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Auszüge aus: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne (EVA-Reden 20), Hamburg 1996:


„Folgt man gewissen Theoretikern der Politik, so ist die Nation vor allem anderen eine Dynastie, die eine alte Eroberung repräsentiert, mit welcher die Masse der Bevölkerung sich zunächst abgefunden und die sie dann vergessen hat. Den politischen Denkern zufolge, von denen die Rede ist, geht die von einer Dynastie, durch ihre Kriege, ihre Heiraten, ihre Verträge herbeigeführte Zusammenfassung von Provinzen auch mit der Dynastie, die sie geschaffen hat, zu Ende. Es stimmt, daß die meisten modernen Nationen von einer Familie feudalen Ursprungs begründet wurden, die sich mit dem Boden vermählt hat und gewissermaßen ein Zentralisationskern geworden ist.
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Aber gilt ein solches Gesetz unbedingt? Sicher nicht. Die Schweiz und die Vereinigten Staaten, die sich als Konglomerate schrittweise erfolgter Hinzufügung bildeten, haben keine dynastische Grundlage.
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Man muß also einräumen, daß eine Nation ohne dynastisches Prinzip existieren kann, und sogar, daß Nationen, die von einer Dynastie geschaffen wurden, sich von ihr trennen können, ohne daß sie damit zu existieren aufhörten. Das alte Prinzip, das nur das Rest der Fürsten berücksichtigt, soll nicht mehr gelten: Jenseits des dynastischen Rechts gibt es das Völkerrecht. Auf welches Kriterium ist es zu gründen, an welchem Zeichen zu erkennen, von welcher handfesten Tatsache abzuleiten?

1. – Von der Rasse, sagen viele mit Überzeugung. Die künstlichen Aufteilungen, die aus dem Feudalwesen, aus fürstlichen Eheverbindungen, von Diplomatenkongressen stammen, sind hinfällig geworden. Fest und unverrückbar jedoch bleibt die Rasse der Bevölkerung. Diese begründet ein Recht, eine Legitimität. Nach der Theorie, die ich hier darlege, hat beispielsweise die germanische Familie das Recht, die versprengten Glieder des Germanentums wieder einzusammeln, auch wenn diese sich nicht mit ihr verbinden wollen.
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Die Wahrheit ist, daß es keine reine Rasse gibt und daß man die Politik einem Trugbild anheimgibt, wenn man sie auf die ethnographische Analyse gründet. Die edelsten sind jene Länder – England, Frankreich, Italien -, bei denen das Blut am stärksten gemischt ist. Ist Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Ist es ein rein germanisches Land?

Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch. Und sind die Teile, die angeblich rein sind, wirklich rein? Wir rühren hier an eines jener Probleme, über die man sich unbedingt Klarheit verschaffen und bei denen man Mißverständnisse vorbeugen muß.
[...]

2. – Was wir von der Rasse gesagt haben, müssen wir auch von der Sprache sagen. Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinigen; sie zwingt nicht dazu. Die Vereinigten Staaten und England, Lateinamerika und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Andererseits zählt die Schweiz, die so wohlgelungen ist, weil sie durch Übereinkunft ihrer verschiedenen Teile entstanden ist, drei oder vier Sprachen. Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen. Der Wille der Schweiz, trotz der Vielfalt ihrer Idiome geeint zu sein, ist eine viel wichtigere Tatsache als eine oft unter Zank und Streit erlangte Ähnlichkeit.
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3. – Auch die Religion kann uns keine hinreichende Grundlage geben, um darauf eine moderne Nation zu errichten.
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Es gibt keine Staatsreligion mehr, man kann Franzose, Engländer, Deutscher sein und dabei Katholik, Protestant oder Jude, oder gar keinen Kult praktizieren. Die Religion ist Privatsache geworden, sie geht nur das Gewissen jedes einzelnen an. Die Einteilung der Nationen in katholische oder protestantische existiert nicht mehr. Die Religion, die noch vor fünfzig Jahren bei der Entstehung Belgiens eine so bedeutende Rolle gespielt hat, ist nur noch im Innern eines jeden einzelnen bedeutsam. Von solchen Erwägungen, mit denen die Grenzen der Völker gezogen werden, hat sie sich fast völlig gelöst.

