DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur |
WERNER BRAUN Krieg und Frieden im Geistlichen Lied |
I. Spektrum des Liedes
Seit Martin Luther war das "Geistliche
Lied" Programm und Begriff. Es besteht wie das weltliche Lied als
einprägsam-schlicht gesungene Strophendichtung, das Attribut betont den
inhaltlichen Gegensatz zu Freud und Leid der geschlechtlichen Liebe. Luther
dachte vor allem an den neuen Gottesdienst, später verlangte mehr und mehr
die Privatandacht ihr Recht. Und da ab etwa 1630 Martin Opitz auf das deutsche
Lied einzuwirken begann, ist diese Kultur im Barockzeitalter von einer schwer zu
durchschauenden Vielfalt geprägt. Nach den gängigen
Bestimmungsmerkmalen "Stil", "Besetzung", "Funktion" und "Sozialbereich"
wäre das deutsche geistliche Lied im Dreißigjährigen Krieg als
mäßig modern, kompakt mehrstimmig, lehrhaft und schulchörig von
dem der zweiten Jahrhunderthälfte zu unterscheiden, das als modern,
solistisch, affektstark und privat aufgefaßt
wird. [1]
Solch grobe Festlegungen mittels
Idealtypen müssen auf Misch- und Sonderformen achten, denn das deutsche
Lied stand wie kein anderes sonst für einen großen Teil der
Vokalmusik schlechthin ein: Strophenliedtexte konnten zu Liedmotetten und hier
zu prägnanten Satz- und Klangtypen wie Liedtricinien ausgestaltet werden.
Dabei wäre wieder zwischen musikalisch-strophischer Repetition und
Durchkomposition zu unterscheiden. Natürlich gab es auch das geistliche
Liedkonzert und - um ein gänzlich andersartiges Modell zu nennen - das
propagandistische oder das bloß Nachrichten übermittelnde Marktlied,
das seinen "Thon" auslieh und dessen Botschaft - wie hätte es damals anders
sein können - ebenfalls ins Geistliche
reichte. [2]
In dem Gewirr der Formen und
Erscheinungen bildet der genannte Haupttyp eine Art Achse. Seine
eingeschränkte Modernität zeigt sich musikalisch im "Kantionalsatz",
dem meist vierstimmigen "Contrapunctus simplex" mit
Oberstimmenmelodie [3], ohne Textwiederholungen und fast ohne
Wortausdeutungen, denn die Folgestrophen hatten ja dieselbe Musik wie die
vertonte erste Strophe. Diese Klangform, die auch Nichtmusikern mitzusingen
erlaubt, war bei Ausbruch des Krieges etwa ein halbes Jahrhundert alt. Sie
paßt zu einer Dichtungsart, in der die Spuren von Opitz' Reform noch kaum
wahrzunehmen sind. Das Neue darin beschränkt sich auf die materialen
Merkmale: "ad hoc hergestellt" und damit "auf die Zeitereignisse latent oder
offen bezogen". Vielleicht kommt im Wort "Seufzer", das zwischen 1620 und 1640
besonders gern für das geistliche "Lied" verwendet wird, ein inhaltliches
Moment ins Spiel; die von Angst und Trost geprägte Inbrunst [4]
scheint darin enthalten. Und offenbar sind solche Texte nun häufiger
originalvertont als die Dichtungen zuvor. Zwar wird auch der alte
deutschsprachige "Choral" - das Lied der Reformationszeit - immer wieder
"gesetzt", aber nur das neue Lied hat gleich von Anfang an "seinen" Tonsatz. Die
mitgelieferten Alt-, Tenor- und Baßpartien machen es kompakt-mehrstimmig.
In den altlutherischen Ruf zur Buße ("Aus tiefer Not schrei ich zu dir",
1523) stimmt es nachdrücklich ein, denn Kriege galten als Strafgericht
für die Sünde. [5] Und da unter dem Eindruck der Katastrophe
die "haltung gewisser Bußpredigten [...] bey jetzigen hochgefehrlichen
zeiten" (1626) angeordnet war [6] und dabei auf das alte Liedgut
zurückgegriffen wurde, verliert der Unterschied zwischen einem kirchlichen
und einem geistlichen Lied weiter an Gewicht.
