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Nation, 1) (lat. Nation, Anthropol.), deutet schon als Wort (von Nascor gebildet) an, daß darunter eigentlich nur ein durch Geburt und gemeinschaftliche Abstammung zu Stande gekommener Menschenverein zu verstehen sei. Insbesondere deutet auch die Unterscheidung von Volk und N. und die Mehrdeutigkeit des ersten Worts darauf hin, daß es ein inneres, zunächst aus der Menschennatur selbst hervorgegangenes Band sey, was die N. zu einem Ganzen macht, während Völker, wenigstens anscheinend, zufällig sich bilden; so entstanden in ältester wie in neuerer Zeit Staatenvereine aus sehr verschiedenen N.en. Ebenso aber können auch durch Abscheidungen in einer N., wodurch sie aus den durch die Natur ihnen nahe gelegten Verhältnissen treten, sich Völker bilden; ja selbst in einem Staate, der zugleich eine N. ist, wird der Begriff Volk nur auf einen Bestandtheil desselben beschränkt, wie in der bekannten Unterscheidung des alten römischen Staats. Selbst vorübergehende Vereine von Menschen erhalten den Namen Volk; so spricht man von Wogen des Volks auf den Straßen, eben so in Zusammenfügung mit andern Worten, von Schiffsvolk, Fußvolk u.s.w. Ueberhaupt wird in dem Begriffe Volk mehr auf die Menge, die durch Vielheit imponirt, in dem Begriffe N. aber mehr auf die natürlich verbindende Einheit gesehen, und man bezeichnet dann dies verbindende Eine als Nationalität, wogegen man mit dem analogen Worte Volksthümlichkeit öfters Nebenideen in Verbindung bringt, die aus jener Spannung der Politik hervorgehen, in welcher die Menschen in ihrem Zusammenleben jene Naturbande schon längst durchbrochen haben, durch welche sie zu einem in sich geschlossenen und wenigstens dem Principe nach friedlichen Ganzen vereint waren. Das nationelle Leben ist nämlich als eine zweite Steigerung des individuellen menschlichen Lebens anzusehen, dessen erste Steigerung das Familienleben ist. Indem Familien in einer und derselben Wohnstätte der Erdoberfläche sich zusammenfinden, oder in spätern Generationen die Bande des Familienlebens lockerer werden, bilden sich N.en in der einfachsten Weise, die dann, wenn ihnen ihr Wohnplatz nicht mehr genügt, in Nomadenstämmen umherziehen und, wo sie hinlängliche Weide für ihr Vieh und fruchtbaren Boden finden, sich ansiedeln und nun erst, unter immer vielfacher werdender Verschlingung der geselligen Bande, zur Höhe des Nationallebens gelangen. Völlig der Natur überlassen breiten die sonach sich bildenden N.en, unter, bei hinreichenden Lebensmitteln, nie ausbleibender Vermehrung, immer bis dahin sich aus, wo entweder Meere, oder große Meeresbuchten oder (jedoch seltener) lange und hohe Bergketten, oder weite Sandsteppen oder Moräste, dem weiteren Fortgange Hemmungen entgegensetzen. Noch ehe aber eine N. diese natürliche Grenze für ihr Nationalleben erreicht, hat gewöhnlich in ihr selbst sich schon ein Conflict gebildet, der aus der Ungleichheit der individuellen Anlagen u. Kräfte der Menschen, aus der natürlichen Geneigtheit der Menge, sich vorwaltend stärkeren Naturen unterzuordnen, aus Furchtsamkeit u. Scheu vor Lebensbeschwerden, als den natürlichen Begleitern der Schwäche, auf natürliche Weise hervorgeht, indem zugleich die überlegene Kraft Einzelner dieses Mißverhältniß zum Vortheil für sich, unter Nichtachtung gegenseitiger Rechtsansprüche, benutzt und so jene Despotie hervortritt, die auch im Thierleben jedes an Kraft anderen überlegene Geschöpf gegen sie ausübt, im Menschenleben aber, auch schon im Familienleben, sich, wiewohl noch in beschränkterem Kreise, geltend macht, im ursprünglichen Nationalleben, als erweitertem Familienleben, jedoch erst ein freies Feld gewinnt. Jener allgemeine Kriegszustand der Menschen in ihren geselligen Verhältnissen, der auch auf den höchsten Culturstufen nur momentan beschwichtigt wird und als offener oder versteckter Krieg hier nur erst ein System erhält, tritt also lange vor völliger Ausbildung einer eigentlichen Nationalität hervor.
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Daß, dem friedlichen Principe der Natur nach, Menschenvereine sich zu N.en bilden sollen, ersehen wir deutlich aus den Uebereinstimmungen, welche Menschen, die lange innerhalb einer Naturgrenze zusammenleben, erhalten, wodurch ihnen gleichsam die Natur selbst einen Stempel aufdrückt. Hierhin gehören die als Nationalphysiognomie bezeichneten eigenen Gesichtszügen, die u.a. so entschieden bei den Chinesen hervortreten, welche, unter den großen Völkerschaften, am wenigsten aufgehört haben, eine N. zu sein. Die von der Natur verliehene Nationalbildung beschränkt sich aber nicht auf die Gesichtszüge, sondern verbreitet sich auf den ganzen Körper, wie solches am auffallendesten sich in der Negerbildung des innern Afrika darlegt. Ja auch der Geist nimmt an dieser Uebereinstimmung Theil. Zu Folge der natürlichen Geistesentwickelung einer N. bilden sich Nationalsprache, Nationalreligion, Nationalsitten aller Art, überhaupt ein Nationalcharakter. Alles dies ändert sich im Zeitfortgange, in dem Verhältniß als eine N., von innen und außen beeinträchtigt, ihren frühern Verhältnissen entzogen und in neue versetzt wird, die wenigstens eine Zeit lang als Zwang erscheinen. So artet eine N. auch wohl auf ihrem ursprünglichen Wohnsitze nach und nach aus, wie z.B. die Griechen der letzten Jahrhunderte. Gehen aber N.en aus ihren ursprünglichen Wohnstätten aus und wählen sich einen fremden Erdstrich zu ihrer Heimath; so macht zunächst das Klima und überhaupt die Naturbeschaffenheit eines Landes seinen Einfluß auf die neuen Ankömmlinge geltend; durch Abweichung der Lebensart, auch durch Vermischung der Ankömmlinge mit den Ueberresten der N. des Landes, bilden sich Sittenveränderungen, u. so erhält das nun hier sich gestaltende Völkerleben ein durchaus neues Gepräge. So hat die Völkerwanderung ganz neuen N.en in Europa ihr Entstehen gegeben; so gestaltet sich, unter den Nachkömmlingen der, unter den vielfachsten Verhältnissen, nach Amerika übergesetzten Colonien daselbst ein ganz neues Völkerleben.
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Wie aber ein Mensch im individuellen Leben sein Heil dann am wenigsten verfehlt, wenn er der Natur getreu bleibt und ihren Gesetzen Folge leistet; so wird auch immer eine neu generirte N. um so gewisser Sicherung ihrer Nationalwohlfahrt auf längere Zeit hinaus dann erlangen, wenn einer begünstigenden Naturbeschaffenheit des Landes, unter verhältnißmäßiger Umfassenheit und einer durch die Natur selbst dargebotenen Abgrenzung, eine weise Politik zu Hülfe kommt, die eben so die Vortheile der innern Ausbildung eines Staats zur Nationalität anerkennt, u. auch durch angemessene Erweiterung, wo diese auf einfache, gerechte und ungezwungene Weise geschehen kann, zu fördern sucht, als auch die Störungen, die durch Ueberschreiten der Nationalgrenzen, wenn einmal ein Staat einen, für seine Nationalkraft ausreichenden Umfang erhalten hat, in ein Nationalleben gebracht werden, nicht übersieht und um so mehr auf Vergrößerung des in sich abgeschlossenen Staats verzichtet, als diese nur selten ohne Verletzung der Gerechtigkeit gegen andere Staaten und Nationen geschehen kann. In dem Maße, als dies Ziel verfolgt wird, wird auch Patriotismus u. Vaterlandsliebe angeregt und immer fester gegründet, welche der eigentliche innere Haltepunkt eines Nationallebens sind.“



