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Aus: Stefan Haas, Die Ordnung des Alltags im Wandel von der ständischen zur modernen Gesellschaft, in: „ Zerbrochen ..., S. 319f:


„Verwaltung und Wissenschaft gingen eine Allianz ein, um ihre Vorstellungen einer neuen Ordnung des Todes durchzusetzen. Die Administration publizierte wissenschaftliche Texte in ihren Informationsblättern, wie den Text des Königlichen Leibarztes Christoph Wilhelm Hufeland, der den Bau von Aufbahrungshallen forderte, um so zu gewährleisten, daß kein Mensch zu früh beerdigt wurde. Die Angst, Scheintod begraben zu werden, war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert weit verbreitet. Der wissenschaftliche Diskurs hatte die traditionellen Merkmale, an denen man den Tod erkannte, in Frage gestellt. Mit dem Verlust gewohnheitsmäßiger Ordnungsmuster verloren die Menschen Sicherheit und reagierten mit Angst. Die Verwaltung wollte eine neue Ordnung durchsetzen und verordnete eine dreitägige Aufbahrung der Leichen sowie die Ausstellung eines Totenscheines durch einen wissenschaftlich ausgebildeten Arzt.
Diese Organisation der Bestattungspraxis widersprach einer jahrhundertealten dörflichen Tradition, nach der die Nachbarn einen Toten nach dem Ableben einkleideten und umgehend zu Grabe trugen. 1837 berichtete der Steinfurter Landrat, Bernhard Cormann, an die Regierung zu Münster, daß die neuverordneten Maßnahmen nicht auf Zustimmung stießen und die Gemeinden seines Kreises sich zur Besoldung eines qualifizierten Leichenbeschauers nicht bereit erklärten. Auch von Pfarrern gab es zunehmend Kritik an der neu eingerichteten Praxis: Jugendliche mußten meist nachts die Leichen bewachen, damit die Nachbarn den Verstorbenen nicht frühzeitig beerdigten. Das Verbleiben von jungen Personen in der Nähe von Toten wurde aber als sittlich anstößig empfunden.

Auch bei der Neueinrichtung von Friedhöfen kam es zu Konflikten. Noch während der französischen Zeit hatte das Großherzoglich Bergische Administrationskollegium der Provinzen Münster, Lingen und Tecklenburg, das während der französischen Zeit die Funktion einer preußischen Kriegs- und Domänenkammer übernahm und nahezu aus den gleichen Beamten bestand, die bereits in der preußischen Zeit der Behörde angehört hatten, bestimmt, daß in Münster alle Kirchhöfe vor die Stadt zu verlegen seien. Dazu hatte man konkrete Orte ausgesucht, auf denen die Beerdigungen stattfinden sollten. In dieses Reglement implementierte man eine Anordnung, die sich weder durch medizinische Diskurse noch durch die Vorgängerregelungen begründen lässt: ‚Dabey wird das Begraben in der Reihe, ohne Unterschied des Ranges und Standes dergestalt eingeführt werden, dass Leichensteine nicht Statt finden, da solche das Reihe-Begraben stören, und zu vielen Raum nehmen. Nur allein für diejenigen, welche auf diesem neuen Kirchhofe erbliche oder eigene Familienbegräbnisse oder besondere Stellen angewiesen erhalten, wird die Setzung eines Leichensteins zwar gestattet, jedoch mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass derselbe nicht flach seyn, und den Raum nicht beengen darf, sondern aufrechtstehende, mit einem schmalen, die Gränzen [sic] des Leichenplatzes oder der Gruft nicht überschreitenden Piedestal anzulegen ist.‘
Traditionellerweise waren die Leichen im Zentrum der Dörfer und Städte, im Umfeld der Kirchen begraben worden. Privilegierte Personen wurden im Innern der Gotteshäuser bestattet, wo repräsentative Monumente an sie erinnerten. Die neue Ordnung sah dagegen eine weitgehend standeslose Bestattungspraxis vor. Größe und Form der Grabsteine wurden begrenzt. Außerdem wurden die Friedhöfe, orientiert an den Hygienevorstellungen des medizinisch-wissenschaftlichen Diskurses, an die Stadtränder verlegt. Mit solchen Regelungen hatte sich der Blick auf die Toten verschoben. Für die Anlage eines Friedhofs waren nicht mehr sie und ihre Totenruhe ausschlaggebend, sondern der Blick der Lebenden, der nicht gestört werden durfte. Aus diesem Grund sollte ein Friedhof nicht in der Nähe eines fließenden Gewässers angelegt werden, da bei Hochwasser die Leichen ausgeschwemmt werden und diese den Anblick der Lebenden stören konnten. Andere Reglements bestimmten für die Anlage des Friedhofes einen Begräbnisplatz, von dem die Ausdünstungen der Leichen nicht in Richtung Stadt wehten.

Die preußische Verwaltung übertrug das medizinische Problem, das aus einem Gefühl kollektiver Angst heraus motiviert war, in die ihr eigene Sprache rationeller Administration. Für sie war ein Friedhof kein Ort der Erinnerung, sondern eine Maschine, deren Aufgabe die Verwesung der Leichen war: ‚Die polizeiliche Fürsorge fordert geräumige, zur völligen Verwesung der Körper geeignete und mit lebendigen Hecken, Zaunwerk oder Mauern wohl eingefriedigte [sic] Begräbnisplätze.‘ [...]“

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