DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur |
JAN KNOPF "Der Friede - das Loch, wenn der Käs gefressen ist" Der Dreißigjährige Krieg im Werk Bertolt Brechts |
Vorweg eine kleine historische Reminiszenz: In Johann Rists Drama "Irenaromachia" von 1630 gibt es eine Szene, in der Irene, als Personifikation des Friedens vom Himmel herabgestiegen auf der Suche nach einer irdischen Heimstatt, dem Bauern Rusticus die Segnungen des Friedens preist. Dieser jedoch antwortet ihr, im Frieden sei ihm die Obrigkeit
viel zu unsicher, weil sie die armen "Hußlüde" ausnehme ("schere").
Deshalb sei ein ordentlicher Krieg viel besser als "solck böß Frede".
Durch einen Raubzug in einer Woche sei mehr zu holen als mit einem halben Jahr
harter Arbeit im Frieden. So findet der Friede kein Heim auf
Erden. [1]
Berthold Eugen Friedrich
Brechts [2] Schulweg in Augsburg führte täglich an der
Schwedenstiege vorbei. Dort steht (auch heute noch) der "Steinerne Mann", das
Denkmal eines Bäckers, der die Stadt im Dreißigjährigen Krieg
vor den Belagerern retten wollte. Der Bäcker nutzte die mit dem letzten
Mehl gebackenen Brotlaibe als Wurfgeschosse und täuschte so vor, daß
die Augsburger keinen Hunger litten. Die Belagerer töteten den Mann.
Für seine Tat ehrte ihn die Stadt mit einer Statue, deren Nase, so man sie
reibt, angeblich Glück bringen soll (entsprechend sieht die Nase heute
aus).
Brecht wuchs folglich - es ist zu vermuten,
daß er über die Bedeutung des "Steinernen Mannes" früh
informiert wurde - mit dem beinahe täglichen Gedenken an den
Dreißigjährigen Krieg auf. Die Augsburger gehen sogar so weit zu
behaupten, daß es eben dieser Stein sei, den Brecht im Stück "Mutter
Courage und ihre Kinder" in der Gestalt der stummen Kattrin zum modernen
Bühnenleben erweckt habe. [3] Vor der Szene 11 heißt es
nämlich im Titel: "Der Stein beginnt zu reden." [4] Kattrin hat als
Kind bei einem Überfall ihre Stimme verloren. So muß sie mit der
Trommel "reden", um die Kinder der Stadt Halle zu retten. Auch sie "bezahlt" wie
der Bäcker ihre tapfere Tat mit dem
Tod.
Abgesehen von einem fragmentarischen Gedicht
über die in Altötting aufgebahrte Leiche Tillys [5], einer in
Versen geschriebenen Rezension über ein Stück von Wilhelm Schmidtbonn,
"Der Graf von Gleichen" [6], das während des
Dreißigjährigen Krieges spielt, und der Erzählung bzw.
späteren Kalendergeschichte "Der Augsburger Kreidekreis" [7], die
als Handlungshintergrund Kriegsereignisse in Augsburg aus den Jahren zwischen
1635 und ca. 1640 aufweist, konzentriert sich die Rezeption des Krieges bei
Brecht auf das Drama "Mutter Courage und ihre Kinder" [8] (entstanden
1939/40) sowie auf das für eine Verfilmung des Stücks vorgesehene
Drehbuch "Mutter Courage" [9] (entstanden zwischen 1949 und 1955). Wenn
dies auch auf den ersten Blick ein etwas dürftiger Befund sein mag, so wird
der Mangel dadurch ausgeglichen, daß der Krieg in Stück und Drehbuch
keineswegs bloße Staffage ist; vielmehr steht er ganz im Zentrum der
Handlung und bildet Brechts eigentliches
Thema. [10]
Bei poetischen Werken kann die
Fragestellung nicht lauten, ob der Autor die "historischen Tatsachen" im Sinn
der Historiographie sachgerecht umgesetzt hat. Prinzipiell gilt für
Dichtung: Sie ist Fiktion und alle - auch die historisch nachweisbaren Fakten
und Personen - haben nicht ihren besonderen geschichtlichen "Sinn", sondern
erhalten durch den poetischen Kontext eine Bedeutung, die ihre historische
Fixiertheit transzendiert. Umgekehrt heißt dies auch: Es sind dem Dichter
weder historische "Fehler" noch historische Unkenntnis anzukreiden. Die Frage
hat vielmehr zu lauten, ob es dem Dichter gelungen ist, die historischen Fakten,
die seinen konkreten Stoff bilden, so zu arrangieren, daß sich aus ihnen
eine überzeugende und "große" Fabel ergibt. Deren historischer
Ausgangspunkt sollte nicht beliebig sein, sondern die Grundlage bilden, um
Übertragungen (auf andere Kriege) zuzulassen und umfassendere Bedeutung,
als sie das historische Faktum hat, auszubilden. In diesem Sinn werde ich im
folgenden das Stück sowie skizzenhaft das wenig beachtete Drehbuch befragen
und dabei Aspekte ansprechen, die in den bisher vorliegenden Interpretationen
der Werke [11] eine geringe oder auch keine Rolle gespielt
haben.