Das
für unseren Zeitraum maßgebliche Leipziger "Cantional" des Johann
Hermann Schein (1627) geht über die 1619 für die Betstunden genannten
fünf plus vier Gesänge (zu Beginn und Ende der Veranstaltung) hinaus
und bezieht 15 weitere Psalmdichtungen - sämtlich von Cornelius Becker
(1602) und auf von Schein neu ausgesetzte "Thöne" zu singen - mit ein.
Außerdem verweist der Komponist summarisch auf die Liedgruppen "Creutz /
Verfolgung / etc.", "Beicht vnd Buß" und andere Psalmlieder. [7]
Für all diese Gesänge war ein Schulchor [8] nötig, der
dann auch außerhalb der Kirche liedersingend in Erscheinung trat, auf
Gassen und Plätzen, vor und in den Bürgerhäusern, auf dem
Gottesacker. Insofern hat das geistliche Lied im Dreißigjährigen
Krieg noch einen durchaus repräsentativen Charakter. Überhaupt
muß der starke Traditionsbezug dieser Kunstform stets im Auge behalten
werden. Ohne das Bewußtsein von 'der' Litanei, 'dem' "Da pacem Domine" und
'dem' "Te Deum laudamus" rief damals kein Dichter-Musiker zur Buße und
Gotteslob auf. Beispielhaft verdeutlicht das der mitteldeutsche Dorfschulmeister
und "Musicus" Johann Thüring 1621, der 15 teils strophische, teils
prosaische Bittgesänge zu vier bis acht Stimmen durch Litanei und "Te Deum
laudamus" umrahmt. Daß auch die Witterung thematisiert wird
(Titelwortlaut, Texte von Nr. 14 [9] und 16), entspricht ebenfalls einer
der Litaneibitten (gegen "Hagel vnd Vngewitter" bzw. für die "Früchte
auf dem Lande") und soll die Gefahr der Hungersnot bannen. Thüring
wünscht sich (laut Widmungsvorrede) diese Stücke "Bey jetzigen
bößen Leuften" in den Gotteshäusern seines
thüringisch-sächsischen Wirkungskreises
gesungen.
II. Negative Gelegenheiten und
böse Zeiten
Wie das traditionelle Kirchenlied
hatte das neuere geistliche Lied eine klar umrissene Aufgabe; es diente zu etwas
und bezeichnete es. Während aber dort das Kirchenjahr und die
Amtshandlungen des Geistlichen den Bestand lenkten, kamen hier auch die anderen
Vorfälle des Lebens zur Sprache, die "Gelegenheiten". Schon Carl von
Winterfeld (1845) nannte das anlaßgebundene musikalische Werk
"Gelegenheitskomposition". [10] Sie gilt privaten und öffentlichen
Anlässen und fand nur teilweise Einlaß in Werksammlungen und
Gesangbücher (Cantionalien). Auch in der Zeit des
Dreißigjährigen Krieges wurden nach Möglichkeit weiterhin
Familienfeste aufwendig begangen. Siegesfeiern und Friedensschlüsse boten
Musikern und Poeten zusätzliche Aufträge und Einkommen. Daß
dabei fast ausschließlich die lutherische Seite sich äußert,
hat gute Gründe, so die Verpflichtung auf die jeweilige "Obrigkeit". Der
katholische Kultus vermochte offensichtlich das besondere Ereignis stärker
zu integrieren als der evangelische. [11] Und das künstlerische
Ungleichgewicht wird noch verstärkt durch die Dominanz des mitteldeutschen
Raums. Hier, zumal im Umkreis von Leipzig, kam es zu spektakulären
Kriegsereignissen, hier befanden sich aber auch Musiker und Poeten, die zur
geformten Mitteilung ihrer Eindrücke befähigt waren. Ihr parteilicher
Jubel verdeckt das begleitende Elend. Und daß sogar ein momentaner Triumph
Anlaß zur Klage sein konnte, lehrte der Tod König Gustav Adolfs auf
dem Schlachtfeld bei Lützen am 6./16. November
1632.
Die großen Festgesänge
überschritten den Rahmen des Liedes. Aber auch echte Notgesänge
konnten sich zu musikalisch anspruchsvollen Gebilden auswachsen. So beruft sich
Erasmus Widmann in Rothenburg ob der Tauber in seinen "Piorum Suspiria.