4. – Die Gemeinschaft der Interessen ist zwischen den Menschen gewiß ein starkes Band. Doch reichen die Interessen aus, um eine Nation zu bilden? Ich glaube es nicht. Die Gemeinschaft der Interessen schließt Handelsverträge. Die Nationalität jedoch hat eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein Zollverein ist kein Vaterland.

5. – Die Geographie – was man die "natürlichen Grenzen" nennt – hat fraglos einen großen Anteil an der Einteilung der Nationen. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren der Geschichte. Die Flüsse haben die Rassen geführt, die Berge haben sie aufgehalten. Jene haben die historischen Bewegungen begünstigt, diese haben sie behindert. Kann man aber, wie es einige tun, glauben, die Grenzen einer Nation seien auf der Karte eingetragen und eine Nation habe das Recht, sich zuzueignen, was nötig ist, um gewisse Konturen zu begradigen oder dieses Gebirge, jenen Fluß zu erreichen, dem man a priori so etwas wie eine begrenzende Kraft zuspricht? Ich kenne keine willkürlichere, keine verhängnisvollere Theorie, Mit ihr läßt sich jede Gewalt rechtfertigen.
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Wir haben gesehen, daß es nicht genügt, ein solches geistiges Prinzip zu schaffen: Rasse, Sprache, Interessen, religiöse Verwandtschaft, Geographie, militärische Notwendigkeiten. Was also braucht es darüber hinaus? Nach dem bisher Gesagten brauche ich Ihre Aufmerksamkeit nicht mehr lange in Anspruch zu nehmen.

Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch erfindet sich nicht aus dem Stegreif. Wie der einzelne, so ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Hingabe.
[...]
Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch bringen will. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und läßt sie in der Gegenwart in eine handfeste Tatsache münden: in die Übereinkunft, den deutlich geäußerten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein Plebiszit Tag für Tag, wie das Dasein des einzelnen eine dauernde Behauptung des Lebens ist. Ich weiß sehr wohl, daß dies weniger metaphysisch ist als das göttliche Recht und weniger brutal als das angebliche historische Recht und weniger brutal als das angebliche historische Recht. In der Ordnung der Ideen, die ich hier vortrage, hat eine Nation nicht mehr Recht als ein König, zu einer Provinz zu sagen: "Du gehörst mir, ich nehme dich." Eine Provinz, das sind für uns ihre Einwohner. Wenn in dieser Frage jemand das Recht hat, gehört zu werden, dann sind es diese Einwohner. Niemals kann eine Nation ein echtes Interesse daran haben, ein Land gegen dessen Willen zu annektieren oder zu behalten. Der Wunsch der Nationen ist ein für allemal das einzige legitime Kriterium, auf welches man immer zurückgreifen muß.

Wir haben die metaphysischen und theologischen Abstraktionen aus der Politik vertrieben. Was bleibt? Es bleibt der Mensch, seine Wünsche, seine Bedürfnisse. Man wird einwenden, daß die Sezessionen und auf lange Sicht das Zerbröseln der Nationen die Folgen einer Anschauung sind, die diese alten Organismen auf Gedeih und Verderb einem Willen ausliefert, der oft ganz wenig aufgeklärt ist. Es versteht sich, daß in solchen Dingen kein Prinzip bis zum Extrem getrieben werden darf. Derartige Wahrheiten sind nur insgesamt und in einer sehr allgemeinen Weise anwendbar. Das Wollen der Menschen wandelt sich, aber was hienieden ändert sich nicht? Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. Aber das ist nicht das Gesetz des Jahrhunderts, in dem wir leben. Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen etwas Gutes, sogar Notwendiges. Ihre Existenz ist die Garantie der Freiheit, die verloren wäre, wenn die Welt nur ein einziges Gesetz und einen einzigen Herrn hätte.
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