DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa |
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Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur |
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KLAUS GARBER
Der Ursprung der deutschen Nationalliteratur zu Beginn des Dreißigjährigen
Krieges |
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Um 1600 mehren sich allenthalben die Symptome einer Krise. Kometen, Konstellationen der Gestirne, Überschwemmungen, Mißgeburten, Fabelwesen und Abnormitäten in
der Natur und unter den Menschen verweisen auf sie. Neue Zeitungen,
Flugblätter, Flugschriften sind voll von nie Gehörtem und Gesehenem.
Die Malerei bemächtigt sich der Themen. Lieder, Erzählungen,
Schauspiele ergreifen das Sujet und wirken mit an der Erzeugung von Angst. Wenn
Ulrich von Hutten das 16. Jahrhundert enthusiastisch begrüßt hatte:
"O Jahrhundert! O Wissenschaften! Es ist eine Freude zu leben", so tönt es
nun zu Anfang des 17. Jahrhunderts bei Ägidius Albertinus düster: "O
Welt, du unreine Welt, O schnöde arge Welt, O stinkendes elendes
Fleisch."
Die Menschen ahnen, daß
Verhängnisvolles bevorsteht. Und sie haben Grund zu Sorge und finsteren
Träumen. 1608 wird die protestantische Union gegründet, ein Jahr
später kommt die katholische Liga zustande. Die Konfessionen rüsten
zum Kampf, suchen Bündnispartner im Innern und im Ausland. 1610 wird
Heinrich IV., der um der französischen Königskrone wegen vom
protestantischen zum katholischen Glauben übergetreten war, ermordet. Die
schlimmsten Greuel heften sich an den Bürgerkrieg zwischen Hugenotten und
Katholiken, gipfelnd in der Pariser Bartholomäusnacht 1572, in der Tausende
von Hugenotten ermordet wurden. Spanien und die Niederlande liefern sich einen
jahrzehntelangen, erbarmungslosen Kampf; er endet mit der Spaltung des Landes in
einen katholischen (belgischen) und einen protestantischen (holländischen)
Teil. Auf der britischen Insel läßt die protestantische englische
Königin Elisabeth die katholische schottische Königin Maria Stuart
gefangensetzen und schließlich 1587 aufs Schafott führen. Signale und
Fanale einer nun mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Krise, in der
die Christenheit sich definitiv spaltet, Nationen im Bürgerkrieg
zerbrechen, Throne wanken und jahrhundertealte verbindliche Orientierungen im
Strudel der aufgewühlten Leidenschaften
versinken.
Die Kunst, die Literatur des neueren
Europa, ist mit diesem den Kontinent erschütternden Drama aufs engste
verquickt. Die Darstellung freilich, die uns das Bild der Hegemonial- und
Konfessionskriege im Spiegel der Literatur schilderte - eines der großen
Themen einer wirklich europäisch angelegten Literaturwissenschaft - sie
fehlt noch immer. Ihren Ausgang nimmt in der Frühen Neuzeit jede neue
Entwicklung in Italien. 1494 fallen die Franzosen ins Land ein und erobern
Neapel, wenig später folgen die Spanier. Sannazaros "Arcadia" (1504), als
sentimentale elegische Schäfermaskerade verkannt, antwortet allegorisch
verschlüsselt auf den Niedergang Neapels, und die Größten -
Michelangelo an der Spitze - werden folgen im Blick auf das geknebelte Italien.
Spanien erobert 1492 Granada, letzte Bastion der Araber auf dem Kontinent, und
zwingt Juden wie Mauren zur Konversion oder Emigration. Bis in Cervantes' "Don
Quichote" hallt die gewaltsame Uniformierung des Landes nach. Eine ganze Serie
von Texten antwortet auf Bürgerkrieg und Bartholomäusnacht in
Frankreich. Aber wer kennt zum Beispiel noch des Calvinisten d'Aubigné
erschütternde Werke? Die verkehrte Welt des größten
Erzählers im 16. Jahrhundert - Rabelais -, ist sie denkbar ohne die tiefste
Erschütterung der nachantiken Welt? Noch der heroisch-pastorale
Ordnungsentwurf eines Honoré d'Urfé in der fünfbändigen
"Astrée", mit dem der höfische Roman des 17. Jahrhunderts
eröffnet wird, stellt sich als mühsamer Versuch zur Bändigung des
Chaos dar. Und sieht es anders aus in England? Die beiden großen Dichter
Edmund Spenser und Philipp Sidney nutzen Ekloge ("The Shepheards Calendar"),
schäferlich-heroischen Roman ("Arcadia") und Epos ("The Fairee Queene"), um
ihrer Königin Elisabeth zu huldigen, vor allem aber, um sie zu energischem
Handeln gegenüber dem anbrandenden Katholizismus zu ermutigen. Und der
Größte zwischen Dante und Goethe? Ist der unerschöpfliche
Shakespeare in seinem hintergründigen Humor, seinem abgründigen Ernst
zu entziffern ohne Wissen um die irdischen wie metaphysischen Verwerfungen, die
seine Generation zu verarbeiten
hatte? [1]
Überall in Europa formt
sich das Profil der nationalen Literaturen im aufgewühlten 16. Jahrhundert
- Italien immer ausgenommen, das schon mit Dante, Petrarca und Boccaccio im
späten Dugento und im Trecento seinen grandiosen Einsatz
findet. Deutschland aber verspätet sich in diesem Achsen-Jahrhundert, in
dem die Weichen für das in die Moderne führende Europa gestellt
werden. Es hat den von Italien ausgehenden humanistischen Impuls frühzeitig
beantwortet. Dem Reich, den geistlichen und weltlichen Territorien, vor allem
aber - genau wie in Italien - den Städten kommt die erneuerte antike Kultur
und Literatur aus ungezählten Gründen entgegen. Sie zeitigt in
Nürnberg, in Augsburg, in Straßburg, in Basel und vielen Orten sonst
eine Blüte zwischen der Mitte des 15. und dem Anfang des 16. Jahrhunderts,
die sich in gewisser Weise durchaus einzigartig in Europa ausnimmt - Folge der
regionalen Vielfalt des alten Reichs und insonderheit seiner Städte. Als
aber das literarische Handwerk erlernt, das lateinische Dichten eingeübt
ist, zu dem Conrad Celtis und andere aufgerufen haben, der Übergang zum
Deutschen hätte probiert werden müssen, da tritt Luther auf und
reißt die Nation in seinen Bann. Er pflügt die deutsche Sprache wie
keiner vor oder nach ihm um, bereichert und schmiedet sie zusammen. Die
volkssprachige Dichtung des 16. Jahrhunderts vom Schlage eines Hans Sachs, eines
Jörg Wickram, eines Johann Fischart zehrt davon, von Kirchenlied, Predigt
und Erbauungsschrifttum gar nicht zu
reden. [2]
Aber die Einformung der antiken
Kultur in die deutsche Sprach- und Bildungswelt zu befördern, ist sie
natürlich nicht geeignet. So müssen die um 1500 abgerissenen
Fäden wieder aufgenommen werden, als das von Luther ausgelöste
Erdbeben abgeklungen ist. Das aber währt mehr als ein halbes Jahrhundert.