Andechtige Seufftzen vnnd Gebet / vmb den lieben Frieden / vnd abwendung aller
Hauptplagen vnd Straffen" (1629) trotz strophischer Textstruktur auf Lodovico
Viadanas "Art", d.h. auf das geringstimmige Vokal-Concerto [12], und in
Eilenburg kam es sogar zu Generalbaß-Monodien über 'rhythmische
Prosa' des Dichtermusikers Johann Hildebrand (1645). [13] Diese
"Krieges-Angst-Seufftzer des fast verödeten Teutschlandes" geben der
eigentlich modernsten (weil oratorisch-ausdrucks-stärksten) Kompositionsart
den Beigeschmack des auch klanglich Verödeten. Erst ab drei Satzstimmen
ließ sich ja "Harmonie" erwarten. Der Kantionalsatz mit seinen vollen
Klängen verheißt insofern Hoffnung.
Man
kann mit dieser Typologie noch weitergehen und nach der musiklosen, nur von
Lärm und Geschrei erfüllten Wirklichkeit und nach dem usuellen,
ungeregelten Singen (ohne Noten) die Tonsatz-Stufen "dünn", "voll" und
"prächtig" unterscheiden. Auch von hier aus erscheint die Vierstimmigkeit
axial: weder dürftig noch prächtig, offen nach beiden Seiten. Die
jeweiligen Umstände entscheiden über ihren Rang. Wo es sonst keine
Kirchenmusik gab, reichte er hoch.
Die
Umstände aber waren nun nicht mehr allein die Sozialgeschichte. In
Hinweisen wie dem genannten thüringischen von 1621 oder dem Breslauer von
1622 auf die "jetzo betrübten Zeiten vnd Leufften" kommt eine Art
'negatives Detempore' zum Ausdruck, in dem nicht das Kirchenjahr, sondern das
Kriegsjahr den 'Ton' angibt. Sie finden sich von nun an fast stereotyp in allen
politisch aktuellen Musikdrucken aus der Zeit des Dreißigjährigen
Krieges. [14]
III. Erste
Friedensbitten
Von Anfang des Krieges an
begleiteten kunstvolle Gesänge die Ereignisse. In Breslau, nahe dem
bedrohten Königreich Böhmen [15], erwies sich dabei Samuel
Besler, evangelischer Schulmeister in der Neustadt, als konfessionell
'mehrsprachig'. Den (späteren) Kaiser Matthias hatte er 1611
anläßlich der Huldigung zum König von Böhmen lateinisch
angeredet ("In te magna tuis spes est"), 1620 feierte er den calvinistischen
Winterkönig Friedrich von der Pfalz mit zwei deutsch-französischen
Psalmen (nach Ambrosius Lobwasser), ebenfalls achtstimmig. Sein jüngerer
Bruder Simon, evangelischer Kantor an St. Margarethen, zeigte mit "Da pacem
Domine" Gespür für die Konsequenzen (1619). Drei Jahre später
fand auch Samuel Grund für einen "hertzlichen Seufftzer zu Gott", aber er
schloß dem vierstimmigen Lied "Ach Herr, ich seuf allein" noch die
kämpferisch-lutherische "Feste Burg" an. Er starb etwa 50jährig an der
"Pestilentz", die Simon als zweite Folge von "Kriegesleuften" (nach dem Hunger)
vorausgesagt hatte.
