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Arno Schmid, Das Musterkönigreich (September 1954), in: Arno Schmid, Essays ..., S. 69-78:


„Tortur; Todesstrafe durch Vierteilen oder Verbrennen bei lebendigem Leibe; Untertanen sind zu haben, 4-8 Taler das Stück, für Fremdenlegionen aller Art; Leibeigenschaft, Frondienste; Stockprügel bei der täglichen Soldatenausbildung, und Spießrutenlaufen selbst für gelindere Dienstvergehen; Vorrechte des Adels: der adlige Beamte führte einen ganz anderen wohlklingenderen Titel, als der Bürgerliche, der das gleiche Amt versah, oder der adlige Gutsbesitzer übte selbst die niedere Gerichtsbarkeit in der Umgegend aus. Menschenrechte und Toleranz?: "Heute am 11. Januar 1783 verzollt und versteuert am Kreuztor: 3 Rinder / 14 Schweine / 10 Kälber / 1 Jüd, nennt sich Moses Mendelssohn, will nach Berlin." – Das etwa war die Wirklichkeit der "guten alten Zeit", wo "unsere Klassiker" lebten und leider nicht genug wirkten – wer unter solchen Umständen eine "Iphigenie" entwerfen und ausführen konnte, ist doch wohl etwas weltfremd zu nennen; oder irre ich mich?

Unsere billigeren Geschichtslehrbücher, wenn sie auf das heroische Jahr 1813 zu sprechen kommen, verfehlen nie, patriotisch genug, sogleich vom "Joch des Korsen" und seinem "frevlen Spiel mit Völkern und Thronen" zu reden – dabei waren alle die neuen Staatengründungen Napoleons aus voll erwogener, reinlicher Absicht geschehen. Wenn er etwa dem Kaiserreich Frankreich große Teile Hollands und Norddeutschlands einverleibte, bis Lübeck hin, so geschah dies nur, um endlich die sehr notwendige Kontinentalsperre gegen England – schon damals ein Land, außerhalb Europas gelegen – mit Kraft durchführen zu können. Und ein weiteres, versteckteres, noch höheres Ziel, verfolgte schon das 27. Bulletin, das verkündete: "Das Hessen-Kasselsche Haus hat seine Untertanen seit vielen Jahren an England verkauft, und dadurch hat der Kurfürst so große Schätze gesammelt. Dieser schmutzige Geiz stürzt ihn nun: das Haus Hessen-Kassel hat zu regieren aufgehört!"

Mit Präzision entwickelt Napoleon seine tiefen und durchaus beachtenswerteren Gedanken in einer Instruktion an seinen Bruder Jerome vom 15. November 1807; Preußen und Österreich sind besiegt, Rußland für den Augenblick freundschaftliche eingefroren – es gilt, das politisch-weltanschauliche Vakuum zwischen Rhein und Weichsel auszufüllen, und für den Westen zu gewinnen. Dieses weite Territorium, (damals von rund 40 souveränen Staaten eingenommen; die nun, nach dem Desaster von 1806/07 zitternd der weiteren französischen Entscheidung harrten), galt es, für eine vernünftige fortschrittliche Entwicklung friedlich zu erobern. Hierzu bot sich organisch ein Weg, der jeden Verständigen überzeugen mußte: die Schaffung eines Musterkönigreiches.

Von Cuxhaven bis Magdeburg, von der mittleren Elbe bis Marburg, entstand so nach dem Willen des Kaisers das "Königreich Westfalen"; denn, wie Napoleon – ein echtes Kind der traditionslosen Vernunftrevolution – sich in seiner Unschuld dachte: "Die deutschen Völker verlangen mit Ungeduld, daß die bürgerlichen Talente nicht gegen den Adel zurückgesetzt; daß jede Art von Leibeigenschaft abgetan werde; daß alle Schranken, welche den Landesherrn von der niedrigsten Klasse seiner Untertanen trennen, hinwegfallen." Dies sollte jetzt in Jeromes Reich vorbildlich verwirklicht werden: "Die Wohltaten des Code Napoleon, die Öffentlichkeit der Gerichtverfahren, die Einführung der Schwurgerichte, werden die unterscheidenden Kennzeichen des westfälischen Staates sein. Es ist notwendig, daß das westfälische Volk eine Freiheit, eine Gleichheit und einen Wohlstand genieße, wie sie den Völkern Deutschlands bisher unbekannt waren. Eine solche liberale Regierungsart wird den günstigsten Einfluß auf die Machtstellung der westfälischen Monarchie ausüben, und eine mächtigere Schranke gegen Preußen sein, als die Elbe, die Festungen und der Schutz Frankreichs. Welche Provinz wird auch unter das despotische preußische Regiment zurückkehren wollen, wenn sie einmal die Wohltaten einer weisen und liberalen Verwaltung gekostet hat? Die Völker Deutschlands sehnen sich nach Gleichheit und liberalen Ideen, es kann gar nicht ausbleiben, daß Westfalen ein moralisches und geistiges Übergewicht über die benachbarten absoluten Könige erlangt."