Brecht hat seinem Stück den Untertitel
"Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg" gegeben und sich damit
scheinbar auf ein bloßes Historienstück oder, salopp gesagt, auf
einen Historienschinken festgelegt, denn der Terminus "Chronik" kündigt
mehr eine historiographische als eine poetische Gattung an. In einem
Gespräch, das er 1949 mit dem Dramatiker Friedrich Wolf führte, hat
Brecht den Begriff präzisiert. Das Stück stelle "natürlich keinen
Versuch dar, irgend jemand von irgend etwas durch die Ausstellung nackter
Tatsachen zu überzeugen"; Tatsachen ließen "sich nur selten in
nacktem Zustand überraschen, und sie würden auch nur wenige
verführen". Nötig sei vielmehr, "daß Chroniken
Tatsächliches enthalten", daß sie "realistisch" sein
müßten und entsprechend die Zuschauer zur Kritik herausforderten, was
durch bloße "Objektivität" nicht zu erreichen
sei. [12]
Das Faktum ist als solches
durchaus "gegeben", aber nicht in geschichtsloser "Objektivität", sondern
als (notwendige) Herausforderung, zu ihm Stellung zu beziehen - und zwar sowohl
vom (ebenso vorgegebenen) historischen Standort aus als auch durchaus unter dem
aktuellen Gesichtspunkt von (subjektiven) Überzeugungen. Letztere werden um
so notwendiger, wenn die zeitgenössische Situation - und das war am
Vorabend des Zweiten Weltkrieges der Fall - des Autors Parteinahme geradezu
herausfordert.
Es ist aufgrund der
lückenhaften Überlieferung nicht mehr genau zu rekonstruieren, wann
Brecht sein Stück wirklich begonnen hat. [13] Im Erstdruck
jedenfalls legt er Wert auf die Feststellung, die "Courage" habe er "in
Skandinavien vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges" geschrieben und mit
seinem Stück entsprechend auf den Weltkrieg hingewiesen. [14]
Spätestens seit 1936 war Brecht überzeugt, daß Hitler nicht nur
den Krieg vorbereitete, sondern ihn auch führen werde und daß dieser
Krieg ein "großer" würde. Außerdem beobachtete er besorgt,
daß seine skandinavischen Gastländer (Dänemark und Schweden)
bereit waren, von der Aufrüstung Deutschlands geschäftlich zu
profitieren, was sich in zwei Einaktern aus dem Sommer 1939, "Dansen" und "Was
kostet das Eisen?", niederschlug. Diese zeitgenössische Situation und die
antifaschistische Überzeugung des Autors, der mit seinen Mitteln am Kampf
gegen Hitler und Krieg teilnehmen wollte, legten die Wahl eines historischen
Stoffes nahe, der sowohl die Gastländer vor einer unheilvollen Verstrickung
warnen als auch die "Größe" des kommenden Krieges am historischen
Beispiel thematisieren konnte. Das war der Dreißigjährige Krieg, vor
den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts "der" Krieg überhaupt - mit dem
"Ergebnis", daß er Europa, allen voran die deutschen Länder,
verwüstet und niemandem "genützt" hatte, von den vielen Opfern zu
schweigen.