Und nun haben sich die Bedingungen gründlich gewandelt. Italien, Spanien
und Portugal, Frankreich und England, ja selbst die eben erst aus dem Kampf mit
Spanien siegreich hervorgegangenen Niederlande besitzen ihre nationalsprachige
Literatur auf antiker Basis. Namen wie Pietro Bembo und der erwähnte Jacopo
Sannazaro, Garcilaso de la Vega und Fray Luis de León, Francisco de
Sá de Miranda und Jorge de Montemayor, Pierre Ronsard und Joachim du
Bellay, Edmund Spenser und Philipp Sidney, Jan van der Noot und Daniel Heinsius,
die für diese nationale Erneuerung der Poesie einstehen, sind jedem
Gebildeten in Europa und damit auch in Deutschland bekannt. Das also hat
inzwischen ein mächtiges Pensum
nachzuholen. [3]
Um eines vorwegzunehmen:
Es grenzt für den Literarhistoriker, der sich ein Sensorium für
geschichtliche Zusammenhänge bewahrt hat, fast an ein Wunder, daß die
Lösung der Aufgabe, einmal angepackt, so rasch und so erfolgreich verlief.
Im Gegensatz zu der - auch in Fachkreisen - nicht verstummenden Rede, daß
wir es bei der deutschen sogenannten "Barockliteratur" (die in Wahrheit durch
und durch eine vom Humanismus geprägte Literatur ist) mit einem
kümmerlichen, schmächtigen Pflänzchen zu tun hätten, das
keinen Vergleich mit seinen europäischen Vorbildern aushielte, ist ohne
besonderen patriotischen Elan nüchtern zu konstatieren, daß ihre
Schmähung mehr auf Unkenntnis und mangelnder Leseschulung beruht denn auf
der gescholtenen Literatur selbst. Sie hat das große Pech gehabt, nicht
mit Perioden nationalen Aufschwungs wie bei den Nachbarn zusammenzufallen.
Deshalb gibt es im 17. Jahrhundert anders als etwa in Spanien oder in Frankreich
keine "Klassik". Das, was wir mit einem gleichfalls problematischen Namen so
bezeichnen, entfaltet sich auf deutschem Boden bekanntlich erst um 1800. Die
Literatur des 19. Jahrhunderts aber - samt ihren empfindsamen Vorläufern
und einer entsprechenden, auf dem Gefühl, dem Erlebnis beruhenden
Kunstauffassung - wurde nun Maßstab und kritische Instanz für die
unter gänzlich anderen Bedingungen erwachsene humanistische Literatur. Das
hat sie in den Schatten im Rahmen der literarischen Erinnerung unseres Volkes
gerückt, aus dem nur wenige Namen wie derjenige eines Gryphius, eines
Grimmelshausen, eines Paul Gerhard zeitweilig hervortraten. Als Ganze, als ein
kostbares Vermächtnis hoher Sprachkunst, hat sie keinen Eingang in die
Bildungsgeschichte der Nation gefunden. Um so wichtiger, die so schwierigen
Bedingungen zu erkunden, unter denen sie entstand, sich entfaltete und von
Anfang an ein beherrschendes Thema zu ihrem vornehmsten Gegenstand hatte: Krieg
und Frieden in Europa, in Deutschland, in Stadt und Land - und die Folgen
für das Gedeihen der Künste inmitten des Wütens der
Waffen. [4]
Ältere Literatur im
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem noch weiteren, tief in
den Osten Europas hineinragenden deutschen Sprachraum zu betrachten, setzt die
Fähigkeit voraus, sich in Kulturräumen bewegen zu können. Die
Anfänge der neuen deutschen Kunstdichtung um 1600 regen sich an den
Rändern: in Böhmen und Schlesien im Osten; in der Pfalz und am
Oberrhein im Westen. Die Erklärung scheint einfach. In Grenzlandschaften
ist der Wille zur Betonung nationaler Werte stets groß. Das mag richtig
sein, reicht aber nicht hin. In der Frühen Neuzeit sind alle kulturellen
Entwicklungen verquickt mit religiösen und alsbald auch mit konfessionellen
Optionen. Der europäische Reformkatholizismus entfaltet seit dem
Tridentinischen Konzil und seit der Gründung des Jesuitenordens ein
offensives Kulturprogramm, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Er
operiert in allen europäischen Ländern. Folglich bleibt er beim
Lateinischen und setzt dieses auch in der Literatur, vor allem im Drama,
weiterhin ein. Dramatiker wie Jakob Masen, Jakob Gretser, Jakob Bidermann
zeigen, welch ein die Gewissen aufrüttelndes Schauspiel dem Orden
möglich war. Der Protestantismus ist seit den Tagen eines Wyclif und Hus
durch die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen groß geworden.
So liegt es nahe, daß im Protestantismus der Versuch volkssprachiger
Literatur eher Boden gewinnen
konnte.
