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Auszüge aus Wilhelm von Humboldts Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden vom 17. Juli 1809:


„Die gegenwärtige Lage der Juden unter uns, welche aufzuheben das grosse Problem jeder Gesetzgebung über diese Nation ist, gründet sich auf Ursachen und steht mit Umständen in Verbindung, auf welche wesentlich und radical zu wirken ausser der Macht jedes einzelnen Staats liegt.

Die Mittel zu der Umwandlung dieser Lage sind nun freilich, wie man leicht einsieht, in Beziehung auf jene drei Hauptursachen:

Verschmelzung,
Zertrümmerung ihrer kirchlichen Form und
Ansiedelung;

allein so lange diese Mittel nur in einem einzelnen Staate versucht werden, wirkt die Verschmelzung nie kräftig genug, und in den religiösen Ideen wird der Contrast zwischen Christen und Juden nothwendig fortdauern, bis man überall aufhört, sich das Christenthum auf der untergeordneten Stufe des Gegensatzes zum Judenthum zu denken.

Hier sind also Schwierigkeiten, die keine Gesetzgebung, am wenigsten eine einzelne, ganz zu beseitigen im Stande ist.

Es bleibt jedoch immer klar und unleugbar, dass jede Gesetzgebung über die Juden in dem Grade besser ist als eine andre, in dem sie die Absonderung unmerkbarer und die Verschmelzung inniger macht.

Allein hier gehen wieder zwei Systeme aus einander, das eine, das die Absonderung auf Einmal, das andre, das sie allmählig aufheben will.

Betrachtet man diese an sich, und ich möchte sagen rein logisch, so ist wohl nicht zu bestreiten, dass nur eine plötzliche Gleichstellung aller Rechte gerecht, politisch und consequent ist.

Gerecht; denn es lässt sich kein möglicher Rechtsgrund denken, warum der Jude, der alle Pflichten des Christen erfüllen will, nicht auch der Rechte theilhaftig sein soll? es müsste denn in einem Lande erweisbar sein, dass alle Juden darin nur gegen gewisse Concessionen hereingekommen, nicht, wie sie schon darin waren, bloss mit solchen Concessionen darin geduldet wären. Allein alsdann ist die politische Frage: ob man so geringer Rechte geniessende Fremde in einem Staate fortdauernd dulden soll? dagegen um so wichtiger.

Politisch; denn diejenigen, die nicht viritim und persönlich, sondern aus Vorurtheil und weil sie, als zu einer Kaste gehörig, die Schuld ihrer Mitbrüder tragen müssen, verachtet werden, zu der, selbst zur Moralität nöthigen Achtung zu bringen, ist ein Sprung, eine plötzliche Erklärung nöthig. Mag das Volk auch noch so viele gutgeartete Juden sehen; es wird nie leicht dadurch zu andern Meinungen über die Juden, als solche, selbst kommen, sondern die Einzelnen immer nur als Ausnahmen betrachten. Auch soll der Staat nicht gerade die Juden zu achten lehren, aber die inhumane und vorurtheilsvolle Denkungsart soll er aufheben, die einen Menschen nicht nach seinen eigenthümlichen Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurtheilt und ihn, gegen allen wahren Begriff von Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie zu einer Race gehörig und gewisse Eigenschaften gleichsam nothwendig mit ihr theilend ansieht. Dies aber kann der Staat nur, indem er laut und deutlich erklärt, dass er keinen Unterschied zwischen Juden und Christen mehr anerkennt.

Endlich consequent: denn eine allmählige Aufhebung bestätigt die Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht mit aufgehobenen Punkten, verdoppelt, gerade durch die neue grössere Freiheit, die Aufmerksamkeit auf die doch noch bestehende Beschränkung und arbeitet dadurch sich selbst entgegen.

Allein der ganze Grund, auf welchem das System der allmähligen Aufhebung beruht, ist, meines Erachtens, aus einer zwar ehemals angenommenen, aber auch schon längst mit Recht verworfenen Theorie der Gesetzgebung geschöpft.

Es ist nämlich dies diejenige, welche die Gesetzgebung zu einer Art Erziehung des Staatsbürgers macht;
wo sie nur immer die Mittel in Händen hat, positiv wirken will und,
von einem bestimmten Begriff des Charakters und der Cultur der Nation ausgehend, im Stande zu sein wähnt, den Fortschritt und sogar die Richtung zu einer andern Stufe leiten zu können:
da, wie es mir scheint,
der Staat nur durch Ertheilung und Beschränkung der Freiheit und dadurch hervorgebrachtes Gleichgewicht der Rechte die Bürger in Stand setzen muss, sich selbst zu erziehen;
nur dahin zu streben hat, bloss negativ zu wirken und das positive Wirken der freien Thätigkeit der Nation zu überlassen und
die Menschheit genug achten muss, um zu wissen, dass der moralische Standpunkt einer Nation sich nie genau berechnen, noch weniger aber die Entwickelung derselben sich mechanisch voraussehen lässt, indem sie vielmehr, und ganz aus innerer Kraft, wie die ganze Geschichte lehrt, oft plötzliche Impulse erhält, die, weit entfernt, sich durch die Gesetzgebung leiten zu lassen, dieselbe ihnen zu folgen zwingen;
kurz, da der Staat kein Erziehungs-, sondern ein Rechtsinstitut ist.