Brecht wählte die Form der Chronik
- die er als deutsches Äquivalent zur Bezeichnung "History" des
elisabethanischen Theaters verstand -, um gleichsam die geschichtlichen
Abläufe selbst ins Zentrum stellen und die Reaktionen der Figuren an ihnen
messen zu können. [15] Ähnlich wie Friedrich Schiller mit
seiner "Wallenstein"-Trilogie verfolgt der moderne Autor die Intention, den
historischen Stoff als Spiegel der eigenen Zeitsituation zu nutzen. Im Gegensatz
aber zu Schiller, der "der Menschheit große Gegenstände" verhandelte
und mit der monumentalen Dreigliederung auf Totalität zielte, verweigerte
Brecht von vornherein dem Stoff alle Aspekte solcher "Größe": Die
eigentlichen Geschichtemacher - seien es Politiker wie Axel Graf Oxenstierna,
der schwedische Reichskanzler (ab 1612), der bei Brecht zum Feldhauptmann
wird [16], seien es Kriegshelden wie Johann Tserclaes Graf von Tilly,
der oberste Befehlshaber der kaiserlichen Truppen (seit 1630), der nur als
Leiche vorkommt [17] - bleiben ausgeblendet oder geraten nur über
das Hörensagen ins Spiel, und ausdrücklich handelt es sich nicht um
eine Chronik "des" Dreißigjährigen Krieges, sondern um eine Chronik
"aus" dem Dreißigjährigen Krieg.
Brecht
wählt spezifische Ausschnitte, die freilich trotz ihrer nur locker
verknüpften, "epischen" Anlage ein roter Faden durchzieht: die zunehmende
Verrohung und Verelendung der betroffenen Figuren durch das Kriegsgeschehen
sowie die Konzentration der Handlung auf die - ebenfalls historisch
verbürgten - Auseinandersetzungen zwischen der verwilderten Soldateska und
den Bauern. [18]
Die Handlungszeit des
Stücks umfaßt knapp zwölf Jahre, konkret den Zeitraum vom
Frühjahr 1624 bis zum Januar 1636. Der Krieg wird am Ende des Stücks
entsprechend der Handlungszeit weitere zwölf Jahre dauern. Am Beginn ist
die Courage noch relativ wohlhabend (der Verlust des Zugtiers ist schon
vorausgesetzt), und sie hat noch ihre drei Kinder (Kattrins Stummheit ist
freilich bereits Folge des Kriegs). [19] Am Ende zieht sie mit fast
leerem Wagen "den immer zerlumpteren Heeren" nach, ihre Kinder sind tot, und der
"Krieg ist noch lange nicht zu Ende". Ihr Zug hat seinen Ausgangspunkt im
nördlichen Mittelschweden (Dalarna), führt sie nach Polen,
Mähren, Bayern, Italien, dann wieder zurück nach Bayern, Magdeburg und
endet vorläufig in Halle. Der Schluß des Stücks - die Courage
schließt sich erneut den Truppen an - scheint offen zu sein, da die
Handlung nicht "tragisch" mit ihrem Tod endet. Das historische Faktum aber,
daß der Krieg noch lange andauern wird, hat implizit ihren Tod
beschlossen: Die zwölf Jahre Handlungszeit haben die Verluste drastisch
genug vor Augen geführt, die noch ausstehenden zwölf Jahre werden
nicht weniger verlustreich sein.
Die Geschichte
selbst setzt also das Ende. Die scheinbare Aussparung des traditionell
tragischen Schlusses gilt der Überführung des fiktiven Geschehens in
die geschichtliche Wirklichkeit und fordert damit - ohne es wie z.B. im "Guten
Menschen von Sezuan" ("Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den
Schluß!") [20] explizit auszusprechen - die Zuschauer auf, das
Urteil zu fällen und "Lösungen" nicht auf der Bühne zu erwarten,
sondern in der gesellschaftlichen Realität selbst zu
suchen.