Interessanterweise sind es nun aber vom
Calvinismus berührte Autoren und Territorien, die innerhalb des
Protestantismus nochmals die Führung übernehmen. Das liegt an den
guten internationalen Verbindungen, welche die reformierten Länder und
Territorien unterhalten. Aber es liegt auch an dem ausgebildeteren politischen
und kulturpolitischen Bewußtsein. Die Lutheraner waren viel eher bereit
zum Bündnis mit den Katholiken als die Calvinisten. Ja, zuweilen mochte es
scheinen, als seien die Zerwürfnisse unter den Protestanten heftiger und
unheilbarer als zwischen den Altgläubigen und Lutheranern. Jedenfalls
dürfen wir inzwischen von der in der Forschung weitgehend geteilten
Auffassung ausgehen, daß es im Milieu des Calvinismus und der mit ihm
sympathisierenden Kreise ein außerordentlich entwickeltes Bewußtsein
dafür gibt, daß man auf die Offensive der Katholiken im nationalen
Idiom antworten, auf diese Weise die Protestanten näher zusammenbringen und
zugleich sich als Sachwalter der legitimen Interessen der Nation ausweisen
müsse. Nicht anders können wir uns die Affinitäten erklären,
die zwischen den Wortführern der neuen Literatur und den reformierten
Herrscherhäusern und Adelsgeschlechtern etwa in Böhmen und Schlesien,
in der Pfalz und am Oberrhein, alsbald aber auch in Mitteldeutschland, im
Anhaltinischen und in Hessen etc. walten. "Literatur" dürfen wir freilich
in dieser aufgewühlten Zeit nicht eng fassen. Die Grenzen zur Publizistik
sind fließend. Und so wie die Dichter im Hauptgeschäft Juristen,
Diplomaten, Sekretäre, fürstliche Berater, Konsulenten sind, so
gebrauchen sie ihre Feder zu Reden, programmatischen Vorreden, Kommentaren,
gelegentlich durchaus auch Pamphleten, um der Sache der "nationalen" Literatur
wie der "nationalen" Politik zu dienen. Viel mehr als bislang wahrgenommen, sind
aber auch die hohen Werke der Literatur, die sich so gerne als
Übersetzungen oder Stilübungen geben, durchzogen von politischen
Signalen, die man nur dechiffrieren kann, wenn man sich geschult hat in der
Kunst des "uneigentlichen", des allegorischen
Lesens. [5]
Machen wir auf knappem Raum
ein paar Stich- und Leseproben! Böhmen ist unter Rudolf II. - wie schon
einmal unter Karl IV. - ein Zentrum europäischer Kultur. [6] Im
Jahr 1601 erscheint pseudonym und mit fingiertem Druckort die erste deutsche
Gedichtsammlung im neuen Stil, Theobald Hocks bzw. Hoecks "Schönes
Blumenfeld". [7] Der Verfasser hat allen Grund, seine Spuren zu
verwischen. Er ist eine der Schlüssel- und Kontaktfiguren, die unter der
Führung Christian von Anhalts an einer antihabsburgischen Front vor allem
unter dem Adel Oberösterreichs und Böhmens arbeiten. Solchen begegnen
wir auf Schritt und Tritt in der Anfangsphase der erneuerten deutschen
Literatur. Seit 1600 steht Hoeck in den Diensten des böhmischen Magnaten
Peter Wok von Rosenberg, bei dem ebenso wie bei Karl von Zierotin die Fäden
zusammenlaufen. Die Sprache Hoecks ist noch unbeholfen und wenig geschmeidig.
Die vielen lehrhaften Themen verweisen zurück auf die stadtbürgerliche
Dichtung des 16. Jahrhunderts. Aber das Programm einer nationalen Kunstdichtung
steht schon diesem Parteigänger der calvinistischen Sache vor
Augen:
"Warumb solln wir den unser Teutsche
sprachen,
In gwisse Form und Gsatz nit auch
mögen machen,
Und Deutsches Carmen
schreiben,
Die Kunst
zutreiben,
Bey Mann und
Weiben." [8]
In vielfältigem
Austausch mit Böhmen, politisch wie kulturell, steht Schlesien. Hier liegen
auf engstem Raum weltliche und geistliche Fürstentümer, freie
Standesherrschaften und Städte zusammen - an der Spitze die Metropole
Breslau. Das Land steht als böhmisches Nebenland seit 1526 unter
habsburgischer und damit katholischer Oberherrschaft. Das verhindert nicht,
daß bis in das 17. Jahrhundert hinein katholische, lutherische,
calvinistische Bekenntnisse in den Fürstenhäusern, im Adel und in den
Städten nebeneinander existieren. Vielleicht liegt darin auch eine Wurzel
für das Erblühen der Mystik, die auf schlesischem Boden und in der
benachbarten Lausitz im 16. wie im 17. Jahrhundert ihre eigentliche Heimstatt
besitzt. Caspar Schwenckfeld, Abraham von Franckenberg, Daniel Czepko, Angelus
Silesius und viele andere sind hier zu Hause; Jakob Böhme wirkt von
Görlitz aus herüber. Der interkonfessionelle Ausgleich in einem
verinnerlichten Glauben ist in Schlesien vorbildlich verwirklicht worden. Ob er
auch zur Blüte der deutschsprachigen Literatur beiträgt, die in
Schlesien in einem Reichtum wie nirgendwo sonst sich entfaltet? Wir möchten
es vermuten. [9]
Aber es kommen wie immer
viele Faktoren zusammen. Die vielen Höfe, Herrschaften und Städte
brauchen geschultes, "gelehrtes" Personal. Schlesien aber besitzt keine
Universität. Also zieht man nach Westen; die weniger Bemittelten nach
Wittenberg oder Leipzig, die besser Gestellten in die calvinistischen Hochburgen
nach Leiden in den Niederlanden, nach Heidelberg, Basel oder an die Akademie in
Straßburg, die 1621 zur Universität erhoben wird. Kein Land hat eine
so weitverzweigte, weltoffene und kontaktfreudige späthumanistische
Gelehrtenschaft beherbergt wie wiederum Schlesien. Und als ein
aufgeklärter, irenisch im Sinne des Erasmus und Melanchthons gesonnener,
bildungsfreundlicher Fürst - Georg von Schönaich - 1614 in Beuthen an
der Oder ein Gymnasium gründet, steht hier für wenige Jahre ein
angesehenes universitätsähnliches Institut zur Verfügung, das
drei in die Moderne führende Vorzüge aufweist: erstmalige Errichtung
einer Professur für Frömmigkeitskunde (pietas) mit dem
ausdrücklichen Ziel einer Überwindung der Konfessionsstreitigkeiten;
erstmalige Errichtung einer Professur für Sittenkunde (mores) mit
dem Auftrag, moderne, bei Hof und im Beamtendienst verwendbare Fertigkeiten zu
erwerben; Interesse und Aufgeschlossenheit gegenüber den
nationalliterarischen Bestrebungen im Ausland und in
Deutschland. [10]
Kein anderer als Opitz
hat hier von seinem Lehrer Caspar Dornau und seinem Schutzherrn und Patron
Tobias Scultetus von Bregoschitz seine ersten Anregungen für sein
deutschsprachiges Literaturprogramm erhalten. [11] In einer Rede am
Beuthener Gymnasium legt er ein Jahr vor Ausbruch des Krieges sein Programm - in
lateinischer Sprache, wie es in der akademischen Welt üblich war -
dar:
"Die deutsche Sprache müßt ihr
lieben, wenn ihr nicht gegen den Himmel eures Vaterlandes, das heißt gegen
euch selbst, Feindschaft hegt, an ihrer Ausbildung müßt ihr arbeiten,
darin müßt ihr euch als Männer zeigen. Hier ist Rhodus, hier
springet. Und glaubt ihr, man müsse Bitten und Beschwörungen
nachgehen, nun so bitte ich euch bei eurer vielgeliebten Mutter Deutschland, bei
euren glorreichen Ahnen, zeigt eine Gesinnung, würdig eures edlen Volkes,
verteidigt eure Sprache mit derselben Ausdauer, mit der jene einst ihre Grenzen
schützten. Bringt es wenigstens dahin, daß ihr die hohe Gesinnung,
welche ihr lauter in euren edlen Herzen bewahrt, auch in einer lauteren Sprache
ausdrücken könnt." [12]
Ein
kriegerischer, chauvinistischer Ton? Beileibe nicht. Sondern nur Anpassung an
die eingespielten und jedermann bekannten humanistischen Standards, die
Rückbezug auf die edlen Vorfahren und Lobpreis der jeweils heimischen
Sprache verlangen. Aber immerhin. Auch auf deutschem Boden regt sich nun die
Einsicht, daß zu einer werdenden Nation - und welcher Humanist glaubt
nicht an sie seit Dante und Petrarca? - eine nationalsprachige, und jetzt also
endlich deutschsprachige Literatur gehört, in der die Themen behandelt
werden können, welche die Gebildeten der Nation interessieren. Und dies
eben sind die durch die Bürgerkriege und die Militarisierung der
Konfessionen vorgegebenen großen nationalen
Sujets.
