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Auszüge aus: Jörg van Norden, Zwischen legaler und traditionaler Herrschaft. Die evangelische Kirche im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen 1806-1813, in: Jahrbuch ..., S. 348-352:


„Die Versorgung der Kranken, Bedürftigen und Mittellosen gehörte von je her zu den Aufgaben der Kirchengemeinde. Die Mittel stammten aus Kollekten, Spenden sowie Immobilien und Kapital, die ihr zu diesem Zweck gestiftet wurden. Der Pfarrer oder ein Presbyter vergewisserte sich, dass der Bittsteller zur eigenen Gemeinde gehörte, und prüfte seine ‚Würdigkeit‘. Diese Prüfung war insofern aus damaliger Sicht plausibel, als Armut als Folge unchristlichen Lebenswandels interpretiert wurde und die Armenpflege erzieherisch bei den Wurzeln des Übels ansetzen wollte. Die Bittsteller hatten keinen Anspruch auf Hilfe, die Entscheidung lag in jedem Einzelfall bei dem zuständigen Pfarrer. Die kirchliche Armenpflege war aus heutiger Sicht ein wirksames Mittel sozialer Kontrolle.
Mit der Frühindustrialisierung, der wachsenden Mobilität und dem Pauperismus um 1800 stießen die Kirchengemeinden der städtischen Zentren an die Grenze des Leistbaren. Einerseits gehörten die Mittellosen zum großen Teil nicht zur eigenen Gemeinde und konnten in der Regel kein ‚Armutszeugnis‘ vorlegen, um in den Genuss der Unterstützung zu kommen, andererseits reichten die Mittel der Armenfonds nicht aus, um den Bedürftigen zu helfen. Das Problem manifestierte sich an den vergeblichen Versuchen der Klassen, die Belastung der Kirchengemeinden auszugleichen, bzw. in Streitfällen zu vermitteln und zu entscheiden, welche Kirchengemeinde einen Armen, der seinen Wohnort gewechselt hatte, unterstützen musste. Gleichzeitig entstanden in Elberfeld, Düsseldorf und Bielefeld kommunale Armeninstitute, an deren Gründung auch Pfarrer maßgeblich Anteil nahmen und die durch die Bündelung der kirchlichen, privaten und kommunalen Ressourcen eine höhere Effektivität bei gleichbleibenden Mitteln zu erreichen versuchten.

Am Vorbild dieser Armeninstitute orientierte sich 1806 die Initiative der großherzoglichen Regierung, in jedem Bezirk bzw. Distrikt anstelle der kirchlichen Armenpflege ein überkonfessionelles Armeninstitut einzurichten, das aus den Erträgen der bisherigen Armenfonds Bittsteller nach ihrer Bedürftigkeit und nicht nach ihrer ‚Konfession‘ unterstützen sollte. Besonders die reformiert bergische Synode protestierte energisch gegen diese Reform und einige ihrer Pfarrer boykotierten die Mitarbeit, ohne die die Gründung der Armeninstitute jedoch unmöglich war, denn sie verwalteten nicht nur die entsprechenden Fonds, sondern verfügten auch über die unbedingt notwendigen Ortskenntnisse. Das Beispiel Elberfeld zeigt, dass sich der Alleinvertretungsanspruch der Kirchengemeinden in Sachen Armenpflege nicht auf den ländlichen Bereich beschränkte. Innenminister von Nesselrode-Reichenstein rügte die reformiert bergische Synode und wies sie auf die Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber der Obrigkeit hin, die auch für die Pfarrer gelte. Die Souveränität der großherzoglichen Regierung bestehe gerade darin, dass sie nicht an die althergebrachten Strukturen und Armenordnungen gebunden sei, mit denen die Synode ihren ‚Widerstand‘ zu begründen versucht hatte. Kirchlicherseits zeigte lediglich der lutherisch märkische Präses Bädecker Verständnis für die Verstaatlichung, besser gesagt die Kommunalisierung der Armenpflege, weil dadurch zwar die Autorität der Pfarrer abnehme, sie aber für ihre eigentliche Aufgabe, die Verkündigung des Evangeliums entlastet würden.
Im Königreich Westfalen gab es keinen vergleichbaren Ansatz zu einer Reform der Armenpflege. Ein Edikt König Jéromes vom 24.3.1809 forderte zwar die Begrenzung der Armut und wurde vom Innenminister durch Ausführungsbestimmungen ergänzt, ohne dass jedoch genauere Vorgaben und Fristen für die untergeordneten Ebenen gemacht bzw. gesetzt wurden. Laut Verwaltungsordnung waren die Präfekten für die Aufsicht über ‚milde‘ Stiftungen sowie das Wohltätigkeits- und Armenwesen zuständig. Der Versuch des Weserpräfekten, die Maires zu Ausgaben aus dem Armenfond bis zu einer Höhe von 10 Reichstalern zu autorisieren, wurde vom Konsistorium strikt zurückgewiesen, weil dadurch ‚die Superintendenten und Prediger außer aller Verbindung mit der Verwaltung der Kirchen- und Armenfonds gesezt werden‘", woraufhin der Präfekt seine Verfügung zurückzog. 1811 führte man staatlicherseits eine zentrale Armensteuer für ‚bemittelte‘ Bürger ein. Dass diese Verordnung in der Praxis umgesetzt werden konnte, lässt sich allerdings in den lokalen Quellen nicht feststellen. Gleiches gilt für die Einrichtung eines Zentralbüros in Kassel, das alle das Armenwesen betreffenden Spenden und Stiftungen verwalten sollte.