Die geschichtlichen Fakten entscheiden
nicht nur über den Schluß des Stücks, indem sie Einspruch
erheben gegen die Illusionen der Courage, die meint, weiterhin ihren "Schnitt"
machen zu können, sie entscheiden auch den Handlungsverlauf. Brecht setzt
den Szenen "epische" Inhaltsangaben voraus, die in der Mehrzahl der Fälle
nach dem Muster funktionieren, historische Daten aus der Geschichte des
Dreißigjährigen Krieges mit den privaten Daten der Courage zu
verknüpfen: "Frühjahr 1624. Der Feldhauptmann Oxenstjerna wirbt in
Dalarne Truppen für den Feldzug in Polen. Der Marketenderin Anna Fierling,
bekannt unter dem Namen Mutter Courage, kommt ein Sohn
abhanden." [21]
Der schwedisch-polnische
Krieg (1621-1629), der Schwedens Eingreifen in den Dreißigjährigen
Krieg (ab 1630) vorangeht, bildet die historisch-faktische Voraussetzung
für die Handlung. Die Tatsache, daß die Heere aus Söldnern
gebildet worden sind, wird dem ersten Sohn der Courage, Eilif, zum
Verhängnis, indem der Werber den Handel, den die Courage mit dem
Feldhauptmann führt, ausnützt und Eilif für das schwedische Heer
einkauft. Die Parallele - Menschenhandel im Krieg und scheinbar friedlicher
Handel der Courage - ist deutlich akzentuiert; beide Händler haben Erfolg.
Der geschäftliche Gewinn der Courage freilich bedeutet für sie
zugleich menschlichen Verlust, der sprachlich aber ausdrücklich als
Sachverlust formuliert wird. Eilif kommt der Mutter wie eine Sache "abhanden".
Der Krieg degradiert die ihn "ausführenden" Menschen zum "Material". Brecht
projiziert damit eine Erfahrung, die sich historisch erst in den sogenannten
Materialschlachten des Ersten Weltkriegs niederschlug, in den
Dreißigjährigen Krieg zurück - und zwar als eine Erfahrung, die
die Geschichte schon bereitgehalten hat, die aber nicht erkannt worden
ist.
Diesem Muster folgen fast alle weiteren
Szenen: Die Ereignisse des Krieges bestimmen den Weg der Courage durch Europa
und die gesamte Handlung des Stücks. Da die Courage überzeugt ist, vom
Krieg profitieren zu können, kann sie stets nur auf die Fakten, die der
Kriegsverlauf setzt, reagieren. Zur eigenen Aktion kommt sie nie, weil sie sich
weigert, aus ihren Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen. Die Courage handelt
nicht, sie wird gehandelt. Entsprechend der zunehmenden "Zerlumpung" der
Söldnerheere verläuft die der
Courage.
Brecht war sich, wie dann die Rezeption
des Stücks zeigte, der Gefahr dieser Handlungskonzeption offenbar nicht
bewußt. Die Übermacht der Fakten markiert die Courage deutlicher als
Opfer des Kriegs denn als Mittäterin, als die Brecht die Figur
ausdrücklich verstanden wissen wollte: Indem die Courage meint, am Krieg
verdienen zu können, trägt sie entschieden dazu bei, ihn "am Leben" zu
halten, was Brecht immerhin so weit getrieben hat, daß der nur kurz
"ausbrechende" Friede [22] ihr geradezu als geschäftliches Desaster
erscheint. Zu zeigen war für Brecht, daß die Courage nichts lernt,
damit die Zuschauer um so mehr aus ihrem Fehlverhalten lernen
könnten. [23]
Ein weiteres Faktum des
Dreißigjährigen Krieges, daß nämlich erstmals die
Auswirkungen der Heereszüge der "Geschichtemacher" für die
Zivilbevölkerung verheerender als für die Betreiber des Kriegs
waren [24], bildet den Ausgangspunkt, um einen anderen als den gewohnten
Blick auf die Geschichte zu werfen. Programmatisch hat Brecht den "Blick von
unten" in seinem Gedicht "Fragen eines lesenden Arbeiters" entwickelt:
"Cäsar schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei
sich?" [25] Obwohl die Fakten der "großen" Geschichte die Handlung
bestimmen, bleibt die Handlung stets auf der Ebene der "kleinen Leute". Anders
als im Gedicht, in dem der Arbeiter die traditionelle Historiographie polemisch
danach befragt, welche Rolle ihm in ihr zugedacht ist (nämlich keine),
spielen im Stück nur die kleinen Leute eine (und ihre) Rolle. Auch die
Erfahrung aus den modernen Kriegen, daß die Zivilbevölkerung die am
stärksten betroffene Gruppe des Kriegs stellt, wäre schon aus dem
Dreißigjährigen Krieg zu ziehen gewesen. Desto schärfer
läßt sich das Mißverständnis der Courage, am Krieg
"friedlich" verdienen und sich zugleich vor seinen Folgen schützen zu
können, herausarbeiten. In solch globalen Kriegen wird jeder, der nicht
aktiv Widerstand leistet, zum Mittäter; zum Opfer bestimmt sind die
"kleinen Leute" allemal.