Um ihnen Durchschlagskraft und eine
Perspektive zu verleihen, dafür bedarf es allemal eines stimulierenden
Milieus. Opitz findet es wie so viele Schlesier im Westen, in der
Pfalz. [13] Die Metropole der Kurpfalz, Heidelberg, gilt als der
strahlendste Hof des Reichs. Die Kurfürsten sind als erste in Deutschland
zum reformierten calvinistischen Bekenntnis übergetreten. Die Pfalz ist die
Speerspitze des internationalen Calvinismus auf deutschem Boden. Das verschafft
dem Hof, der Universität, den Räten und Gelehrten die engen Kontakte
zu den Hugenotten in Frankreich, den Reformierten in den Niederlanden, den
Protestanten im Tudor-England Elisabeths und dem Stuart-England Jakobs I. Die
Tochter des englischen Königs ist seit 1613 Gemahlin des jungen
Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. Ihre Hochzeit ist zu einer glanzvollen
Feier und zu einem weit über die Grenzen des Reiches hinaus wahrgenommenen
repräsentativen Akt geraten. Dies auch im Wetteifer mit der benachbarten
höfischen Kapitale in Stuttgart, wo ein anderer großer Dichter seine
gleichfalls deutschsprachige Poesie in den Dienst der Württemberger stellt:
Georg Rudolf Weckherlin. Er verläßt Deutschland früh, siedelt
nach England über und gerät daher in den Schatten von Martin
Opitz. [14]
Haupt des Heidelberger
Dichterkreises ist der gekrönte Dichter Melissus Schede. Den
Gepflogenheiten der Humanisten gemäß verfaßt er seine
großen Lyriksammlungen in lateinischer Sprache. Aber er kennt die Dichter
um den französischen Hof, die sich in der Pléiade zusammengefunden
haben und auf französisch dichten. So versucht er sich im Deutschen und
wird damit zum Vorbild für die Jüngeren, die ihn verehren und ihm
nacheifern, die aber auch Weckherlin kennen, sich der Dichtung etwa Johann
Fischarts in Straßburg erinnern und zu denen nun Opitz und dessen Freunde
aus Schlesien stoßen. Ihre Namen sind heute vergessen, während sich
der Name von Opitz durchgesetzt hat. [15] Er findet die Worte für
das zündende Programm, und er legt bald für die verschiedenen Formen
der Poesie gültige und nachahmenswerte Muster vor. Geeint aber sind sie
alle in der Überzeugung, daß es hohe Zeit für die Pflege einer
deutschen Poesie sei und daß diese dazu beitragen müsse, über
die Gefahren aufzuklären, die von einem militanten Katholizismus unter der
Führung Spaniens für das deutsche Reich, für die Einheit der
Nation drohten. Julius Wilhelm Zincgref, der Begabteste und Vielseitigste unter
ihnen, hat uns ihre Versuche in einer Sammlung von Gedichten
aufbewahrt. [16] Er besitzt Kenntnis von einem Gedicht Weckherlins an
den deutschen Adel, der da mutig bereitsteht, die deutsche Sache zu
verteidigen: "Das Teutsche Reich bekannt ist unser
Vaterland,
Teutsch sein wir von Geburt, von
Stammen, hertz und hand.
Teutschland bedarf sich
nit mit außländer beschönen,
Wie
dann die Welt wohl weiß, daß es zu aller
Zeit
Treffliche Leut genug hatte zum Fried und
Streit." [17]
Da sollten wir wahrlich so
wenig wie bei irgendeinem anderen Humanisten Haß auf Ausländer
heraushören. Der Dichter fordert seine Landsleute auf, sich endlich so wie
die Nachbarvölker zu ihren Qualitäten zu bekennen, den Frieden zu
wahren, aber eben auch bereit zu sein, wenn der Aggressor sich nähert. Der
Adel gibt dafür ein nachahmenswertes Beispiel ab. Genauso hat es der
Herausgeber in einer langen "Vermahnung zur Tapferkeit" gesehen, mit der er die
Sammlung abschließt. Von dem Tapferen
gilt: "Sein unverzagtes Herz ist seinem
Vaterland
Ein unerstiegne Burg, des Volkes rechte
hand.
Mit seines Leibes Maur sperrt er den wilden
Feinden
Gleich vornen an der Spitz den zugang zu
den Freunden,
Verscherzt die Freiheit nicht um
einen Hut voll Fleisch,
Um eine Hand voll Blut, um
einen Mund voll Geist." [18]
Solche
Töne sind uns heute mehr als verdächtig. Aber auch sie zeugen nicht
von Blut- und Todesrausch, Verachtung des Lebens und Glücks. Der Dichter,
der die Greuel des Krieges vor Augen hat und auch in seinem Gedicht
vergegenwärtigt, er sucht sie abzuwehren, indem er aufruft, die Freiheit,
die immer eine innere und eine äußere ist, als das höchste Gut
zu erkennen und zu bewahren. Spanien vor allem steht zu jener Zeit in dem Ruf,
sie rücksichtslos zu knebeln. Die Angst vor der Inquisition und der
Mißachtung des selbstgewählten Bekenntnisses wie eines sich selbst
bestimmenden Lebens und Denkens, sie steht hinter den Zeilen der Dichter dieser
Generation in Deutschland, wie uns ihre gleichzeitige Publizistik drastisch vor
Augen führt.