Die kirchliche Armenpflege blieb in einigen Gemeinden erhalten, allerdings stiegen die Ausgaben, wie das Beispiel der Kirchengemeinde Vlotho zeigt, drastisch an. Aus ihren Armenfonds wurden im Jahr 1800 1004, 1813 aber schon 1645 Reichstaler an Bedürftige ausgezahlt. 1829 gründete man, möglicherweise um der wachsenden Kosten Herr zu werden, schließlich ein kommunales Armeninstitut in Vlotho. Ein solches Institut gab es seit 1810 in Minden, in Höxter und bereits seit 1786 in Bielefeld. Das Bielefelder Institut vereinigte die Armenpflege der christlichen Gemeinden und von acht Stiftungen. Das Armenregulativ von 1807 beteiligte die Pfarrer der drei Konfessionen an den leitenden Gremien des Instituts und an der Auszahlung der Armengelder. Die ‚Ortsarmen‘ wurden von zwei Armenärzten versorgt. Das Armeninstitut bezahlte die Arzneikosten. Weil die Bielefelder Stadtkasse Armenkapitalien zur Tilgung von Kriegsschulden zweckentfremdet hatte, konnten die Unterstützung für die knapp 660 Bielefelder Armen im Jahr 1810 nur eingeschränkt ausgezahlt werden. ‚In Erwägung des mangelhaften Zustandes der Armenversorgungs-Anstalten im Distrikt Bielefeld, in der Absicht, die überhand nehmende Haus- und Straßenbetteley gänzlich abzustellen, und die Unterstützung der würklich bedürftigen zweckmäßig und überall gleichförmig zu regulieren‘ verordnete Unterpräfekt von Bernuth im Juni 1811, dass in Zukunft die Armenkommission vom Munizipalrat ernannt werden sollte, so dass die Pfarrer nicht mehr qua Amt beteiligt waren. Gleichzeitig appellierte er an die Geistlichen, sich wie bisher in der Armenpflege zu engagieren. Das neue Regulativ wurde erst im Juli 1813 in Kraft gesetzt, so dass es gewissermaßen von dem Ende des Königreiches Westfalen überholt wurde. De facto setzte sich die Armenkommission bis 1817 aus sechs Geistlichen, dem Superintendenten Scheer, den drei lutherischen, dem reformierten und dem katholischen, sowie fünf weiteren Vertretern der Bürgerschaft zusammen. Der Einfluss der Kirche auf die Armenpflege blieb also erhalten.

In Schildesche kam es laut Kahmann zu Konflikten, weil sich der Armenkassenrendant, Pfarrer Schrader, weigerte, seine Rechnungen beim Maire zur Revision vorzulegen. Derselbe Pfarrer Schrader kämpfte 1822 gegen die von dem preußischen Landrat von Borries eingesetzte Armenkommission, weil die Mittel jetzt nach Bedürftigkeit des Bittstellers und nicht mehr, wie kirchlicherseits üblich, nach seiner Würdigkeit vergeben werden sollten. 1826/27 löste man die kirchlichen Armenfonds entgültig auf und überführte die Kapitalien in eine zentrale Armenkasse. Damit wurde auch in Schildesche das betreffende ‚Kirchenvermögen kommunalisiert, entkonfessionalisiert und die Entscheidungsgewalt darüber einem ‚politischen‘ Armenvorstand übertragen‘. Die Kirchengemeinde konnte allerdings ihre Klingelbeuteleinnahmen gegen den kommunalen Zugriff verteidigen und ihre Armenpflege in einem bescheidenen Rahmen fortsetzen. 1857 entschädigte die Kommune die Kirchengemeinde in Form von Obligationen und Wertpapieren für die 1826 eingezogenen Armenfonds, so dass die kirchliche Armenpflege ausgeweitet werden konnte.
Herford erhielt im August 1813 ein kommunales Armeninstitut. In dem Leitungsgremium, der zentralen Armenkommission, saßen der Maire als Vorsitzender, die Prediger der Stadt, der ‚Polizei-Kommissär‘, drei Ärzte und weitere 18 Bürger. Von der Stimmenzahl her war der Einfluss der Prediger hier also etwas geringer als in Bielefeld. Allerdings beaufsichtigen die Pfarrer wie bisher im Rahmen der kirchlichen Armenpflege üblich die Bedürftigen ihrer Konfession. Der Maire bewirtschaftete das Armenvermögen und die -kasse, die sich aus den Zinsen der Kapitalien, den Kollekten, der ‚Armensteuer‘ der Wohlhabenden und, falls notwendig, den Zuschüssen der Kommunalkasse speisen sollte.“

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