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Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: „Ueber den Zeitgeist“ (1818)
‚Es geschieht nichts Neues unter der Sonne’, (Pred. Salomo I, 9) sagte vor dreitausend Jahren ein vom Geiste Gottes erleuchteter Weise. Und so verhält es sich im Grunde wohl auch hiermit. Das nach nicht zu bestimmenden Zeiträumen unter verschiedenen Gestalten Wiederkehrende zeigt sich mehrentheils im Wesentlichen, wie es sich schon zuvor gezeigt hatte. Wenn es sich aber auf eine von den vorigen sehr verschiedene Weise kund thut, so erfordert es einer sichern Beleuchtung und ernsten Beherzigung. Dieser wird sich wohl anjetzt keiner, dem das irdische, keiner, dem das himmlische Vaterland am Herzen liegt, entziehen wollen; zu jener möchte ich lieber einige Weisen einladen, als mich dazu erkühnen. Ich bitte daher meine Leser, diese wenigen Blätter nur als Bruchstücke zu betrachten. Je mehr die Geschichte uns zeigt, wie aus kleinem Beginn oft große Dinge hervorgingen, wenn Eine Idee von Vielen mit lebhafter Theilnahme ergriffen ward, desto mehr wird ein wohldenkender und weiser Mann sich hüten, daß er nicht mit der Menge, und wie die Menge, sich von Meinungen hinreißen lasse. Selbst dann, wenn ihm scheint, daß das allgemeine Dichten und Trachten einen guten Zweck habe, wird er nie vergessen, daß im menschlichen Dichten und Trachten sich meistens Unreines zum Reinen mische, und wird mehr auf Läuterung der überhand nehmenden Ideen, als auf unbehutsame Verbreitung derselben sinnen. Er wird ihren Ursprung zu erforschen suchen, und auf Erforschung desselben auch andere aufmerksam machen; denn der Geiste, aus welchem etwas hervorgehet, entscheidet mehrentheils über dessen Werth; bleibt sich mehrentheils in seinen Wirkungen getreu.

[...]

Die Franzosen haben sich von arglistigen, eitlen und eigennützigen Volksführern, durch trügerischen Tand hohler Werte, von Thorheit zu Thorheit, von Frevel zu Frevel in kurzer Zeit dahin bringen lassen, daß sie den Thron und die Tempel Gottes stürzten. Der König, milde, fromm und edelmüthig, hatte Erfahrne der Nation berufen, mit ihnen sich zu berathschlagen über eine Verfassung, weil es immer seines Herzens Wunsch gewesen, Haupt einer freien Nation zu seyn.

Sie ließen sein Blut fließen auf der Todesbühne. Das Volk wüthete in den Eingeweiden Frankreichs. Es entsagte öffentlich Gott, es verehrte in seiner Tollheit die Vernunft in nackten Buhlerinnen, die es auf den Altar Gottes stellte; es kündigte allgemeinen Frieden an; dräuete [drohte] allen Königen den Untergang [an]; stand auf als Feind aller Völker. Bald schmiegte es sich unter das eiserne Joch eines Korsen, der Tyrann auf dem Thron und Tyrann an der Spitze einer oftmal seinem Ehrgeiz und seiner Herrschsucht aufgeopferten, immer wieder aus der unseligen Heimath sich erneuenden Jugend, die Geißel Europens ward, wie er die Geißel Frankreichs war und die Geißel Europens werden konnte, weil Europa vom Taumelbecher gekostet, den Frankreich bis auf die Hefen ausgeschlürfet hatte. Und ist es etwa nüchtern geworden? Die von ihm gehöhnten Völker wurden es durch Wehe, besannen sich, wandten sich zu Gott, in dessen Vertrauen sie sich erhuben, von Siegen zu Siegen eilend den Tyrannen stürzten und die feindselige Nation retteten, deren eitlem Undanke noch jetzt unsre mit Ruhm gekrönten Heere Abstand halten, daß sie nicht abermal den Thron und die Altäre stürze, nicht wieder in racheschnaubenden Herden sich über unser Vaterland ergieße.

Solches Wehe hatte in unsern Tagen der Geist der Zeit herbeigeführt.

[...]

Die bürgerliche Ordnung ist nicht nur gefährdet, sondern sie muß einstürzen, wo die natürliche Autorität untergraben ward. Der Bestand, die Ruhe, das Glück der Familien werden gesichert durch den Staat; aber auch der Staat kann nicht bestehen ohne häusliche Zucht, und diese beruht auf Ehrerbietung und auf Liebe. Ehrerbietung und Liebe sind die nicht fabelhaften Penaten, deren keine Familie, wenn ihr Vorsteher Hausvater oder Hausmutter genannt zu werden verdienen, entbehren kann. Die Gesetze vermögen nichts, wenigstens nichts Dauerndes noch Heilsames ohne Sitten. Ohne Ehrerbietung und ohne Liebe keine Sitten!