Die Dichter aber, die sich da in
der deutschen Sprache am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges
üben und Autonomie der Person wie der Nation zu einem ihrer bevorzugten
Themen machen, sie operieren nicht ohne Verbindungen und Kontakte. Parallel zu
ihren Bemühungen wird von fürstlicher Seite aus wiederum am Vorabend
des Krieges ein großes nationales und kulturpolitisches Einigungswerk auf
den Weg gebracht, das sich mit ihren Bemühungen trifft. Auch dieses ist
unserer geschichtlichen Erinnerung entglitten, obgleich es doch verdient
hätte, besser bekannt und in unsere Geschichtsbücher eingegangen zu
sein. Als die Humanisten zuerst in Italien sich anschicken, die Kultur der
Antike planmäßig zurückzuerobern, da finden sie sich unter dem
Patronat von Fürsten in Akademien zusammen, um sich bei der Erkundung der
neuen Wege des Dichtens, Denkens, Handelns abzustimmen und Mäzene für
ihr Werk zu interessieren. [19] Auch in Deutschland kommt es schon um
1500 zu parallelen Gründungen. [20] Im 17. Jahrhundert wird die
Schaffung der nationalen Sprache und Literatur vor allem über die
Dichtervereinigungen bewerkstelligt, die sich in einigen Städten -
Straßburg, Hamburg, Königsberg, Nürnberg etc. - Namen und
Satzungen geben und von der Philologie des 19. Jahrhunderts nicht eben
glücklich "Sprachgesellschaften" getauft worden
sind.
Die weitaus bedeutendste wird schon 1617
gegründet und nennt sich - in Anlehnung an die "Accademia della Crusca" in
Florenz - "Fruchtbringende Gesellschaft". [21] Gewiß, sie
möchte Früchte bringen in der erneuerten Sprache und Literatur. Aber
doch sehr viel mehr als das! Unter ihren alsbald Hunderten von Mitgliedern
stehen neben dem Adel und einigen gelehrten Dichtern wie Opitz die
protestantischen und gerade wiederum die calvinistischen fürstlichen
Spitzen des Reichs aus Hessen und Brandenburg und Schlesien etc. Die Anhaltiner
Fürsten, und zumal Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, geben ihr den
organisatorischen Rahmen und das Programm. Da ist neben den konkreten Aufgaben
für Sprache und Dichtung viel von "teutscher" Tugend und Treue, von altem
"teutschen" Vertrauen und biederer Tapferkeit die Rede. Die Germanistik
weiß bislang nicht besonders viel mit diesen Formeln anzufangen. Dabei ist
doch klar, daß sie mit den von Dichtern und Gelehrten lancierten
Vorstellungen übereinstimmen. Wieder geht es darum, die Nation
zusammenzuschweißen, sie an ihre heldenhafte Vergangenheit zu erinnern, um
sie zu rüsten für die große Aufgabe und Auseinandersetzung, die
ihr unmittelbar bevorsteht. Weiß man um die ungezählten
Bemühungen im 16. Jahrhundert, angefangen bei den Kaisern wie Karl V. und
seinem Bruder Ferdinand I., den Vermittlungstheologen vom Schlage eines
Melanchthon, seinen humanistischen Freunden überall im Reich, Brücken
über den Abgrund der Konfessionsspaltung zu bauen, so rückt auch das
nationale Anliegen der Fruchtbringenden Gesellschaft in die rechte Perspektive.
Am Vorabend des großen Krieges stellt sie einen letzten (ergreifenden)
Versuch dar, ein Bündnis der Einigung zustandezubringen. Deshalb die
strikte Order, keine Theologen aufzunehmen, um Hader fernzuhalten, deshalb die
"weichen", offenen "teutschen" Formeln, um keine neuen Gräben
aufzureißen, sondern womöglich alle zur Mitwirkung einzuladen. Wo
dies aber scheitert, sollen die protestantischen und zumal die reformierten
Reichsstände ein Forum zur raschen Verständigung und zum gezielten
Handeln besitzen. Neben der Freimaurerbewegung des 18. Jahrhunderts stellt die
Fruchtbringende Gesellschaft die umfassendste nationale kulturpolitische
Initiative auf deutschem Boden im Alten Reich
dar.
All diese Bemühungen scheitern. Bevor
sie aber in den Strudel des Krieges gerissen werden, findet ein atemberaubendes
politisches Husarenstück auf deutschem Boden statt, zu dem es wenige
vergleichbare geben dürfte. Unsere Dichter sind alle mehr oder weniger
direkt involviert. Hätte es Erfolg gehabt, unsere deutsche Geschichte - und
nicht nur die unserer Literatur - wäre anders verlaufen. [22] Im
August des Jahres 1619 rüstet sich der junge Kurfürst Friedrich von
der Pfalz in Heidelberg, um - unterstützt von vielen seiner Räte,
seinem Hofprediger Abraham Scultetus und dem Hof nahestehenden Dichtern wie
Opitz oder Zincgref - die Königswürde in Prag entgegenzunehmen. Dann
wäre die seit langem existierende enge kulturelle Verbindung zwischen dem
Osten und dem Westen in der Personalunion des Königs und des
Kurfürsten sinnfällig zum Ausdruck gelangt. Der protestantische und
vielfach calvinistische böhmische Adel unterstützt das Vorhaben
lebhaft. Die illustre schlesische Humanistenschaft, ein Tobias Scultetus, ein
Caspar Cunrad, ein Henel von Hennenfeld, alle Förderer und Gönner der
Bestrebungen von Opitz und seinen Freunden, wünschen innig das
Gelingen. [23] Dann wäre der Druck der katholischen Habsburger von
ihnen gewichen. Zahllose Gedichte, Pamphlete, Huldigungen ruhen in der
einzigartigen Breslauer Stadt- und heutigen Universitätsbibliothek
Wrocław, die uns eine Ahnung von den unvorstellbaren Hoffnungen dieser Generation
vermitteln. Opitz und Zincgref dichten beide eine Rede bzw. ein kleines
lateinisches "Epos" auf den aufbrechenden Kurfürsten und alsbaldigen
böhmischen König.
Als "Winterkönig"
jedoch wird er in die Geschichte eingehen. Denn nach einem guten Jahr ist der
Traum verflogen, die Schlacht am Weißen Berg im November 1620 gegen die
Katholiken, die Truppen Spaniens und der Liga Maximilians von Bayern, verloren.