Ein weiteres Thema, das
Brecht dem historischen Stoff entnehmen konnte, ist die Rolle der Ideologie, die
die Kriegsführung - in diesem Fall der Schweden - zu begründen hatte.
Daß der Dreißigjährige Krieg, insbesondere das Eingreifen der
Schweden in ihn, der Herstellung der Glaubensfreiheit gegolten habe, der Krieg
selbst ein "Glaubenskrieg" gewesen sei, war lange Zeit ein Deutungsmuster des
Geschichtsunterrichts und wird auch heute noch in der Historiographie
diskutiert. [26] Das Stück thematisiert den Topos nicht nur in der
dubiosen Figur des Feldpredigers, der angesichts der kriegerischen Ereignisse
kurzerhand das Hauptgebot der christlichen Nächstenliebe als überholt
verabschiedet [27], sondern auch dadurch, daß diese Sichtweise im
Text direkt angesprochen wird. Als Eilif seine angebliche Heldentat - Bauern zu
überfallen und ihnen ihr Vieh zu rauben - begangen hat, erklärt ihn
der Feldhauptmann zum "frommen Reiter", der die Tat "für Gott" "in einem
Glaubenskrieg" ausgeführt habe. [28] Später wird Eilif wegen
einer ähnlichen Tat (allerdings im Frieden begangen) standrechtlich
erschossen. An einer anderen Stelle führt der Koch aus, daß zwar auch
in diesem Krieg "gebrandschatzt, gestochen und geplündert wird, bissel
schänden nicht vergessen", aber er unterscheide sich doch von
"gewöhnlichen" Kriegen dadurch, daß er ein "Glaubenskrieg" "und also
Gott wohlgefällig" sei. [29]
Die
Diskrepanz zwischen der ideologischen Begründung und dem ihr zugeordneten
Verhalten der Figuren in den zitierten Beispielen verweist nur allzu deutlich
auf die Hohlheit und beliebige Einsetzbarkeit des Glaubenstopos sowie auf die
wirklichen, materiellen Gründe, die der Feldprediger gegenüber der
Courage anspricht: "[...] wenn ich Sie den Frieden entgegennehmen seh wie ein
altes verrotztes Sacktuch, mit Daumen und Zeigefinger, dann empör ich mich
menschlich; denn dann seh ich, Sie wollen keinen Frieden, sondern Krieg, weil
Sie Gewinne machen, aber vergessen Sie dann auch nicht den alten Spruch: 'Wer
mitn Teufel frühstücken will, muß ein langen Löffel
haben!'" [30]
Die Umkehr der "normalen"
oder "natürlichen" Verhältnisse, die der Krieg bedeutet und die Brecht
wiederum aus dem historischen Stoff mühelos entwickeln kann, vollzieht das
Stück sowohl auf der Handlungsebene als auch vor allem sprachlich und damit
verbunden als "Umwertung der Werte". Die Familie der Courage ist aufgrund ihres
Berufs als Marketenderin zusammengewürfelt: Jedes Kind hat einen anderen
Vater. Die Courage erklärt dies als "natürlich". [31] Krieg
ist nicht Unordnung, sondern schafft überhaupt erst Ordnung: "Ich bin",
sagt der Feldwebel, "in Gegenden gekommen, wo kein Krieg war vielleicht siebzig
Jahr, da hatten die Leut überhaupt noch keine Namen, die kannten sich
selber nicht. Nur wo Krieg ist, gibts ordentliche Listen und Registraturen
[...], wird Mensch und Vieh sauber gezählt und weggebracht, weil man eben
weiß: Ohne Ordnung kein Krieg!" [32] Diese Logik führt
unerbittlich zu dem Schluß, daß nur der Krieg geordnetes
Zusammenleben und menschliche Selbsterkenntnis gewährleisten könne.
