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Auszüge aus Michael Sikora, Desertion und nationale Mobilmachung, in: Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, hg. von Ulrich Bröckling ..., S. 112-140:


„In den nach 1806 von französischen Herrschern regierten Territorien, insbesondere im neugeschaffenen Königreich Westfalen, provozierte die unmittelbare Fremdherrschaft mannigfache Reibungen. Verweigerungen des Militärdienstes berührten sich hier mit Widerständen gegen andere obrigkeitliche Anforderungen, etwa mit Steuerverweigerungen. Westfalen war 1809 auch der Schauplatz mehrerer Versuche, von außen durch bewaffnete Freikorps einen allgemeinen Aufstand auszulösen. Die bekanntesten Anführer solcher Streifzüge waren der preußische Major Schill, der ehemals kurhessische Major von Dörnberg und der seiner Herrschaft enthobene Herzog von Braunschweig-Oels. Ihnen schlossen sich aus Deserteure an. So nahmen etwa fünfzig Mann aus der Leibgarde des Herzogs von Anhalt-Köthen das Handgeld der Schill’schen Freischar an. Einmal traten sogar mehrere hundert Gefangene aus einem westfälischen Regiment in das Korps des Braunschweigers über. Es gelang allerdings nicht, die Bevölkerung in größerem Maße für diese militärisch organisierten Vorhaben zu gewinnen. Angst vor den obrigkeitlichen Repressionen spielten dabei eine Rolle, französische wie deutsche Herrscher profitierten darüber hinaus aber auch von traditionellen Einstellungen untertänigen Gehorsams.
Besondere Loyalitätskonflikte lassen sich dort greifen, wo österreichische Gebiete an Rheinbundstaaten verteilt worden waren, im nun badischen Vorderösterreich und im nun bayerischen Tirol. In Freiburg alarmierten schon bescheidene Protesthandlungen die nervösen Behörden. Im Breisgau ließ sich denn auch keine geordnete Konskription durchführen, freilich auch deshalb, weil es vorher gar keine Dienstpflicht gegeben hatte. Und wie so oft an vielen Orten im Rheinbund klagten auch hier die Berichte der Beamten, daß die männliche Jugend ‚einen unbezwingbaren Widerwillen gegen das Soldatenleben‘ habe. Als im November 1806 in Wertheim sechs Rekruten abgeführt werden sollten, versammelte sich eine Menge Frauen, die sich um die jungen Männer scharte; sie ‚küssten sie, heulten und schrien‘ und erreichten schließlich im Handgemenge deren Freigabe.

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Unter den militärischen Einsätzen der Rheinbundtruppen war es vor allem der Krieg in Spanien, der spürbares Unbehagen weckte. In Westfalen flüchteten die Konskribierten zu Hunderten vor den Beamten, auch noch aus den Marschkolonnen zum Einsatz. Im Kanton Fürstenau verschwanden sämtliche Dienstpflichtigen.

