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Aus: Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. / Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1993, S. 207 - 209:


„Die deutsche Rezeption der Modernisierungstheorien [...]interessierte sich, anders als in Amerika, nicht nur für die erfolgreiche, sondern auch für die erfolglose oder unvollständige Modernisierung. Unzweifelhaft stand dabei die deutsche Erfahrung Pate. Ralf Dahrendorfs einflußreiche Interpretation der deutschen Geschichte unter Modernisierungsgesichtspunkten thematisierte die Rückständigkeit unter dem Aspekt des ‚Deutschen Sonderwegs‘, der seither mit der Anwendung von Modernisierungstheorien verknüpft geblieben ist. Dahrendorfs Befund, daß die deutsche politische Kultur trotz einer fortgeschrittenen ökonomischen Struktur niemals die Tugenden des angelsächsischen Liberalismus – Konfliktfähigkeit, Wandlungsbereitschaft, soziale Offenheit – ausgebildet habe und letztlich an der eigenen Weigerung, die politische Moderne zu akzeptieren, gescheitert sei, entwickelte ein Leitmotiv der deutschen modernisierungstheoretischen Diskussion: das Defizit an Bürgerlichkeit und liberalen Werten. Die amerikanische synchrone Anpassungstheorie wurde so gewissermaßen umgedreht: Nicht die erfolgreich angepaßten Systemsektoren rissen die anderen mit sich, sondern die langfristige Hemmung der Systemanpassung erzeugte eine letztlich destruktive Spannung. Die Modernisierungstheorien in Deutschland wurden so eher aus der Perspektive des historischen Verlierers thematisiert und gewannen damit an Komplexität. Im Hintergrund stand die Leitfrage Max Webers, warum sich gerade in Europa und gerade in dieser Epoche eine solche Konstellation bildete und ein Prozeß entwickelte, der nach Hans Freyer, Arnold Gehlen und auch Reinhard Bendix nur dem Seßhaftwerden der Nomaden während der ‚neolithischen Revolution‘ vergleichbar ist. Dieser Prozeß der okzidentalen Kulturentwicklung, den Weber mit dem Schlüsselwort der ‚Rationalisierung‘ belegt hat, ist in anderen Teilen der Welt nicht vorgekommen, und weder Weber noch Marx haben dies für einen Zufall gehalten. Anders als in Amerika wurde deshalb der Modernisierungsprozeß weniger unter der Perspektive der Unausweichlichkeit, sondern geradezu entgegengesetzt unter dem Aspekt der Unwahrscheinlichkeit behandelt: nicht, daß es woanders nicht geschah, war erklärungswürdig, sondern daß es überhaupt geschah.

Unter dieser Leitfrage behielt die deutsche Diskussion, ebenfalls in der Tradition Webers, aber auch der Kritischen Theorie, die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses eher im Auge und betonte stärker den Umstand, daß all die Prozesse, die die amerikanische Theorie leichthin als Gewinne verbuchte, auch Verluste mit sich zogen. Sie, die Schattenseite der Moderne, ist heute auch ein Angelpunkt der kulturhistorischen Kritik, die sich damit auf eine spezifisch deutsche Weise modernisierungstheoretisch inspiriert zeigt. Auf Grund dieser Prägung hielt sich in der deutschen Debatte auch ein feineres Gefühl für Brüche und Unvollständigkeiten des Modernisierungsprozesses. Hier war es nicht von vornherein selbstverständlich, daß die Modernisierung alle gesellschaftlichen Dimensionen erfassen mußte; vielmehr wurde kritisiert, daß die amerikanische Diskussion die Sonderfälle der Modernisierung wie Deutschland oder Japan einfach durch ‚Exotisierung‘ (Lepsius) aus dem ‚Normalmodell‘ ausschloß.”
 
Literaturhinweise:
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 420-444.
Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.

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