Seine Unmenschlichkeit ist wie selbstverständlich in eigentliche
Menschlichkeit umgeschlagen und bereits so gewohnt, daß sie als
"natürlich" und dann auch als von Gott gegeben gelten
kann.
Wie in keinem anderen Stück häufen
sich in der "Courage", mit den inhaltlichen Umkehrungen korrespondierend,
sprachliche Wendungen, die buchstäblich alles auf den Kopf stellen. So
rühmt der Feldprediger vor der Courage seine Rednerkunst: "Ich kann ein
Regiment nur mit einer Ansprach so in Stimmung versetzen, daß es den Feind
wie eine Hammelherd ansieht. [...]. Gott hat mir die Gabe der Sprachgewalt
verliehen. Ich predig, daß Ihnen Hören und Sehen
vergeht." [33] Der Künder von Gottes Wort entlarvt sich
hochmütig als der beste Propagandist des Krieges. Berühmt wurde
Courages Ausspruch: "Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen
ist" [34], in dem sie nach dem gewohnten Wortgebrauch ein Nomen und ein
Prädikat, die sich gegenseitig ausschließen, verbindet. Eine solche
oxymerische Verbindung erreicht doppelten Zweck: Der als normal geltende
Sprachgebrauch, daß Kriege "ausbrechen", wird als euphemistisch entlarvt -
Kriege werden von Menschen mit ihren materiellen Interessen ausgebrochen und
sind keine Naturereignisse -, und sie stellt zugleich die Sprecherin bloß:
Sie hat neue Waren eingekauft und braucht für deren Absatz den Krieg. Die
Courage räsoniert beim Einfall der Schweden in Polen darüber,
daß sich die Polen nicht "in ihre eigenen Angelegenheiten" hätten
einmischen sollen und sich dadurch des "Friedensbruchs schuldig gemacht"
hätten. [35] Es sind Sprachregelungen der "Rechtfertigung", mit
denen Brecht einerseits wiederum ein Faktum des Dreißigjährigen
Krieges trifft - den Einfall der Schweden mit entsprechender religiöser
Propaganda in Polen -, andererseits zugleich Parallelen zum "Ausbruch" des
Zweiten Weltkriegs herstellt, nämlich zum Einfall der Hitlertruppen in
Polen, der angeblich der "Befreiung" Danzigs und damit als "deutsche"
Angelegenheit galt, aus der sich die Polen gefälligst "rauszuhalten"
hätten.
Die weitestgehende Formulierung
stellt meines Erachtens das Sprachbild vom Käse dar. Der Feldprediger
antwortet auf die Frage des Schreibers, was denn nun aus dem Frieden werde, mit
der Gegenfrage: "Was wird aus dem Loch, wenn der Käs gefressen
ist?" [36] Was in Christian Morgensterns Gedicht vom Lattenzaun - "mit
Zwischenraum, hindurchzuschaun" - noch scherzhaft, wenn auch nicht ohne
Irritation ist [37], bringt Brechts sprachliches Bild satirisch auf die
brutale Konsequenz: Der Krieg läßt nichts übrig, was dann noch
Frieden zu nennen wäre. Was als "Frieden" bezeichnet wird, ist in Wahrheit
nur das Loch, um das der nächste Krieg wieder den Käse anzusetzen hat,
der illusionär ein weiteres großes Fressen verspricht und doch nur
wieder ein Loch
hinterläßt.