Heilige Einrichtung Gottes stiftete die aus dem innigsten Stoffe der Menschheit gesponnenen Bande, welche Eltern mit Kindern, Geschwister mit Geschwistern verbinden. Die Familie ist ein kleiner Staat. Der Jugend Unerfahrenheit wird geleitet an Gängelbändern kindlicher Ehrerbietung und Liebe. Im Umgange mit den Geschwistern entwickeln sich die Empfindungen der zartesten Freundschaft. Ermuntert durch brüderliche Genossenschaft, wird der Knabe, dann der Jüngling, angebildet zur Arbeit und zur Hülfsleistung, und jede mit dem Bruder getheilte Freude wird erhöhet. Aehnliche und doch verschiedne Gefühle entblühen dem reinen Verhältnisse zwischen Bruder und Schwester, in welchem zarte Saiten berührt werden, deren Anklänge schon hindeuten auf die innigste aller menschlichen Verbindungen, durch die, gleichsam aus beiden Hälften der Menschheit, in deren einen Kraft und Muth, in der andern Holdseligkeit und Aufopferung verwalten, in Liebe verschmelzen, das geheimnisvolle, heilige Wesen, ein Menschenpaar entsteht, die Ehe; sie, Urquell der Familien, Urquell der Völker.

So wie der Staat aus den Familienverhältnissen Bestand, Festigkeit und Würde bekommt, so die Familienverhältnisse durch die Religion, das heißt, durch Beziehung auf Gott, ‚nach dem das ganze Geschlecht in den Himmeln und auf Erden genannt wird.’ (Ephes[erbrief]. III., 15.)

[...]

Indem das Christentum den Menschen die Urkunde der Unsterblichkeit übergab, sicherte es auch in hohem Grade den zeitlichen Bestand der Staaten, sowohl der Monarchien als der Republiken. Seine Feinde sind es, welche zu unsrer Zeit diese und jene theils verstümmelt, theils zerrüttet, theils vertilgt haben. Dem Christenthum verdanken wir es allein, daß selbst die Bösesten der Menschen, Bonaparte und seine mit Ehrenstäben des Kriegs gezierten Schergen, nicht so grausam den Krieg führen durften, wie die Besten der Griechen und Römer, wie die Scipionen ihn führten. Die Waffenfähigen werden, wenn gefangen, nicht mehr gemordet, deren Weiber und Kinder nicht mehr zur Knechtschaft verdammt; und als die tyrannischen Häupter der französischen Republik den Befehl an die Heere sandten, den Feind, auch wenn der die Waffen streckte, dennoch zu ermorden, so weigerten sich der neuen Zumuthung diese verwilderten Herden; sie hatten die Milch christlicher Mütter gesogen, es zuckte noch eine christliche Ader in ihnen, wiewohl von ihnen selbst verbannt.

Wir alle sind Zeugen gewesen des Wehes und der Schmach des größten Theiles von Europa; des Wehes und der Schmach Deutschlands! Es liegt hell am Tage, welche Grundsätze, welche Gesinnungen dieses Wehe, diese Schmach über uns und über Europa führten.

Wir hatten Gottes vergessen und Er wandte von uns ab Sein Antlitz. Auf daß sie durch Elend ermürben möchten, überließ Er die Völker ihrem bösen Schwindel. Böse Worte geredet zu böser Zeit, wurden ihnen wie Sodom’s von außen glänzende Aschenäpfel auf unächtem Silber dargereicht. Es ist schwer zu sagen, ob künftige Zeiten mehr über die Tollheit , die in Frankreich wüthete, staunen werden, oder über den Beifall, den sie in andern Ländern fand.

Ich wende den Blick ab von den Gräueln der Grausamkeit, der Raubsucht, der Unzucht, der Lästerung; ich verweile nur bei der rasenden Vermessenheit, welche alles stürzen wollte, was tief eingewurzelt seit vielen Jahrhunderten bestand, und dessen Umsturz oder Ausrottung alles verwirren, ja bis in feinster Verzweigung die zartesten Verhältnisse der Menschen zerreißen mußte.

[...]

Es ist eine bekannte Sache, daß auch der kundigste Schiffsbaumeister die Vollkommenheit eines von ihm gebaueten Schiffes nicht verbürgen kann, ehe es auf den Wogen versucht worden. Gleichwohl sind ihm die Theile und die Verhältnisse dieser Theile, aus denen das Schiff besteht, sammt der ganzen Einrichtung, die es haben soll, vollkommen bekannt; aber eine kleine, oft vor der Prüfung des Schiffs nicht wahrzunehmende Abweichung von der Richtschnur, macht es fehlerhaft. Es muß untersucht und dann verändert werden. Würde man es ganz unbrauchbar finden, so könnte es doch auseinander genommen, und dessen Theile zu einem neuen Bau gebraucht werden.

