Hort des
Überlebens. [40]
Und Deutschland, das
Reich, der weit in den Osten sich erstreckende Sprachraum, die Schweiz mit
Zürich und der Bastion Genf auf der Grenze zwischen deutscher und
französischer Zunge? Es wäre schon viel gewonnen, wenn in einer dem
Humanismus gewidmeten Betrachtung vor allen anderen der Name Philipp
Melanchthons erinnert würde, dessen 500. Geburtstag sich soeben jährte
(1497-1560). Auf seinen schmalen Schultern lag für mehr als eine Generation
die ungeheure Last, die Folgen der von Luther ins Werk gesetzten Reformation
durchzukämpfen. Das hieß hunderterlei. Es hieß vor allem aber,
den Kontakt mit den Humanisten zu wahren, nachdem der Bruch zwischen Luther und
Erasmus unheilbar geworden war. Er hatte sich an einem Kardinalthema der
Humanisten, dem Bekenntnis zum freien, vernunftgeleiteten, also auf
Selbstbestimmung zielenden Willen entzündet, dem Luther sein schroffes
Bekenntnis zur alleinigen Verfügung Gottes über den Menschen
entgegensetzte. Das war ein des Streits wohl würdiges Thema. Melanchthon
aber wurde noch hineingerissen in die Ausarbeitung des streng lutherischen
Bekenntnisses. Da kannten die auf Luther eingeschworenen Schriftgelehrten keine
Gnade. Lieber das letzte I-Tüpfelchen in Luthers doch gar nicht immer
einheitlichen und problemlos zu harmonisierenden Schriften verteidigen, als auch
nur die Spur eines Zugeständnisses an die Zwinglianer oder die Calvinisten,
die "Schwärmer" oder "Spiritualisten" zu machen. Den Humanisten aber war
vielfach - und je dunkler der späte Luther wurde, je mehr sich die
Orthodoxen versteiften, desto mehr - der Glaube der "Konkurrenten" näher
und sympathischer, weil menschlicher, nachvollziehbarer, vernünftiger. Wie
ist zu erklären, daß mehr als ein Jahrhundert lang verbittert um
Verständnis und Einsetzungsworte des Abendmahls gestritten wurde? Es ging
um mehr als um dies und das Sakrament schlechthin, nämlich immer auch um
Würde und Autonomie des Menschen, der nachvollziehen können wollte,
was ihm zu glauben angetragen war. Und da hatte eine Lehre, die den symbolischen
Charakter des Abendmahls als eines Gedächtnismahls betonte, bei den
"Gebildeten" eben bessere Chancen als eine solche, die auf der Umwandlung von
Brot und Wein in Leib und Blut Christi im gläubigen Genuß beharrte.
Melanchthon aber war immer an beiden Fronten gefragt. Er wurde unaufhörlich
als Autorität in Fragen der "richtigen", lutherkonformen Lehre in Anspruch
genommen. Und er sollte - und wollte selbst vor allem auch! - zwischen den
Streitenden vermitteln. Was hätte er darum gegeben, den magischen
Schlüssel zu allseitiger Versöhnung zu besitzen. Denn er wie kaum
einer sonst war zutiefst durchdrungen von der Erasmischen Überzeugung,
daß die erste Pflicht der Christen Versöhnung, Ausgleich,
Verständigung sei. Und das aus Gründen der religiösen
Überzeugung nicht anders als aus denen praktischer politischer Vernunft.
Denn wenn der Bruch mit der katholischen Kirche, der ihn so tief wie Erasmus
schmerzte, schon irreversibel sein sollte - er mochte es immer wieder nicht
glauben -, so war es doch einfach schon ein schlichtes Gebot des
Überlebens, unter den Protestanten aufeinander zuzugehen und Frieden zu
suchen - in der Lehre wie im alltäglichen Leben bis hinauf in die
große Politik. Für dieses große Ziel hat er gelebt und
gestritten, um am Ende doch so zu scheitern wie auf andere Weise
Erasmus.
Die Fronten zwischen den Lutheranern,
Zwinglianern, Calvinisten, sie ließen sich nicht aufweichen, sie
verhärteten sich zunehmend. Bald galt der andersgläubige Oberdeutsche
als unvergleichlich gefährlicher als der beim Katholizismus verharrende
Altgläubige. Die Humanisten wendeten sich nicht nur angewidert ab, sondern
zogen es sogar vor, zum alten Glauben zurückzukehren, und gingen damit dem
Luthertum, wie Melanchthon schmerzlich erfahren mußte, verloren. Doch
mußte er nicht auch schon der Gefahr gewärtig sein, daß der
christliche Glaube überhaupt Schaden nehmen würde in der nicht
endenden Haarspalterei? Wir glauben, daß ihn diese Sorge im Grunde seines
Herzens umtrieb wie keine andere sonst. Und sollte er nicht recht behalten? Wo
sich im Humanismus auf deutschem Boden nicht anders als auf europäischem
ein Moment von Skepsis ansiedelte, das letztlich hinübergeleitete in die
Aufklärung und ihre Suche nach der wahren, naturgegebenen, der Vernunft
genügenden Religion, da wichen die tiefgläubigen Gottessucher aus in
die konfessionsfreien Räume innerer Erleuchtung und Erfahrung, die ihnen
eine unverbrüchlichere Gewähr boten als Buchstabe und Dogma. In ihren
Kreisen sind die unvergänglichen Worte der Versöhnung gesprochen
worden, die unveräußerliches Erbe des europäischen
Friedensgedankens wurden. [41] Von Paracelsus und Sebastian Franck
über Caspar Schwenckfeld, Valentin Weigel und Jakob Böhme reicht die
illustre Reihe bis hin zu Friedrich Spee, Johann Scheffler (Angelus Silesius)
und Christian Breckling. Ihnen allen hat einer aus ihrem Geiste, Johann
Christoph Arnold in seiner "Kirchen- und Ketzergeschichte" des Jahres 1700, ein
Denkmal gesetzt. [42] Ist es ein Zufall, daß es den
Ausgestoßenen vorbehalten war, die längsten und die intensivsten
Spuren in der deutschen Geistesgeschichte zu hinterlassen? Ob bei Hamann oder
Herder, Goethe oder Jean Paul, den Romantikern von Novalis bis Eichendorff, ja
noch den Philosophen zwischen Schelling und Hegel, Bloch und Benjamin,
überall begegnet man ihren Stimmen. Eine jede Friedensbewegung - und mag
sie noch so sehr in der Minderheit sein - tut gut daran, sich an die Gedanken
und an die Hoffnungen ihrer Vorgänger im Abseits zu erinnern, um sie
fortzutragen in jede erdenkliche
Zukunft.