Dessen siebenstrophige
Friedensbitte mit dem Textbeginn "Wacht auf jhr wehrden Deutschen" [16],
eine "Auffmunterung zur Busz vnd andacht", gehört zum Typ des lutherisch
zeitkritischen Liedes, den des Reformators musikalischer Mitarbeiter Johann
Walter anspruchsvoll festgelegt hatte: "Ein newes Christlichs Lied / Dadurch
Deudschland zur Busse vermanet" ("Wach auf, wach auf, du deutsches Land",
1561). [17] Die Aussagen sind ähnlich: Statt dankbar nach dem neuen
reinen Evangelium zu leben, ergibt man sich der Sünde - Besler nennt acht
Verfehlungen, Walter zwölf und dazu Modetorheiten -, die Gottes Strafen
auslöst. Warnte Walter (ebenfalls vierstimmig) wie in letzter Minute, so
hat Besler "hunger, Krieg vnd todt" wahrhaftig vor Augen (Str. 1). Wohl in
beiden Fällen sind Dichter und Komponist jeweils identisch. Besler nennt
als Alternativmelodie "Hertzlich thut mich verlangen / nach einem seeligen End",
also die Oberstimme von Hans Leo Haßlers "Mein Gmüt ist mir
verwirret" (1601), die erst sechs Jahre zuvor mit dem geistlichen Text verbunden
worden war (in Görlitz). Besler entscheidet sich damit für eine der
bekanntesten Strophenformen der deutschen Dichtung, die als Hildebrands-, Bruder
Veit- oder Benzenauer-Ton gesungen wurde. [18] Wie damals üblich,
bringt Besler sie in vier Langzeilen statt in acht Kurzzeilen. Die Verskadenzen
bestehen dabei jeweils in Länge und Pause (= männliche
Schlüsse). Besler markiert die drei Kadenzpunkte des gb-Modus (gleichsam
g-Moll) d, b und g. Daß er hoch schlüsselt (mit dem Altus als
Fundamentstimme), unterstreicht den Titelhinweis "vnd vmb der Studierenden
Jugend willen vierstimmig vbergesetzet": Es fehlte an
Baßsängern.
Anders als Walters den
Oktavrahmen gleichmäßig füllende Tenor-Melodie bleibt Beslers
Cantus-primus-Melodie auffällig lang dem Quintton d'' verhaftet (besonders
zu Beginn des Abgesangs): Folge einer 'italienisch' auf Textverständnis
zielenden Akkorddeklamation. Um so wuchtiger tritt der letzte halbe
Schlußvers "vnd auch bekehren recht" melismatisch in Erscheinung: Auf die
Bekehrung kommt es dem Autor an.
IV. Dilligers
Textverdeutlichung
Der
thüringisch-fränkische Musiker-Theologe Johann Dilliger (1593-1647)
eignet sich in mehrfacher Hinsicht zum Kronzeugen für unser Thema. Das
geistliche Lied stand im Zentrum seines Schaffens. Als ein "homo
musico-literatus" wußte er auch mit Worten allein die Nöte seiner
Generation darzustellen [19], die ihm als späterem Seelsorger
zusätzlich zu schaffen machten. Sensibel bis zur Hypochondrie, reagierte er
auf die schlimmen Ereignisse in Coburg und Umgebung. Und seine Stimme hatte
Gewicht, wie kein geringerer als sein Schulkollege Johann Matthäus Meyfart
bekundet. [20] Daß Dilligers reiches musikalisches Werk noch kaum
erschlossen ist - trotz zweier Dissertationen [21] und der
Sicherheitsverfilmung in Kassel [22] -, hängt mit der
rätselhaften Kompositionsfülle ausgerechnet in dieser Notzeit
zusammen.
Dilliger gewann aus einigen seiner
für die "Gelegenheit" hergestellten Einzeldrucken (von je einem Bogen =
vier Seiten) die Sammelwerke "Musica oratoria" und "Musica poenitaria", indem er
- vermutlich - die Buchstaben-Blattsignaturen nachträglich auf das
jeweilige Einzeltitelblatt stempeln und das Ganze unter neuer Titelei
zusammenbinden ließ. In der erstgenannten Sammlung (mit dem deutschen
Untertitel "Bet vnd Lob Musica", 1630) zeigen zwei thematisch analoge,
gestalterisch gegensätzliche Beispiele sowohl die Verpflichtung auf das
Lied als auch die Dehnbarkeit dieses Modells; es handelt sich um die Werkteile F
und P [23], beides Geburtstagsgaben für angesehene Coburger
Bürger, beide mit Angabe der Poeten (wodurch Dilligers worttextliche
Verantwortung hier entfällt), beide mit Hinweis auf des Komponisten
"langwierige Leibes Schwachheit" bzw. sein "Quartan
Fieber".
Druck P "Grewel der verwüstung
jetziger Welt" (1629) [24] für Amtsschösser Nicolaus
Schwartzlose [25] vertritt den klassischen Typus eines
thüringischen Kantionalsatzliedes. Der Text "Ach wie elend ist die Zeit"
des in Krempe (Schleswig-Holstein) lehrenden und predigenden Wilhelm Alardus
(1605-1636) [26] schildert den Verfall der Sitten: Weltliebe (Str. 2),
Vertreibung der wahren Lehrer (Str. 7), Egoismus, Gewinnsucht, Falschheit,
Auflösung von Freundschafts- und Familienbanden (Str. 11 und 13). "Keysr
vnd König" erliegen der "Hur von Babylon" (Str. 8). Das "Kriegsgeschrey"
erscheint als Folge davon. Und "Mit dem Friedn es gar gfährlich steht"
(Str. 12). Der Poet hat in dieser Anleitung zum rechten Sterben Mühe, die
Silbenfülle seiner Anklagen in die schlichte Form des jambischen
Sechszeilers (8 8 7 8 8 7) zu bringen; Vokalelisionen müssen
helfen.