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Furcht vor Einsätzen im fernen Ausland hat schon im 18. Jahrhundert viele Soldaten zur Desertion veranlaßt. Ob also den einzelnen Deserteur die Unlust bewegte, für Napoleon zu kämpfen, oder die Angst, aus der Ferne nicht mehr heimkehren zu können, muß dahingestellt bleiben. Solche Zwischenfälle können auch nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Der hier zitierte Chronist empfand sie jedenfalls als Ausnahme und wußte selbst beim Aufbruch nach Rußland nichts Vergleichbares zu berichten.
Die überwiegende Mehrheit der Soldaten verhielt sich ohnehin als gehorsame und loyale Untertanen. Über die Jahre entwickelte sich, folgt man dem Tenor der späteren Erinnerungsschriften, auch in den Rheinbundtruppen ein Korpsgeist, der zwar mit den französischen Verbänden konkurrierte, aber auch derselben Quelle, nämlich aus den Belobigungen Napoleons und der französischen Kommandeure, einen gewissen Stolz zog. Die Soldaten mußten auch keineswegs zwangsläufig einen Widerspruch zwischen ihrem militärischen Einsatz für Napoleon und ihrer eigenen Parteinahme empfinden. Während des Marsches durch Rußland 1812 ahnte jedenfalls niemand das drohende Desaster, vielmehr wurde gezielt die Hoffnung verbreitet, daß in einem kurzen und ruhmreichen Feldzug eine dauerhafte Friedensordnung für den Kontinent erfochten werden könne. Eine entsprechende Proklamation Napoleons hinterließ, den Erinnerungen eines Teilnehmers zufolge, spürbare Wirkung, insofern sich die Soldaten ‚allermeist befriedigt priesen, nunmehr doch zu wissen, warum und weswegen sie bisher solch ihre Kräfte übersteigenden Märsche gemacht, und [sie] wünschten in ihrer begeisterten und mutvollen Stimmung nichts sehnlicher, als recht bald auf den Feind zu stoßen‘.
Gerade bei den Kriegen in Spanien und Rußland sind die Armeen überdies ist einer Kriegführung konfrontiert gewesen, die einen äußeren Druck auf den Zusammenhalt der Truppen ausübte. Der Guerillakrieg in Spanien ist mit außerordentlicher Grausamkeit von allen Seiten geführt worden. Zwar gibt es auch hier Beispiele dafür, daß die Aufständischen deutsche Soldaten schonten, weil sie diese als unfreiwillige Bündnispartner Napoleons bemitleideten. Es gibt aber auch grauenhafte Gegenbeispiele. Soldaten, die sich allein oder in kleinen Gruppen, aus welchen Gründen auch immer, von ihrer Einheit entfernten, setzten sich also einem unkalkulierbaren Risiko aus. Ähnlich erging es den Mitgliedern der Großen Armee in Rußland, die von streifenden Kosaken und bewaffneten Bauern umgeben waren.
Gelegentlich versuchten die Kriegsgegner aber auch, sich die scheinbar zwiespältige Rolle der Rheinbundtruppen zunutze zu machen. Eine kuriose Begebenheit soll sich an der Nordsee zugetragen haben, wo im Jahre 1809 westfälische Soldaten in der Gegend von Cuxhaven die Kontinentalsperre gegen England überwachen sollten. Bei ihrem ersten Strandbesuch wurden sie prompt von englischen Fregatten beschossen. Am folgenden Tag aber landeten englische Parlamentäre – und entschuldigten sich für die Schüsse, man habe die Westfalen wegen ihrer Uniform mit Franzosen verwechselt. Die Deutschen aber könnten ungestört am Strand spazieren und seien auch herzlich eingeladen, die Schiffe zu besichtigen. Das Angebot nahmen einige tatsächlich an, während umgekehrt englische Offiziere immer wieder an Land kamen, im Ort frisches Gemüse einkauften und heimlich offenbar auch Schlachtvieh. ‚Sehr oft waren englische Werber zwischen uns und suchten uns zum Desertiren nach den englischen Schiffen zu verleiten. Mehrere Westfäler gingen, durch das Handgeld gelockt, über‘. Letztlich ausschlaggebend war also in diesen Fällen offensichtlich doch das traditionelle Lockmittel Geld.

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Nur ein Jahrzehnt nach dem ersten Revolutionskrieg war die traditionelle Ordnung Mitteleuropas unter dem militärischen Druck Frankreichs zusammengebrochen. In den Niederlanden, in der Schweiz und in Italien etablierten die französischen Eroberer, seit 1799 unter der Führung Napoleons, abhängige Republiken. 1806 endete die Existenz des Deutschen Reiches mit der Resignation des letzten Kaisers. Im selben Jahr erlitt auch Preußen ein militärisches Desaster und verlor seine politische Unabhängigkeit. Zu den Krisensymptomen im militärischen Musterstaat zählte nicht zuletzt, daß während und nach der Mobilmachung 1805 über 9500 Soldaten desertierten. Am Ende behauptete nur Österreich noch seine Handlungsfreiheit, mußte aber selbst 1809 nach der Niederlage bei Wagram bedeutende Gebietsverluste hinnehmen.
Das ganze ehemalige Reichsgebiet wurde auf diese Weise nach und nach in den Strudel der Koalitionskriege und der Napoleonischen Kriege hineingezogen. Davon war die männliche Bevölkerung ganz konkret betroffen, denn die Herrscher forderten so viele Soldaten wie noch nie – und das bedeutete meistens Einsatz im Krieg. Württemberger und Westfalen, aber auch Lipper und Rudolstädter fanden sich auf diese Weise bei der Niederkämpfung des spanischen Aufstandes in Andalusien wieder – oder vor Moskau, während des verhängnisvollen Rußlandfeldzuges 1812.
Denn unter dem Druck der französischen Hegemonie wurden bis 1813 Soldaten vor allem für die Fahnen Napoleons mobilisiert.