Vaterland (lat.patria, Rechtsw.), 1) das Land, worin der Vater eines Menschen zur Zeit der Geburt des Letztern seinen Wohnsitz hatte. 2) Das Land, wo Jemand geboren ist.
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3) Das Land, wo Jemand seinen Wohnsitz hat. – Ob der Mensch aber im V. der Geburt bleibe, oder sich ein neues V. suche, so ist er doch diesem so gut, wie jenem die Pflichten eines guten Unterthanen schuldig, er muß im letztern Falle sein zweites V. wie sein erstes ansehen, muß ihm mit Treue anhängen, die öffentlichen Lasten willig tragen, das allgemeine Beste zu fördern suchen und zur Vertheidigung gegen Feinde bereit sein. 4) Das Land, in welchem gewisse Thiere und Pflanzen ursprünglich erzeugt werden, wo gewisse Mineralien am häufigsten gefunden werden, wo Kunstproducte erfunden werden. In denselben Bedeutungen Vaterstadt.“

 
Quellen: H.A. Pierer (Hg.), Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künster und Gewerbe,
Bd. 14, Altenburg 1830, Sp. 452-454 /
H.A. Pierer (Hg.), Universal-Lexikon oder vollständiges encyclopädisches Wörterbuch,
Bd. 24, Altenburg 1835, Sp. 64.

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