Dilligers Tonsatz, hochgeschlüsselter
Aeolius (etwa a-Moll), unterstreicht die Einfachheit durch ein metrisches
Changieren zwischen (quasi) Dreihalbe- und Sechsvierteltakt. [27] Die
Melodiezeile erhält dabei eine Geschlossenheit, die der
Einzelwortausdeutung zusätzlich widerstrebt. Plastisch formt sich eine
zweiteilige Symmetrie um den dritten Vers, den Siebensilbler. Hier 'moduliert'
die Tonart nach (quasi) C-Dur. Der analog gebaute sechste Vers schließt
augmentiert (mit vergrößerten Notenwerten) in der Grundtonart. Die
Musik 'schwingt' und eignet sich so trotz des düsteren Textes "zum
frölichen Glück= vnd
Frewden=Wunsch".
Anders der vorangegangene Druck F
"Horribile spectaculum horum temporum" (1630) für Hofadvokat Dr. jur.
Philipp Döbner, der nach seiner friedlich verbrachten Studienzeit im Kanton
Basel (1620/21) [28] die deutsche Kriegskatastrophe besonders stark
empfunden haben muß und dessen Frau 1633 der Pest erliegen sollte (was
Meyfart zu bewegenden Versen veranlaßte). [29] Als Textvorlage
wählte Dilliger nun ein 15strophiges Alexandrinergedicht "Ach was
schrecklich Gesicht" des zu Rinteln (Westfalen) lehrenden Josua Stegmann
(1588-1632), der seine Opitz-Studien [30] hier nur halbherzig
auswertete. Dilliger ordnet je vier Alexandriner zur achtzeiligen Strophe, teilt
also den Vers (= Zeilenfermaten), so daß jeder ungeradzahlige
Kurzvers als Waise erscheint und das Enjambement eine Art Durchkomposition der
Strophe bewirkt. Da nicht die Viertel-, sondern die Halbenote die Deklamation
trägt, scheint viel Musik vorhanden (35 'Takte' gegenüber 20 des
"Grewel"-Liedes und 16 bei Besler). Die Wechselrhythmik schwindet zur
bloßen Episode ("Was wolt jhr hier doch
thun").
Stegmanns Schilderungen wurzeln in den
prophetischen Büchern des Alten Testaments und den Endzeitvisionen der
Offenbarung des Johannes, haben aber auch eine theatralische Qualität, die
bei dem Stegmannschüler Johann Rist offen zutage treten wird, so im
"Friedewünschenden Teutschland" (1647/1649). Stegmanns Plagen erscheinen in
der Folge Krieg, Pest, Hunger; Rist schließt noch den Tod an, der als
stumme 'Person' aber auch fortgelassen werden konnte. [31] Die
Allegorien des älteren Poeten haben nichts Spielerisches. Von den beiden
Gegenkräften, der freundlichen und der "sauren" Schwester (bei Rist
heißen sie "Liebe" / "Hoffnung" und "Gerechtigkeit"), vertraut Stegmann
der ersteren und damit der "Gnad". Seine schlichte Schlußbitte (Str. 15)
ist ein echter Herzensseufzer (im Sinn von Stegmanns
Selbsteinschätzung).
Obwohl das "Horribile
spectaculum" somit einen Ausweg aus dem Verhängnis andeutet, greift der
Vertoner zu einem im Kantionalsatzlied ungewöhnlichen Mittel: "Mit Vier
Stimmen in einen etwas trawrigen modum, nach anlaß des Texts, gebracht".