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Der Rekrutierungsdruck zwang auch die deutschen Fürsten zu einschneidenden Maßnahmen und beschleunigte damit einen epochalen Wandle der Militärstrukturen. Nicht nur, daß traditionelle Söldnerwerbungen zu teuer geworden wären; durch die Neuordnung der Grenzen gerade im Südwesten und die gleichmäßige Steigerung des Bedarfs an Soldaten brach das Angebot freiwilliger Söldner weitgehend zusammen. Die Zeit der Söldner fand damit auch im Reich ein ziemlich rasches Ende. An ihre Stelle traten die dienstverpflichteten Untertanen. Schon um die Jahrhundertwende, unter dem Druck der französischen Expansion, fanden die ersten grundlegenden Militärreformen deutscher Fürsten statt, etwa in Württemberg oder Bayern. Ab 1806 übernahmen die meisten Rheinbundstaaten die Konskription nach französischem Vorbild.
Damit veränderte sich das Gesicht der Heere. Die Soldaten wurden jünger, weil die Aushebungen zunächst nur die unverheirateten jungen Männer erfaßten. Vor allem aber bedeutete der Verzicht auf die Söldnerwerbung, daß nun auch keine Ausländer mehr Dienst nahmen. Deren Anteil war in den Heeren der kleineren deutschen Territorien zwar ohnehin nicht sehr groß. Ihr Ausscheiden entsprach aber der Tendenz, die Militärdienstpflicht der Untertanen nicht nur als Rechtsanspruch des Monarchen, sondern gemäß patriotischer Tugendlehre auch als Dienst am Staat zu begründen.

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Alle Staaten sahen sich dennoch mit zahlreichen Fällen militärischer Verweigerung konfrontiert. Die Einführung der Konskription veränderte allerdings auch in Deutschland deren Gesicht. Neben die Desertion trat mindestens gleichgewichtig die Flucht schon vor der Aushebung als eng verwandte Ausdrucksform militärischer Verweigerung. Dieser Effekt hatte sich zuvor in Frankreich ebenso eingestellt wie schon im18. Jahrhundert in Preußen nach der Einführung des Kantonsystems. Das bedeutete mehr als nur eine Verschiebung des Zeitpunkts der Flucht. War in den traditionellen Söldnerheeren die Desertion ein internes Problem des Militärs, so wurde die Verweigerung nun zu einer öffentlichen Angelegenheit. Vorher konnten nur Soldaten desertieren, nun machte die Konskription jeden dienstpflichtigen Untertan zum potentiellen Straftäter.