Der König muß Prag aufgeben. Die Stadt Breslau, die ihm eben noch
triumphal gehuldigt hat, sieht ihn nun als Flüchtenden. Seine Anhänger
müssen sich ducken. Und während in Prag ein schauerliches Blutgericht
anhebt, entkommen die Schlesier glimpflich. Der Traum aber einer frei sich
entfaltenden nationalen Poesie in einem eng unter den Fittichen eines
protestantischen Königs zusammenrückenden Reichs ist hier wie
allenthalben ausgeträumt. Das Werk der Fruchtbringenden Gesellschaft
gerät ins Stocken und wird fortan erheblich erschwert. Viele ihrer
Führer sind in das Prager Geschehen involviert. Die Dichter aber haben nun
den zunächst mit ganzer Wucht über die Pfalz hereinbrechenden Krieg zu
verarbeiten. Und sie sind zur Stelle. Das letzte Gedicht in der von Zincgref
1624 in Straßburg besorgten Opitz-Ausgabe, rasch unter dem Eindruck der
laufenden Ereignisse nachgeschoben, lautet: "Ein
Gebet, daß Gott die Spanier widerum vom Rheinstrom wolle
treiben
Schlag doch, du starker Held, die
scheußlichen Maranen
So leider ihre Zelt und
Blutgefärbten Fahnen
Auch jetzt in
Teutschland bracht, an unsern schönen
Rhein,
Der Waffen tragen muß, vor [statt]
seinen guten Wein,
Es ist genug gespielt mit
eisernen Ballonen,
Du grosser Capitain, hör'
auff, fang an zu schonen,
Es ist genug, genug, die
Götter sein verheert
Durch die, so sie
gemacht, Statt, Dorff, und Feld
verkehrt,
Laß die, durch deren Grimm die
Ströme kaum geflossen
Von Leichen
zugestoppft, nit außgehn ungenossen
[ungerächt]
Und mache kundt, daß der,
der dir zugegen strebt,
Stürtzt, oder bleibt
er ja, ihm [sich] selbst zur straffe
lebt." [24]
So nimmt sich die werdende
neue deutsche Dichtung in den Händen ihres Topmanagers aus. Opitz ist der
Propagator eines Verses, in dem die natürliche Betonung der Wörter
wieder mit ihrer metrischen übereinstimmt, und beinahe ist es ihm gelungen,
das selbstgesetzte Gebot korrekt in seinem Gedicht einzuhalten. Gewiß
hätte er daran weitergearbeitet, um ihm den letzten Schliff zu geben. Aber
er wagt es nicht, das brisante Stück in die erste von ihm selbst besorgte
Ausgabe seiner Gedichte aus dem Jahre 1625 mit aufzunehmen. Wie seine Freunde
muß er aus Heidelberg fliehen. Mit einem Schlag ist das gelehrte und
poetische Leben am Neckar erstorben. Der Kurfürst weilt im Exil in Den
Haag. Die schönste und reichste Bibliothek auf deutschem Boden, die
Palatina, ist geplündert, ihre Schätze sind über München
nach Rom in den Vatikan gebracht worden. Opitz aber hat seinen ruhmvollen Weg
angetreten, da kann Kritik der katholischen Vormacht nur schädlich sein.
Wir aber ersehen aus dem mutigen kleinen Stück, daß auch die
sogenannte Barockdichtung in allen Spielarten mehr ist als poetische
Fingerübung, daß sie teilnimmt am Zeitgeschehen und mit Witz und
Scharfsinn der deutschen Sache nicht nur in ihrem sprachlichen Gewand, sondern
auch in ihren Themen zu dienen sucht.
Das nun
anhebende Kriegsgeschehen ist aber nicht mehr nur in den lyrischen Formen zu
bewältigen. Es verlangt nach den Großformen des Dramas, des Romans,
des Epos. Wie aber soll diese Aufgabe auf deutsch bewerkstelligt werden, da die
deutsche Literatur doch eben erst zaghafte Schritte tut, um sich in den kleinen
lyrischen Formen zu schulen, schwerlich aber bereits gerüstet ist für
die großen Formen, deren Eroberung durch Übersetzung sich vor allem
die Fruchtbringende Gesellschaft vorgenommen hat. Auch unter diesem
Gesichtspunkt wird ihr das, was da unter dem Zwang der Ereignisse zustande
kommt, immer zur Ehre gereichen. Ungezählt sind nicht nur die Gedichte auf
den Krieg und die an ihn sich heftende Friedenssehnsucht in der Tradition des
europäischen Humanismus. [25] Auch das Kriegs- und Friedensdrama
ist rasch entwickelt. Der in Wedel bei Hamburg amtierende Pfarrer und
Statthalter von Opitz im Norden, Johann Rist, pflegt es ebenso erfolgreich wie
der Wolfenbütteler Prinzenerzieher Johann Georg Schottel. Diejenige Gattung
der europäischen Literatur, die seit den Tagen Vergils in erster Linie
zuständig ist für Kriegsklage und Friedenssehnsucht, die
Hirtendichtung oder Bukolik, wird ebenfalls von Opitz, von Paul Fleming, von
Simon Dach und ungezählten anderen sogleich auch in deutscher Sprache
entwickelt und ist zur Stelle, wenn es gilt, Kunde zu geben von dem
Unerhörten. Am Ende des Krieges wird in ihr souverän und ohne die Spur
eines Zeichens der Ermüdung in Nürnberg das Ende der Greuel und der
endliche Einzug des Friedens in höchster artistischer Meisterschaft
besungen. [26]
Das erhabene Forum
aber für die poetische Behandlung der Schicksalsfragen der Nation ist seit
den Tagen Homers und Vergils, Petrarcas, Ronsards und Spensers das Epos. Und
auch da versagt Deutschland nicht. Noch einmal ist es Opitz vorbehalten, in die
Bresche zu springen. Aber das, was er unter dem Eindruck des Krieges und in
Erinnerung an die Vorgänge in Frankreich und den Niederlanden als eben
Zwanzigjähriger dichterisch zustandebringt, ist so brisant und so riskant,
daß der Dichter sich nicht getraut, das Werk zu publizieren. 1620/21
geschrieben, erblickt es erst 1633 das Licht der Welt, nachdem der schwedische
König Gustav Adolf den Protestanten eine Atempause verschafft und ihnen
neue Hoffnung geschenkt hat. "Des schweren Krieges
Last / die Deutschland jetzt empfindet /
Und
daß Gott nicht umsonst so heftig
angezündet
Den Eifer seiner Macht / auch wo
in solcher Pein
Trost her zu holen ist / sol mein
Getichte sein." [27]
So fängt der
Dichter an. Krieg ist das Thema des Epos seit Homer. Sein Ende aber ist seit
Vergils "Aeneis" der Friede und die erreichte nationale Einheit. Von beidem ist
Deutschland weit entfernt, als Opitz anhebt zu schreiben. So macht er aus der
Not eine Tugend und stellt eine Kreuzung aus Epos und Lehrgedicht her, die
seinen großen Kunstverstand überzeugend unter Beweis stellt. Denn
einhaltend, bedenkend, lehrend vermag er das Geschehen nun zugleich zu deuten,
ihm seinen weltlichen, politischen und zugleich seinen geistlichen,
metaphysischen Sinn abzugewinnen. Die Lehre aber heftet sich ans Exempel. Und an
denen fehlt es gleich bei Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges auch
in Deutschland schon nicht mehr."Das Volck ist
hin und her geflohn mit hellen hauffen,
Die
Töchter sind bey Nacht auf Berge
zugelauffen,
Schon halb vor Schrecken tot, die
Mutter hat die Zeit,
In der sie einen Mann
erkannt, vermaledeit.