Napoleon betrachtete demnach das neue Königreich als ein Mittel, die Segnungen der französischen Revolution, speziell die Hebung des dritten und vierten Standes, sowie eine konstitutionelle Regierung, den Deutschen handgreiflich vor Augen zu führen. Westfalen sollte ein Musterstaat werden, der nicht bloß die eigenen Untertanen beglücken, sondern auch in allen übrigen deutschen Landen den Wunsch erwecken sollte, gleicher Wohltaten teilhaftig zu werden. Ja, noch mehr: der Kaiser deutet vorsichtig an, daß auf diesem Wege vielleicht gar eine Vergrößerung des Landes auf friedlichem, "kaltem", Wege erreicht werden könnte – nun soll man noch sagen, Napoleon sei kein Idealist gewesen!

Als Hauptstadt wurde Kassel auserlesen: um den Untertanen den Unterschied zwischen ihrem früheren Wilhelm mit dem Zopf, der sie tausendweis an die Engländer verschachert hatte, und dem neuen, liebenswürdigen – ach, allzuliebenswürdigen – König Jerome recht faßlich zu machen. Auch dieser "Morgen wieder lustik" = Jerome ist eine beliebte Figur witzelnder Historiker geworden; in Wahrheit war er, trotz mancher moralischen Mängel, ein kluger tätiger Kopf, der oftmals dem "Großen Bruder" energisch zum Wohle des Landes entgegengetreten ist, und "die Geschäfte" durchaus nicht vernachlässigt hat.

Und keineswegs standen Menschlichkeit und Toleranz nur auf dem Papier in dem neuen Königreich!

Die Soldaten im Mannschaftsstande erfreuten sich einer so anständigen Behandlung, wie sie damals in Deutschland etwas seltenes war. Durch ein Dekret vom 2. April 1808 schaffte Jerome die entehrenden, menschenunwürdigen Stockschläge ein für allemal ab. Jedem Oberen, von welchem Rang er auch sein mochte, war der Gebrauch von beleidigenden Ausdrücken gegen seine Untergebenen untersagt. Wiederholt wurden den Offizieren vom Könige eine wohlwollende Behandlung der Mannschaften nicht nur zur Pflicht gemacht, sondern er ging in dieser Beziehung mit dem besten Beispiele voran: "Er sparte weder Mühe noch Kosten, die Zuneigung seiner Truppen zu erwerben. Er drang in die kleinsten und innersten Einzelheiten ihres Dienstes und selbst ihres häuslichen Lebens ein, besuchte öfters ihre Kasernen, war gegen den gemeinen Mann herablassend und sorgsam, kostete seine Speisen, fragte oder ließ ihn fragen, ob er zufrieden sei, und ordnete manches zur Verbesserung der Lage desselben an: nicht leicht konnte in irgend einer Armee mehr innere Ordnung herrschen und mehr Fürsorge auf den Soldaten verwendet werden, als in dieser." Auch der Sold war weit höher, als etwa in Hessen oder Preußen, und fast gleich dem in der französischen Armee selbst; zweimal täglich gab es warmes Essen; die Uniform war aus bestem Tuch und prächtig; der Dienst nicht allzu hart; vor allem – etwas sonst in der guten alten Zeit völlig Unerhörtes! –: jeder gemeine Soldat konnte, sobald er nur die nötigen Kenntnisse hatte, und sich sonst im Dienst auszeichnete, ohne weiteres Offizier werden. Für die Invaliden wurde in Westfalen besser gesorgt, als in den meisten anderen Ländern.

