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Aus: Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. / Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträ


„Als ein sozialwissenschaftlicher Schlüsselbegriff ist ‚Modernisierung‘ recht jung. Er kam in den 1950er Jahren in den USA auf und beschrieb einen synchronen Vorgang, der, so das Verständnis, nicht nur beobachtet, sondern auch befördert werden konnte: die soziale und politische Entwicklung der sogenannten ‚unterentwickelten‘ Länder. ‚Modernisierung‘ diente dabei als ‚politisch korrektere‘ Alternative zum Begriff der ‚Entwicklung‘, meinte aber im Grunde dasselbe: die aufholende Angleichung an den optimalen Entwicklungsstand, worunter man gemeinhin die USA verstand. Die mehrdimensionale vergleichende Analyse von Indikatoren wie Alphabetisierungsrate, Wachstumsquoten, Verstädterung, Wahlrecht oder Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen sollte den Stand und die Fortschritte einzelner Länder im Prozeß der Modernisierung erhellen und besonders wirkmächtige Faktoren herauspräparieren. Im Zentrum stand dabei der postulierte Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie, also das, was im Kalten Krieg den Westen vom Osten unterschied. Daß sich wirtschaftliches Wachstum und Demokratie gegenseitig stützten, war einer der Glaubenssätze der frühen Modernisierungstheorien. Von Anfang an wurde dieser Sichtweise vorgeworfen, daß sie ethnozentrisch argumentiere und den spezifischen Entwicklungsweg der westlichen Länder als den einzig richtigen und möglichen exportieren wolle.
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Im Zentrum der Beschäftigung stand der politische Strukturwandel im Sinne der Herstellung einer Massenlegitimationsbasis, der gerechteren Verteilung von Gütern und Chancen sowie der erhöhten Steuerungsmöglichkeiten von Politik. Die zweite Dimension war die der ökonomischen Entwicklung, die durch Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Arbeitsteilung, den sozialstrukturellen Wandel von ‚geschlossenen‘ zu ‚offenen‘ Verbänden, soziale Mobilität und technische Rationalisierung gekennzeichnet sein sollte. Drittens kamen Wandlungen der kulturellen Systeme zur Sprache, wie die Öffnung des Bildungssystems und der breitere Zugang zu Kommunikationssystemen, Säkularisierung, Wertorientierungen. Schließlich wurden auch – sehr am Rande – Wandlungen des subjektiven psychischen Haushaltes als Bestandteil eines großen Modernisierungsprozesses in den Blick genommen. Diese vier Dimensionen wurden in ihrer Interdependenz betrachtet, wobei der Zusammenhang von ökonomischer und politischer Modernisierung immer im Vordergrund stand.

Als sich historisch arbeitende Politologen der Theorie annahmen, wich die aktuell-pragmatische Ausrichtung sehr schnell einer Historisierung. Eine der klassischen Definitionen für dieses Verständnis hat Reinhard Bendix geliefert: ‚Modernisierung ist ... ein bestimmter Typ des sozialen Wandels, der im 18. Jahrhundert eingesetzt hat, er besteht im wirtschaftlichen und politischen Fortschritt einiger Pioniergesellschaften und den darauf folgenden Wandlungsprozessen der Nachzügler.‘ Aus einer synchronen Theorie der strukturellen Anpassung wurde so eine historische Verlaufstheorie.
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Nun stand die Frage im Vordergrund: Warum und wie kam es – vor allem im Westen – zur Entwicklung von Marktwirtschaft, Demokratie und – quasi als Negativfolien – zu Faschismus und Kommunismus? Vor allem die Studien von Samuel Huntington, Barrington Moore und Seymour Lipset versuchten mit viel Aufwand und intelligent argumentierend, soziale Bedingungen und soziale Folgen des politischen Wandels in der Neuzeit zu entdecken. Hierbei ließen sie sich durchaus auch von marxistischen Ansätzen inspirieren, blieben aber empirischer und vor allem weniger eindimensional. Barrington Moores glänzende und immer noch lesenswerte Studie etwa interessierte sich für die Rolle des Agrarsektors im Prozeß der politischen Modernisierung; seine Grundthese, daß es drei – jeweils revolutionäre – Wege in die Moderne gegeben habe: Demokratie, Faschismus und Kommunismus, führte er auf verschiedene Modernisierungspfade der agrarischen Sektoren, also der Bauern und des Landadels, zurück. Damit thematisierte er die Möglichkeit, daß Modernisierung auf verschiedenen Wegen verlaufen und unterschiedliche Ergebnisse zeitigen könne.

Neben solchen Arbeiten, die primär an politischem Wandel interessiert waren, gab es aber schon seit dem Ende der 1950er Jahre eine Forschung, die man heute ‚sozialhistorisch‘ nennen würde und die sich mit dem sozialen Wandel im Zuge der Industrialisierung auseinandersetzte oder den technologischen Wandel als Faktor wirtschaftlicher Entwicklung behandelte. Auch sie argumentierte vor dem Hintergrund der grundstürzenden Neuheit der Moderne: daß der Engländer von 1750 in materiellen Dingen Caesars Legionären näher gewesen sei als seinen eigenen Großenkeln. Mit dieser Strategie begann die Modernisierungstheorie ihren Status als Theorie mittlerer Reichweite abzulegen und näherte sich dem Design einer Großtheorie, die evolutionäre oder strukturelle Universalien zu erklären suchte.”
 
Literaturhinweis:
Reinhard Bendix, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 4. Aufl., Königstein 1979, S. 505-512.

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