Tatsächlich stellt das
Käsebild die Quintessenz des Stücks dar. Solange der Handel, den auch
die kleinen Leute betreiben, nicht selbst bereits als Krieg (mit nur scheinbar
friedlichen Mitteln) erkannt wird, so lange wird es auch keinen wirklichen
Frieden geben. Nicht der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln, der Handel vielmehr - sei es auf der Grundlage feudaler, sei es auf der
Grundlage kapitalistischer Wirtschaftsordnung - ist der Krieg, der
vorübergehend nur auch mit anderen (sprich: "friedlichen") Mitteln
geführt wird. Auch hier nutzt Brecht den Dreißigjährigen Krieg,
der für die Zeitgenossen die Zeitdauer etwa einer Generation bedeutete, als
historischen Beweis. Seine eigentlich unvorstellbare Länge und die
Tatsache, daß ihm durch die Jahrhunderte hindurch in ganz Europa weitere
Kriege folgten, bestätigen, daß die Geschichte nicht aus der Abfolge
von Krieg und Frieden besteht, sondern aus einer Kette von Kriegen, die
gelegentlich - mit einer Formulierung des Stücks gesagt -
"verschnaufen" [38] müssen. Die Geschichtsschreibung bestätigt
den Sachverhalt, indem sie - wie der lesende Arbeiter konstatiert - "Jede Seite
ein(en) Sieg" und "Alle zehn Jahre ein(en) große(n) Mann"
verzeichnet. [39] "Immer doch / Schrieb der Sieger die Geschichte des
Besiegten. / Dem Erschlagenen entstellt / Der Schläger die
Züge". [40]
Daß diese wenig
hoffnungsvolle Einschätzung der Erfahrungen, die die Historie
bereitgestellt hatte und die im europäischen Krieg des 17. Jahrhunderts
einen weiteren grausigen Höhepunkt fanden, "realistisch" war, bewies der
Beginn des Zweiten Weltkriegs, der bisher ungekannte Schlächtereien mit
sich brachte und der nach seiner Beendigung aufgrund von Folgekriegen und des
einsetzenden "Kalten Krieges" durchaus nicht beendet war. Brecht jedoch hoffte -
nach Europa (in die Schweiz), aber noch nicht nach Deutschland aus dem Exil
zurückgekehrt -, jetzt wenigstens mit dem Stück eine Wirkung erzielen
zu können, die es ermöglichte, daß die Zuschauer mit seiner
Hilfe endlich aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs lernten. Deshalb
bemühte er sich nach dem Krieg um eine Inszenierung der "Courage" in
Berlin, die am 11. Januar 1949 im Deutschen Theater Premiere hatte.
Erklärtes Ziel war zu zeigen: "Daß die großen Geschäfte in
den Kriegen nicht von den kleinen Leuten gemacht werden. Daß der Krieg,
der eine Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln ist, die
menschlichen Tugenden tödlich macht, auch für ihre Besitzer. Daß
für die Bekämpfung des Krieges kein Opfer zu groß
ist." [41] Die Aufführung wurde zwar ein sensationeller Erfolg, die
Wirkung entsprach jedoch so ziemlich dem Gegenteil dessen, was angestrebt war.
Die Figur der Courage wurde als "eine humanistische Heilige aus dem Stamm der
Niobe und der Schmerzensmutter" verstanden, die ohnmächtig zusehen
muß, wie ihre Kinder vernichtet werden. Das Stück zeige, so die
Kritik, "die Ohnmacht des Menschen vor dem geschichtlichen
Schicksal" [42] und werde so zum Ausdruck "der großen Kapitulation
des Volkes", das sich "kampflos dem angeblich unerbittlichen historischen
Schicksal" unterwirft. [43] Brecht war zum Geschichtsfatalisten
abgestempelt worden.