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Die Flucht der Konskribierten und Soldaten hinterließ nicht nur in den militärischen Akten Spuren. Sie spiegelt sich auch in den zivilen Justizakten. Die Destabilisierung sozialer Ordnungen durch die anhaltenden Kriegszüge führte nämlich dazu, daß eine wachsende Zahl von Menschen auf der Straße blieb. Überfälle und Diebstähle nahmen zu, und die meisten der legendären Räuberbanden erlebten in diesen Jahren ihre Blüte. Unter der nichtseßhaften Bevölkerung befanden sich nun auch zahlreiche junge Männer, die sich durch Verweigerung oder Desertion der Konskription oder dem Krieg entzogen hatten. Auch sie schlossen sich teilweise den Räuberbanden an.
Ihr Anteil an den Verhaftungen vermittelt immerhin eine Vorstellung von den Dimensionen. Westfälische Zeitschriften gaben 1812 an, daß sich unter den Verhafteten der ersten sechs Monate des Jahres 170 Deserteure und 677 flüchtige Konskribierte befunden hatten. Auf Bayerns Straßen wurden zwischen 1806 und 1815 knapp 270.000 Menschen von den Ordnungstruppen aufgegriffen, darunter befanden sich beinahe 7800 bayerische Deserteure und über 5100 flüchtige Dienstpflichtige, aber auch fast 43.500 ausländische Deserteure.
Gelegentlich bildeten die militärischen Flüchtlinge selbst bewaffnete Vereinigungen. Dieses Phänomen trat besonders deutlich in Frankreich in Erscheinung. Es heißt, im Zentralmassiv sei eine solche Gruppe auf über 1000 Mitglieder gewachsen. Auch in den deutschen Territorien bildeten sich solche, wenn auch kleinere Zusammenrottungen. So mußte im Oktober 1809 der Präfekt des Werra-Departments im Königreich Westfalen eine Verstärkung des Militärs anfordern, weil bewaffnete Trupps, vor allem aus Deserteuren und flüchtigen Konskribierten, durch das Land zogen. Allem Anschein nach dienten solche Gruppenbildungen dem sicher nicht immer gewaltlosen Lebensunterhalt und dem Schutz gegen die Verfolger.
Es ist allerdings nicht leicht, aufgrund der bisher erschlossenen Quellen über die Motive der Verweigerer und Deserteure zu urteilen. Die politische Konstellation scheint nahezulegen, ihre Widersetzlichkeiten als Protest gegen die französische Vorherrschaft zu begreifen. Das hieße, daß dem neuen, nationalisierten Soldaten auch ein neuer Typ des patriotisch motivierten Deserteurs gegenüber getreten wäre. Solche Gleichstellungen dürfen allerdings nicht ohne weiteres vollzogen werden. Schließlich konnte von einer allgemeinen patriotischen oder gar gesamtdeutschen Stimmung keineswegs die Rede sein. Im Blick auf die Untertanen der deutschen Rheinbundfürsten darf nicht unterschätzt werden, daß Militärpakte mit ausländischen Mächten an sich ja keine Besonderheit darstellten. Schließlich wurden im 18. Jahrhundert nicht selten Bündnisse auf der Grundlage Geld gegen Soldaten geschlossen, die die Söldner bis nach Amerika oder Südafrika geführt hatten.
Umgekehrt bedurfte es auch keineswegs zwingend neuer Motive für militärische Verweigerung. Für die Menschen war eine militärische Dienstpflicht noch keineswegs selbstverständlich, und so richtete sich ihr Unwillen in vielen Fällen gegen die Konskription an sich, ganz unabhängig davon, wer sie zu welchem Zweck eingeführt hatte. In diesem Sinne nahmen die Obrigkeiten hinter den Verweigerungen oft nur ganz diffuse Unlust wahr. Eben solchen Widerwillen hatte es schon im 18. Jahhrundert gegen den Militärdienst gegeben, und es gab ihn, wie die aufgeführten Zahlen gezeigt haben, ja nicht minder in Napoleons Frankreich.

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Das Scheitern des Rußlandfeldzuges erschütterte Napoleons Macht, schon bevor die Bündnisse gekündigt, der Machtbereich beschnitten wurde. Der Mißerfolg hatte das Charisma des Unbesiegbaren zerstört. Briefe und Augenzeugen enthüllten das Ausmaß der Katastrophe. Das hatte Folgen für die militärische Einsatzbereitschaft. Der Untergang der Truppen erforderte die Einberufung zahlreicher neuer Rekruten, die aber nun ganz unter dem Eindruck der Berichte aus Rußland und des sich abzeichnenden Machtwechsels standen.