Wichtigste Reformen erfuhr die Justiz. Ein großer Gewinn war die Einheitlichkeit des Gerichtsstandes: daß Adel, Bürger, Militär und Geistlichkeit ein und denselben Gerichten unterstanden, war bis dahin in deutschen Landen unerhört! Noch bedeutsamer war, daß der Rechtsgang ungemein vereinfacht und beschleunigt wurde: das Tribunal zu Einbeck zum Beispiel entschied nunmehr in einem Zeitraum von 2 Jahren über tausend Prozesse, die zum Teil seit 70 Jahren geschwebt hatten; eine Tatsache, die bei dem Publikum und namentlich bei den Anwälten – die so eine unschätzbare Einnahmequelle verloren – größtes Erstaunen hervorrief. Ein wesentlicher Vorzug der westfälischen Gerichtsbarkeit bestand auch in der Öffentlichkeit der Verhandlungen, "einer der vorzüglichsten Schutzwehren der den peinlichen Gerichtshöfen überlieferten Bürger". Mit Wahrheit sagt ein sonst recht kritischer Zeitgenosse: "Die Rechtspflege gewährte den erfreulichsten Anblick"!

Vor der westfälischen Zeit hatte nirgends in Deutschland völlige Toleranz, etwa in Religionssachen, geherrscht. Fast überall waren die, so sich nicht zur herrschenden Landesreligion bekannten, von den Staatsämtern ausgeschlossen gewesen. Das traurigste Los hatten stets, in rechtlicher wie in sozialer Beziehung die Juden. In manchen Provinzen wurden sie überhaupt nicht geduldet, anderwärts nur in äußerst beschränkter Zahl zugelassen. So durften sich etwas in Magdeburg nur 2 "Schutzjuden", in Göttingen nur drei, aufhalten. Für den ihnen solchermaßen verliehenen "Schutz" mußten die Bekenner der mosaischen Religion allerorten noch beträchtliche Schutzgelder zahlen; wozu noch die gehässige Abgabe des schon erwähnten "Leibzolls" beim Überschreiten jeder der vielen Landesgrenzen kam. Das wurde jetzt anders; die Konstitution des Königreiches Westfalen verhieß die "Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz, und die freie Ausübung des Gottesdienstes der verschiedenen Religionsgesellschaften". Und man glaube ja nicht, daß dies eine leere Phrase gewesen wäre: selten nur hat in einem Staate eine solche Parität der verschiedenen Konfessionen geherrscht, als gerade in diesem Musterkönigreich. Hier war es selbst der gleichzeitigen französischen Gesetzgebung voraus, in welcher der Judenemanzipation doch noch beträchtliche Schranken gesetzt waren. – Das Verzeichnis der wohlmeinenden Reformen ließe sich noch weit fortsetzen. –

Was waren nun die Gründe, daß es auch dieser Schöpfung Napoleons mißlang?

Abgesehen davon, daß der Bruch mit der jahrhundertealten Tradition, vor allem für die einfache Bevölkerung, viel zu schroff war; daß man, aufgehetzt durch eine skrupellose nationale, selbst bedenkliche Mittel nicht verschmähende Propaganda, allem "Französischen" von vornherein mit nicht zu überwältigendem Mißtrauen gegenüber stand – ein Übel brachte die westfälische Verwaltung unläugbar mit sich: den übermäßigen Steuerdruck, der zumeist auf Befehl Napoleons selbst einsetzte. Er forderte von seinem Bruder natürlich genötigt durch die endlosen Ostfeldzüge: erst gegen Preußen, dann gegen Rußland im Laufe der sieben Jahre, die das junge Staatswesen bestand, nach und nach solche Unsummen, daß im Herbst 1813 der politische Zerfall und finanzielle Ruin Hand in Hand gingen. In Napoleon selbst, der seine doch wirklich kühn und fortschrittlich geplante Schöpfung, bis zum letzten Tropfen auspreßte (auspressen mußte!), ist der eigentliche Unstern Westfalens zu sehen. –

Es bleibt noch übrig zu erwähnen, daß am 21. November 1813 Kurfürst Wilhelm, der berüchtigte Seelenverkäufer, ein nun schon Siebzig Jahre alter Mann, in sein angestammtes Land zurückkehrte: alle Reformen der westfälischen Zeit wurden natürlich sogleich wieder rufen; die Armee mußte wieder Zöpfe tragen wie im siebenjährigen Kriege; die unter Jerome abgeschafften Frohnden wurden flink wieder hergestellt; die Gerichtspflege kehrte zu der alten Willkür zurück. Und so groß war die Freude des hessischen Volkes, daß man ihm beim Einzuge die Pferde ausspannte, und 200 Menschen den Wagen des geliebten Landesherrn durch die Straßen Kassels, hinauf zur Wilhelmshöhe, schleppten. Dort standen sie dann noch längere Zeit und sangen vaterländische Lieder.“

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