Brechts Reaktion war die
forcierte Aufnahme des Plans, die "Courage" zu verfilmen und mit dem Film seine
Intention schärfer zu akzentuieren. [44] Über fünf Jahre,
bis zum Abbruch der Dreharbeiten im August 1955, beschäftigte sich der
Stückeschreiber nochmals mit dem Stoff, den er so einschätzte: "Das
Stück Mutter Courage und ihre Kinder zeigt einen Krieg (den
Dreißigjährigen Krieg), der offiziell als großer Glaubenskrieg
aufgezogen ist, in Wirklichkeit aber für materielle Gewinne, Vorrechte und
Machtzuwachs geführt wird. Im Stück wird dies immerfort ausgesprochen,
im Film kann es gezeigt werden. [...] Klarer noch als das Stück
muß der Film zeigen, daß die Wirklichkeit die Unbelehrbaren
bestraft." [45]
Neben der radikalen
Zurücknahme der Titelfigur, deren große Sprechpartien im Stück
auf ein Minimum reduziert sind und die nun als die "Hyäne des
Schlachtfelds" erscheint, als die sie im Stück bereits bezeichnet
wird [46], neben dem Ausbau der stummen Kattrin als positive Gegenfigur
zur Courage und anderen, rückt Brecht vor allem Einzelheiten des
Kriegsgeschehens in den Mittelpunkt der Handlung und verdichtet so die
Darstellung der verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges
entschieden. Die Handlungszeit ist in den Zeitraum von 1630 bis 1643 verlegt.
Der Film beginnt damit, daß die Courage alle Mühen unternimmt, nach
Usedom zu gelangen, wo die Schweden eingefallen und Kriegsgewinne zu erwarten
sind. Zunächst auf kaiserlicher Seite, fällt sie in schwedische
Gefangenschaft, um sich bald wieder bei den Kaiserlichen zu sehen: Sie
hängt jeweils ihr Fähnchen in den Wind der momentan siegreichen Partei
und erkennt am Ende nicht, daß der Widerstand der Bauern erste Erfolge
zeitigt (Brecht versuchte im Film in den Bauern eine Gegenkraft zu zeigen, die
es historisch so nicht gab).
Die Soldateska
begegnet der Courage als Vielvölkergemisch, das sich durch "babylonische
Sprachverwirrung" auszeichnet; sie erhält ihre eigene Handlung, die sich
ausprägt in Greueltaten, an denen die zunehmende physische Verrohung und
psychische Verrottung der Soldaten erkennbar wird. Auch elternlose,
herumstreunende Kinder, die sich durch Überfälle regelrecht
durchschlagen, erhalten eine eigene Szene. In der Tendenz liefen diese
Veränderungen darauf hinaus, ein breites Spektrum des
Dreißigjährigen Krieges zu zeigen, das Grimmelshausens realistische
Schilderungen der Zeit - der "Courasche"-Roman und der "Simplicissimus" standen
für das Stück bereits Pate - im anderen Medium erneuerte. (Brecht
wollte bei den Aufnahmen Daguerreotypienoptik, schwarz-weiß mit
Braunfärbung, verwenden, die filmisch die Technik des epischen Theaters
umgesetzt hätte.) Die äußeren Fakten, die das Stück
dominieren, treten zurück zugunsten der im Film direkt gezeigten
Kriegsgreuel, an denen die Courage aktiv mitwirkt oder die sie ihrer
Geschäfte wegen duldet und damit mitverantwortet. Die Verlegung der
Ereignisse in den "teutschen Krieg" und an sein Ende war da nur konsequent: Die
Auswirkungen eines neuen "totalen" Krieges standen dem potentiellen Publikum
noch unmittelbar vor Augen.
Wiederum aber weigert
sich Brecht, im Kunstwerk Lösungen zugunsten einer Veränderung zu
gestalten. Wie im Stück bildet auch im Film Kattrins aktiver Widerstand das
Ende: Sie weckt mit ihrem Trommeln die Bewohner der Stadt Friedberg und
verhindert so den nächtlichen Überfall durch marodierende Kroaten.
"Der Stein beginnt zu reden". Die Sprachmetapher verweist erneut auf die
gesellschaftliche Realität: Angesichts der Kriegsgreuel und der
Zerstörungen gibt es als Alternative nur die "Sprache" der
widerständigen Tat. Vor ihr wird alles andere, sei es auch noch so gut
gemeintes Reden zum Geschwätz. Zugleich bekundet der Dichter seine eigene
Ohnmacht: Auch seine Sprache versagt, wenn die Wirklichkeit
versagt.