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Die Dramatik der einzigartigen Situation kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß Kommandeure eigenmächtig über die Zugehörigkeit ihrer Truppen entschieden und sie aus dem Bündnis mit Frankreich lösten. Aus französischer Sicht mußte ein solches Verhalten als Verrat empfunden werden, und einzelnen Soldaten hätte man dies zweifellos als Überlaufen ausgelegt. So war es ja noch 1809 sogar dem später als Nationalhelden gefeierten Ferdinand von Schill in Preußen ergangen. Als aktiver Kommandeur hatte er versucht, mit seinem Regiment auf eigene Faust einen Krieg in Westfalen vom Zaun zu brechen: eine glatte Desertion, wie ein preußisches Kriegsgericht unter dem Vorsitz von Blücher erkannte. Selbst der Heeresreformer Gneisenau schrieb davon, ‚daß Schill mit seinem ganzen Regimente desertirt ist‘, während er selber an Planungen für eine preußische Legion teilnahm – die freilich aus inaktiven Soldaten rekrutiert und unter reguläres österreichisches Kommando gestellt werden sollte.
Als sich aber vier Jahre später,1813, die Wende der militärischen Machtverhältnisse abzeichnete, erschien der Seitenwechsel vielen Offizieren als Gebot der Stunde zum Wohle ihres Landes und Herrschers. Dabei stand ihre Loyalität gegenüber dem Landesherren nicht in Frage, sie nahmen nur für sich in Anspruch, dieses Gebot ein bißchen früher als die Monarchen erkannt zu haben. Nur unter dieser Voraussetzung konnte es soweit kommen, daß General Yorck von Wartenburg, ein konservativer Offizier aus altem märkischem Adel, Ende Dezember 1812 ohne königliche Ermächtigung die berühmte Konvention von Tauroggen schloß. Eigentlich Verbündeter Napoleons, vereinbarte er darin mit den Russen die Neutralisierung des ihm unterstehenden preußischen Armeekorps.
Im August 1813 gingen vier westfälische Schwadronen zu den Österreichern über, zwei weitere ließen sich später gefangen nehmen. Sie scherten sich nicht um ihren französischen Herrscher, König Jérôme, der die Offiziere öffentlich einer „infamen Verrätherei“, eines „hassenswerthen Complots“ beschuldigte.

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Nach und nach vollzogen aber auch die Herrscher offiziell den Bündniswechsel, allen voran der preußische König. Für Preußen bedeutete dieser Schritt eine militärpolitische Zäsur, denn jetzt wurden die lang gehegten Pläne der Militärreformer zur Aufrüstung vollzogen: Verkündungen der Allgemeinen Wehrpflicht und damit verbunden Aufhebung der meisten Exemtionen. Auf dieser Grundlage wurden die stehenden Verbände aufgefüllt und eine auf über 100.000 Mann geplante Landwehr aufgestellt. Den bisher eximierten Männern wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich vor der Einberufung für spezielle Bataillone aus Freiwilligen zu melden.
Die Aufrufe fanden ein lebhaftes Echo. Zahlreiche Erinnerungsberichte zeugen von einer in Preußen bis dahin unbekannten Kriegsbegeisterung, mit der sich in Königsberg wie in Berlin oder Breslau scharenweise Freiwillige meldeten. Wurden zwanzig Jahre früher die französischen Revolutionsheere von einer Kombination aus republikanischem und nationalem Pathos inspiriert, so artikulierte sich in Preußen primär eine nationale Euphorie gegen die französische Besetzung. Voller Emphase zogen nun selbst Mitglieder der bürgerlichen Schichten in den Krieg, Beamte, Kaufleute, Akademiker die bis dahin immer Distanz zum Kriegshandwerk gewahrt hatten. Schließlich waren es Philosophen, Theologen und Dichter gewesen, die in den vorangegangenen Monaten und Jahren das nationale Pathos beschworen hatten. Zum Symbol wurden die enthusiastischen Studenten, die nun – aus ganz anderen Motiven als dreißig Jahre vor ihnen Magister Laukhard – in das legendäre Freikorps Lützow eintraten.
Die Kriegsbegeisterung der bürgerlichen Eliten beherrscht dank zahlloser beredter Zeugnisse das Bild der Befreiungskriege. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Freiwilligen innerhalb des Heeres nur eine Minderheit darstellten, etwa 8000 in den bewegten Wochen bis Juni 1813, rund 30.000 bis Sommer 1814. Daß selbst unter den freiwilligen die klassische Klientel der Heere – also Handwerker, Bauern, Tagelöhner, Knechte – die große Mehrheit bildete, zeigt immerhin an, daß die Bereitschaft zum Kriegsdienst in breiteren Bevölkerungsgruppen Fuß gefaßt hatte. Das zeigte sich auch bei der Aufstellung der Landwehr, freilich mit starken regionalen Unterschieden. Trotz großer Probleme mit der Ausrüstung verlief ihre Aufstellung in Ostpreußen, Pommern und der Mark Brandenburg bei aller Improvisation halbwegs planmäßig. Die Bereitwilligkeit vieler Untertanen unterschied sich darin nicht von den Freiwilligen. Freilich muß offen bleiben, inwieweit sich darin tatsächlich schon patriotische Kriegsbegeisterung oder doch noch eher untertäniger Gehorsam zeigte.
In anderen Gegenden stießen die Aushebungen auf Widerwilligkeit und Verweigerung.