Aber weder lassen sich die Wirkungen eines neuen Gesetzes – wie viel weniger einer neuen Verfassung! – nach mathematischen Regeln berechnen, noch auch ist der Stoff, in welchem der Gesetzgeber arbeitet, so geduldig wie Holz und Eisen. Er muß Rücksicht nehmen auf zahllose, verschlungne, bis in die feinste Verzweigung sichtbarer und unsichtbarer Verhältnisse eingreifende Bestimmungen, und vor allem auf die Leidenschaften der Menschen, denen er nicht schmeicheln, die er nicht erregen, aber mit zarter Hand weislich leiten, oder mit starken Arm nach der Richtschnur unwandelbarer Gerechtigkeit ihnen steuren muß. Er muß es wissen, daß der Staat nicht nur von Außen den Kampf mit Sturm und Wogen zu bestehen habe, sondern daß er furchtbare Elemente im Busen trage, stürmende Leidenschaften, und Ebben und Fluthen mancherlei Meinung, die sich nicht berechnen lassen nach dem Mond.

O des dürftigen Gesetzgebers! o des dürftigen Verstandes schon geordneter Staaten, – er bestehe aus Einer oder aus mehr Personen – wenn sie feige Rücksicht nehmen auf den anmaßenden Zeitgeist von gestern her; sei es, daß sie stillschweigend sich ihm fügen, sei es, daß sie gar öffentlich ihm huldigen! Wenn sie vergessen, daß ja eben das die große Aufgabe, deren Lösung der Zweck des politischen Vereins ist, durch gediegene Weisheit Einiger, Abstand zu halten blinder Gewalt der Menge. Wenn sie vergessen, daß in allen Dingen die Harmonie nicht aus Zusammenhäufung gleichartiger Theile, sondern aus richtigem Verhältnisse sehr verschiedner Theile besteht; wenn sie immer zählen und nie wägen; wenn sie alles, durch seinen Bestand selbst sich bewährende Alterthümliche, für veraltet erklären; das Alterthümliche, welches hier Großes und Schönes hervorbringt, durch Aufforderung zur Entsagung alles Gewerbes und zu edlen Bestrebungen, die es von Geschlecht zu Geschlecht einer kleinen Zahl von Familien dringend an’s Herz legt, – und dort durch Genossenschaften, Innungen, eigenthümliche Freiheiten und Rechte, (ohne welche die allgemeine Freiheit und das allgemeine Recht nicht bestehen kann) und durch gemüthliche Gebräuche, die Ruhe, die Sitten, die Genügsamkeit der Bürger, bei freudigem Gedeihen unbevormundeter Freithätigkeit sichert; wenn sie, sage ich, alles Alterthümliche für veraltet erklären, und uralte deutsche Eichen, die in grauer Vorzeit und im innersten Schooße des Vaterlandes tiefe Wurzeln schlugen, gleich einem Unkraute, das nach dem Regen der letzten Nacht erwuchs, ausjäten wollen; ohne Rücksicht auf allgemein anerkannten, seit vielen Jahrhunderten unbestrittnen, in der Verfassung gegründeten, von der obersten Macht bekräftigten Besitz; wenn sie mit Einem Federzuge das Werk von so vielen Jahrhunderten nach blinder Willkühr vertilgen wollen; so gehet, sie mögen es einsehen oder nicht, ihr Streben dahin, bis in ihre Grundvesten zu erschüttern die Ruhe, die Würde, ja den Bestand aller Stände, deren keiner ohne die andere bestehen kann; zu untergraben den Staat, der nur auf Ordnung, so wie Ordnung nur auf Gerechtigkeit, Gerechtigkeit nur auf Religion beruhen kann.

Möge heilige Furcht Gottes diejenigen leiten, denen das übermenschliche Geschäft der Wiederherstellung des vaterländischen Wohlseyns obliegt! Möge diese heilige Furcht sie vor jeder Menschenfurcht sichern, und vor falscher Schaam, diesem Rost der Seele! Dann werden sie in Vertauen auf Gott, gerecht und erleuchtet von Ihm, weise seyn! Dann auch werden sie mit kräftigem Ernste beherzigen den Zustand der verwahrloseten, zerrissenen, beraubten, zum Theile fast hirtenlosen Kirche Deutschlands. Dann werden sie Gott geben was Gottes; den Fürsten was der Fürsten ist, und jedem das Seine. [...]

Erstdruck in: Deutscher Staats-Anzeiger, Bd. 3, 1818

Hier aus: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Gesammelte Werke Bd. 10, Hamburg 1822, S. 321-349, hier S. 324-325, 326-328, 329-331, 340-341, 346-349.
 
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