Die Männer haben selbst
erbärmlich müssen flehen,
Wann sie ihr
liebes Weib und Kinder angesehen.
Die kleinen
Kinderlein, gelegen an der Brust,
So noch von
keinem Krieg' und Kriegesmacht gewußt,
Sind
durch der Mutter Leid auch worden angeregt,
und
haben allesamt durch ihr Geschrei beweget;
Der
Mann hat seine Frau beweint, die Frau den Mann
Und
was ich weiter nicht aus Wehmut sagen
kan." [28]
Das Leid des Krieges, Erasmus
hat es immer wieder eingeschärft, ist zeitlos. Voll Teilnahme beugt sich
der Dichter über das namenlose Elend, das er die Zeiten überdauernd im
Wort festhält. Aber er bleibt nicht stehen bei dem
Unfaßbaren. "Viel minder werd' ich nun des
Feindes harte Sinnen
Und grosse Tyrannei genug
beschreiben können,
Dergleichen nie
gehört." [29]
Das Unaussprechliche
versagt sich dem Wort. Und doch will es festgehalten, der Aggressor
identifiziert und seine Tyrannei beim Namen genannt sein. Poesie im Umkreis von
Humanismus und Aufklärung hat kritische Funktion, und der Dichter wird auch
dieser Aufgabe gerecht. Wieder durch das Exempel gibt er kund, wo er die Ursache
des Unheils sieht. Die Bartholomäusnacht in Frankreich und die heldenhafte
Verteidigung der Niederländer wählt er im zentralen dritten Buch, um
seine Deutung der Geschichte vorzutragen: "Wer
wundert sich doch nicht, der Niederland
betrachtet,
Der Spanschen Hoffart Zaum? wie war es
so verachtet?
Noch hat der kleine Platz so viel
nechst Gott, getan,
Was warlich die Vernunft gar
übel fasen kann:
Philippus war nun Herr wo
Phebus auf zu stehen,
Das große Licht der
Welt, und nieder pflegt zu gehen;
Er hatte
mehrentheils fast unter seine Macht
Der Amphitrite
Strom [die Ozeane] und großes Reich
gebracht
Noch risse Holland loß: Die Marter,
Pein und Plagen
Der grimmen Tyrannei war
länger nicht zu tragen:
Das sehr bedrengte
Volk ward endlich aufgesetzt,
Nachdem sein Blut
genug das ganze Land genetzt,
Und Alba solchen
Grimm und Wüterei begangen,
Dergleichen nie
gehört." [30]
Im Reich Karls V. und
Philipps II. geht die Sonne nicht unter, und doch vermögen die Niederlande
letzterem zu trotzen. Das ist mehr als nur ihrer Tapferkeit geschuldet. Sie
haben Gott für ihre gerechte Sache auf ihrer Seite. Der Tyrann aber ist der
politische Arm der Gegenreformation, ist Spanien. Er knebelt das Land politisch.
Viel schlimmer aber ist die Vergewaltigung des Glaubens, der Seele, des
Gewissens. Nichts, so Opitz in Übereinstimmung mit den europäischen
Humanisten, gleicht dem Frevel, der in der Verhinderung der freien Ausübung
der Religion liegt. Sie ist das Kostbarste, das dem Menschen überantwortet
ist, und darf seiner freien Selbstbestimmung nicht entzogen
werden. "Es ist ja nichts so frei, nichts also
ungedrungen
Als wohl der Gottesdienst: so bald er
wird erzwungen,
So ist er nur ein Schein, ein
hohler falscher Ton.
Gut von sich selber tun das
heißt Religion,
Das ist Gott angenehm.
Laßt Ketzer Ketzer bleiben,
Und gleubet ihr
für euch: Begehrt sie nicht zu
treiben.
Geheissen willig sein ist plötzlich
umgewandt,
Treu die aus Furchte kommt hat
mißlichen Bestand." [31]
Damit
findet Opitz, finden die deutschen Dichter Anschluß an die
europäische Tradition der humanistischen Friedensdichtung. Und schon
zeichnet sich auch bei ihnen ab, was Bestimmung aller dieser unverändert
aktuellen Kundgebungen sein wird. Wo dem Verketzern des Nächsten das
Handwerk gelegt werden soll, da tritt zugleich die Besinnung auf das Verbindende
in ihre Rechte. Das Gute um seiner selbst willen und aus freien Stücken
heraus zu tun, ist edelster Gehalt einer jeden Religion. Genau so werden es
Lessing und seine Freunde anderthalb Jahrhunderte später formulieren, und
damit die Fackel der Humanisten in das Zeitalter der Aufklärung tragen.
Haben wir anderes an die Stelle dieser Botschaft zu
setzen?
Opitz aber möchte in der die Zeiten
überdauernden Artikulation der Wahrheit zugleich seinem Volk in der Stunde
tiefster Not dienen. Er tut dies auf vielerlei Weise, bevorzugt aber auf zwei
Wegen. Das niederländische Beispiel lehrt, daß Widerstand im Wissen
um die rechte Sache nie vergeblich ist und immer geleistet werden muß. Er
rüttelt seine Landsleute in der großen Tradition des politisch
agierenden Dichters durch seine Verse auf. Die Gefahr ist identifiziert. Sie
droht in der gegenwärtigen Stunde von der katholischen, zumal der
spanischen Seite. Sein Gedicht versteht sich in Übereinstimmung mit der
Pfälzer und mit der reformierten Publizistik insgesamt als Hort des
Widerstands, gehört hinein in die Geschichte der Ästhetik des
Widerstands.