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In Westfalen hatte das preußische Militär-Gouvernement nach der Besetzung nicht zuletzt damit zu kämpfen, daß die Bevölkerung seit Jahren durch die französischen Konskription belastet gewesen war. Die Aufrufe zur Landwehr fanden daher ein sehr unterschiedliches Echo und stießen teilweise auf beträchtliche Schwierigkeiten. Aus dem märkischen Regiment desertierten binnen zwei Monaten nach der Aufstellung 336 von knapp 2500 Landwehrmännern, aus dem Münsterschen 631 von gut 2800 während nur einer Verlegung. Von 139 aufgeforderten Männern eines Dorfes bei Lingen stellten sich nur 13 ein – von denen 12 gleich wieder verschwanden. Die hier skizzierte Landkarte der Verweigerungen hatte allerdings Tradition; gerade die Rekruten aus den jüngeren und peripheren Provinzen, Schlesier und Westfalen, galten schon in der preußischen Armee des 18. Jahrhunderts als wenig zuverlässig.

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Desertionen und Verweigerungen hörten also mit dem Aufbruch in die Befreiungskriege keineswegs auf. Während des Krieges spielte dabei sicher auch die Labilität der neuen, oft noch improvisierten militärischen Strukturen eine Rolle. Große Teile der Bevölkerung waren aber auch noch lange nicht von der Notwendigkeit und Legitimität eines Militärdienstes überzeugt, der ihnen Zwang und Strapazen aufnötigte und sie aus ihrer Umgebung und ihrem Erwerb riß. Die Etablierung der Wehrpflicht in den deutschen Staaten konfrontierte die Bevölkerung nun zwar dauerhaft mit dem Militärdienst. Die Armeen zogen aber noch lange nur einen Teil der Dienstpflichtigen ein. Zudem eröffneten die Militärverfassungen weiterhin unterschiedliche Auswege – beispielsweise durch Stellvertreter oder durch ärztliche Atteste –, die gerade von bürgerlichen Gruppen ausgenutzt wurden, um sich legal dem Militärdienst zu entziehen. Parallel dazu hatten sich nun aber neue Einstellungen zum Militär und innerhalb des Militärs entwickelt. Die Euphorie der Befreiungskriege besiegelte die Tendenz zur Nationalisierung der Armeen, die nicht nur äußerlich, in der Rekrutierung, sondern auch in den Köpfen stattfand. Der Rekrut sollte nicht allein dem Zwang folgen, sondern dem eigenen Antrieb, indem er sich mit Fürst und Staat identifizierte. So lautete nicht nur das obrigkeitliche Erziehungsideal, das seit der Reformära durch Schule und Militär in die Bevölkerung getragen werden sollte. Die Erfahrungen der Kriege seit 1806 zeigten, daß dieser Prozeß auch durch die militärische Praxis selbst in Gang gesetzt werden konnte, sogar in den mit Frankreich verbündeten Fürstenstaaten. Schließlich bestanden auch deren Truppen, die insgesamt mehrheitlich und teilweise bis zur Selbstaufgabe loyal geblieben waren, aus Dienstverpflichteten. Viele von ihnen währen unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts nie mit der Armee in Berührung geraten, entwickelten sich nun aber, zwischen Zwang, Fürstenloyalität und dem Mythos Napoleon, zu dienstbeflissenen Soldaten.
Zahllose private Kriegstagebücher und Memoiren zeigen, in welcher Weise diese Erfahrungen eine ganze Generation aufgewühlt und geprägt haben. Die Erinnerungen wurden eben nicht allein von Leiden und Schrecken beherrscht. Sie spiegeln auch die Empfindung, durch Teilnahme an außerordentlichen Ereignissen eine außerordentliche Bedeutung erlangt zu haben. Dadurch gewann der Militärdienst ein neues Renomee. In Pflichtbewußtsein, Siegerruhm und Nationalstolz suchten die Überlebenden den Sinn für ihre Erlebnisse. Der höhere Ruhm des Fürsten und der Armee fragte nicht nach dem Bündnispartner. In diesem Sinne brachte die Epoche einen neuen Soldatentyp hervor.“

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