"Modus" bedeutet hier nicht bloß "Tonart" (= Phrygius, etwa
e-Moll), sondern auch Klang- und Stimmenverlauf im einzelnen, und "etwas
Trauriges" äußert sich außer im getragen-langsamen Gang vor
allem in den Melismen zu Vers 2, wo die phrygische Kadenz statt
ordnungsgemäß von der vorgehaltenen großen Sept F-e zur
großen Sext F-d in die übermäßige Sext F-dis führt
und der dazu passende Fundamentton Fis verspätet kommt: wahrhaftig ein
satztechnisches "Ungeheur" (Str. 1). Die zweite bemerkenswerte
Unregelmäßigkeit ereignet sich zu Vers 7 mit dem Sopran-gis' zum
Baß-c. Die übermäßige Duodezim bildet die Plagen, Satans
Dienerinnen, ab: Madrigalisches im Lied.
V.
Relation, Relation!
Von den dreistimmigen
konzertierenden Liedern "auff Italian-Villanellische Invention" der "Musica
boscareccia" ("Waldliederlein") des Leipziger Thomaskantors Schein war das
vierte im zweiten Teil der Sammlung (1626) eines der bekanntesten. [32]
Es wanderte in leicht "verbesserter" Form in die weltliche Textsammlung
"Zeit-Vertreiber" (ohne Jahr, Nr. 182), und es wurde kontrafiziert und
parodiert. Der Erfolg erklärt sich aus der originellen Verbindung von
Zeitungs- und Liebeslied. Der marktschreierische Beginn war eine
äußerst wirksame "Aufforderung zum Zuhören". [33] Die
Gedichtform selbst - sechszeilige Jamben wie in Dilligers Alardus-Vertonung -
diente als "eine der beliebtesten Schweifreimstrophen" seit dem 15. Jahrhundert
dem politischen Lied. [34] Auch König Gustav Adolfs Schlachtgesang
von 1631 "Verzage nicht, o Häuflein klein" (von Johann Fabricius) mit der
Melodie Michael Altenburgs wies diese Struktur auf. Schein bildet sogar
musikalisch die Liedpublizistik nach: Die vier ersten Takte 'steht' der Klang im
Großterz-Akkord über G, Sopran 1 als 'Melodie'-Träger deklamiert
aufgeregt auf d'' und beendet seine 'Psalmodie' im Kommasprung zur unteren
Kleinterz, worauf der eigentliche Tonsatz
beginnt.
Von den etwa 40 Liedern auf die Schlacht
bei Breitenfeld nahe Leipzig am 7./17. September 1631 [35] bediente sich
eines ausdrücklich der Komposition von Schein, ein sonst unbekannter
Theologiestudent war der Verfasser. [36] Der Ruf "Relation, Relation",
ursprünglich nur für die erste Strophe bestimmt, leitet jede der 20
Strophen dieses "Triumphus Sueco-Saxonicus" ein. Zum geistlichen Lied wird er in
seinen drei letzten Strophen, wo von Beten und Bitten die Rede ist und sogar
Luthers "Feste Burg" anklingt (Str. 19).
Blieb
hier die dichterische Nachahmung von Scheins 'Liebeskampf' auf die
vorausgesetzte Musik (den "Thon"), die Strophenform und den Ruf beschränkt,
so nähert sich der dichtende Pfarrer in Buttstädt bei Weimar Johann
Röder in seinem "Dancklied für den erlangten edlen Frieden"
(1648) [37] entschlossener dem poetischen Modell: Die Strophenzahl ist
beibehalten (= sechs), der Ruf erklingt nur am Anfang, und es finden sich
wörtliche Bezüge, am deutlichsten in Strophe 2, wo der ganze erste
Vers übernommen wurde ("Diß ist gegangen also zu"). Außer
Strophe 1 hat auch Strophe 4 viel Ähnlichkeit mit dem alten Gedicht. Aus
dem Liebesgott Cupido ist Kriegsgott Mars geworden, aus dem Bräutchen Filli
jedoch der Acker, den der Landmann nun endlich wieder für die Frucht
vorbereiten kann - dank göttlicher Hilfe.
Um
die neue Dichtung auch dem einfachen Gläubigen singbar zu machen,
verzichtet Röder nun allerdings auf Scheins Musik und verlangt als Thon die
für vorliegende Strophenform fast obligatorische Melodie des alten
Täuferlieds "Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn" [38], die
ihrerseits (als "Lindenschmied-Thon") [39] "publizistisch" anmutet und
die vielleicht auch Schein bei seinem Waldliedlein vorgeschwebt
hat. [40]