Zugleich aber will der Dichter die
Lehre, den geschichtlichen Gehalt aus dem Exemplum ziehen. Er kleidet sich wie
in allen großen Texten der Frühen Neuzeit in das Gewand der Religion,
das immer geschmückt ist von den Farben der Utopie, des erlösten
Lebens. Es gibt Überzeugungen, es gibt ein Wissen, die dem Tage entzogen
sind, bestimmt, ihn zu überdauern. Der Übereinstimmung des Menschen
mit sich selbst ist die Hoffnung beigesellt, daß das ihm zuinnerst
Zugehörende über seine Erdentage hinaus bleiben wird. Das, was Ziel
der Guten war, die sich dem Wüten widersetzten, wird verwandelt eingehen in
die Ewigkeit: "Was um und um wird sein wird alles
Frieden heißen
Da wird sich keiner nicht um
Land und Leute reissen
Da wird kein Ketzer sein,
kein Kampf, kein Zank, kein Streit
Kein Mord, kein
Städtebrand, kein Weh, kein Hertzeleid
Dahin
dahin gedenkt in diesen schweren Kriegen,
In
dieser bösen Zeit, in diesen letzten
Zügen
Der nunmehr-kranken Welt; Dahin, dahin
gedenkt
So läßt die Todesfurcht euch
frei und ungekränkt." [32]
Das ist
die Erfüllung der deutschen Poesie in ihrer ersten Phase bei Ausbruch des
Dreißigjährigen Krieges. Sie wird genügend Gelegenheit erhalten,
sich während der drei kommenden Jahrzehnte immer wieder neu zu
bewähren.
ANMERKUNGEN
1. Die Grundzüge dieses hier nur angedeuteten Bildes habe ich in einer Reihe
von leicht greifbaren Lexikon-Artikeln, die auch reichlich weiterführende
Literatur bieten, ausführlicher entwickelt. Vgl. Garber 1996 sowie Garber
1990. Vgl. auch den die Frühneuzeit-Sequenz abschließenden
Epochen-Artikel Garber 1996a.
2. Eine neuere
Darstellung der Literatur des späten 15. und des 16. Jahrhunderts in
Deutschland fehlt. Vgl. Füssel 1993; Müller
1984.
3. Die Anfänge der neueren deutschen
Literatur sind vor allem von Erich Trunz und Leonard Forster erforscht worden.
Ihre Beiträge sind zusammengefaßt in Trunz 1995 und Forster
1977.
4. Zu diesen allgemeinen Gesichtspunkten der
Bewertung der Barockliteratur vgl. Garber u.a.
1991.
5. Vgl. zu diesem Zusammenhang mit der
weiteren Literatur Garber 1986.
6. Dazu umfassend
Trunz 1992.
7. Kühlmann
1990.
8. Hock 1899, S. 31 (Schreibung hier und im
folgenden modernisiert).
9. Aus der reichhaltigen
Literatur soll hier nur auf das schöne Buch Peuckert 1973 verwiesen werden,
das diesen Kosmos erstmals erschloß. Zu Schlesien als geistiger Landschaft
vgl. vor allem Schöffler 1956.
10. Dazu
zuletzt mit der ganzen Literatur: Seidel 1994.
11.
Zu Opitz bislang am umfassendsten mit der Literatur zum literarhistorischen und
geschichtlichen Kontext: Garber 1984.
12. Opitz
1888, S. 117f. (Übersetzung von
Witkowski).
13. Ein umfassendes Portrait der
späthumanistischen Pfalz fehlt bislang. Vgl. Kühlmann/Wiegand
1989.
14. Zu Weckherlin die maßgebliche
Biographie von Forster 1944 sowie die in Forster 1977 zusammengestellten
Arbeiten zu Weckherlin.
15. Mertens
1974.
16. Sie erschien als Anhang zu den
gleichfalls von Zincgref herausgegebenen Gedichten des Martin Opitz (vgl. unten
Anm. 24) und ist separat neugedruckt: Zincgref 1879. Hiernach im folgenden
zitiert. Zu Zincgref vgl. den Beitrag von Axel E. Walter in diesem
Katalog.
17. Zincgref 1879, S. 20. Vgl. auch den
textkritischen Abdruck in Weckherlin 1968, I, S. 24f. Das Gedicht steht auch in
der von Weckherlin verfaßten Festbeschreibung anläßlich der
Taufe des Prinzen Friedrich von Württemberg. Vgl. Krapf/Wagenknecht 1977,
S. 159.
18. Zincgref 1879, S.
62.
19. Vgl. dazu jetzt umfassend Garber/Wismann
1996.
20. Eine neuere Darstellung fehlt. Letzte
Zusammenfassung mit umfänglicher Literatur bei Garber
1990a.
21. Vgl. dazu die Quellenpublikation von
Conermann 1985 sowie die Quellenpublikation Bircher/Conermann
1991ff.
22. Garber
1986a.
23. Vgl. die Schlußkapitel in der
großartigen Epochendarstellung bei Gillet 1860. Zu der unter diesen
Aspekten immer noch gänzlich unzureichend erforschten politischen
Geschichte des Späthumanismus vgl. Fleischer
1984.
24. Opitz 1902, S. 148. Auch wiederzufinden
in der kritischen Ausgabe Opitz 1968ff., II/1, S. 216f. Hier S. 218-290
Wiederabdruck der Zincgrefschen Anthologie (vgl. Anm.
16).
25. Vgl. dazu den Beitrag von Wilhelm
Kühlmann in diesem Band.
26. Vgl. dazu den
Beitrag von Hartmut Laufhütte in diesem Band. Parallel dazu Garber 1998.
Eine Darstellung der europäischen Hirtendichtung unter dem angedeuteten
Gesichtspunkt fehlt. Vgl. vorläufig Garber 1982 und den entsprechenden
Beitrag in diesem Band.
27. Der einzige komplette
Neudruck findet sich im ersten Band von Opitz 1968ff., S. 187-266. Zitat S.
192.
28. Opitz 1968ff., I, S.
195.
29. Opitz 1968ff., I, S.
195.
30. Opitz 1968ff., I, S.
238.
31. Opitz 1968ff., I, S.
205f.
32. Opitz 1968ff., I, S.
262.
© 2001 Forschungsstelle "Westfälischer Friede", Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Domplatz 10, 48143 Münster, Deutschland/Germany. - Stand dieser Seite: 2. Mai 2002