Um auf die Juden zurückzukommen, so geht man von einem gewissen Begriff von ihrem Charakter, in dem nun aber, genau genommen und dem Grade nach (und auf Genauigkeit und Gradbestimmung kommt es doch hier an) fast kein Staatsmann mit dem andern übereinkommt, aus; diesen Charkater will man durch künstliche Mittel verändern und, so wie man ihn nach und nach verändert bemerkt, ihnen mehr von den Bürgerrechten einräumen, die sonst jeder, der sich im Staate niedergelassen hat, geniesst. [...]

In die höchsten Schwierigkeiten verwickelt man sich nun aber gar, wenn man nun die Fortschritte der Nation zum Bessern beurtheilen will. Woran soll z.B. erkannt werden, dass die Juden der öffentlichen Achtung würdiger sind? Etwa an gesammelten einzelnen Handlungen? oder durch offizielle Rapporte von gewiss zu tausend Dingen, aber nur nicht zur Menschenbeobachtung tüchtigen Offizianten über einen Gegenstand, über den selbst das einsame Gespräch sich schwer verständigt? oder gar durch Tabellen, wie viele Juden dieses oder jenes Handwerk erlernt haben, Ackerbauer oder Soldaten geworden sind? Wenn nach solchen Aeusserlichkeiten die allgemeine Achtung einer ganzen, nur unglücklichen Nation abgewoben, nach ihnen bestimmt werden soll, ob der unbescholtenste Jude nun ein eben so gültiger Zeuge sein kann als der erste beste Christ? so ist das, glaube ich, auch mit den schlichtesten Gefühlen von Menschenwürde unverträglich.

Wollte ein Staat in diesem Punkt consequent sein, so müsste seine Gesetzgebung auch unter den Christen nach Massgabe der Cultur die Bürgerrechte ungleich vertheilen, was doch glücklicherweise noch niemand eingefallen ist.

Unstreitig würde man hierauf antworten, dass es nicht ein Unterschied in Cultur, nicht einmal in dem, was man Sitten nennt, sondern recht eigentlich in dem Punkte der Redlichkeit, dessen, was den Menschen zum Menschen macht, ist, was den Juden vom Christen auszeichnet. Allein reicht irgend eine Erfahrung hin, einer ganzen Nation ein solches Zeichen der Verwerfung aufzuheften? wäre nicht, wenn ein so widernatürlicher Zustand irgendwo existirte, das einzige Mittel, ihn zu heben, plötzliche Vertilgung dieser Meinung, da sonst der, was er auch thun möge, doch Verachtete nothwendig auch verachtungswürdig bleibt? und muss nicht eine Regierung, die ein solches Anathem bei einer neuen Gesetzgebung ausspricht, nothwendig selbst bewirken, dass die Bessern der Nation auswandern, und nur der Abschaum zurückbleibt? [...]

Meiner Ueberzeugung nach wird daher keine Gesetzgebung über die Juden ihren Endzweck erreichen, als nur diejenige, welche das Wort Jude in keiner andern Beziehung mehr auszusprechen nöthigt, als in der religiösen, und ich würde daher allein dafür stimmen, Juden und Christen vollkommen gleich zu stellen. Wollten die ersteren nicht zugleich die Pflichten, die alle Bürger tragen, übernehmen, so würde ich, wenn man alle Mittel, sie dazu zu bewegen, erschöpft hätte, sie lieber aus dem Lande verbannen. Denn Menschen im Staate zu dulden, die sich gefallen lassen, dass man ihnen wenig genug traut, um ihnen, auch bei höherer Cultur, die sonst gemeinsten Bürgerrechte zu versagen, ist für die Moralität der ganzen Nation im höchsten Grade bedenklich.

Was man einer völligen und plötzlichen Gleichstellung entgegensetzt, ist,
das dies ein Sprung von einem Extrem in ein anderes sein würde, und
die Gefahr, die daraus für den Staat entstünde.

In dem Erstern liegt offenbar ein Missverständniss. Wenn ein widernatürlicher Zustand in einen naturgemässen übergeht, so ist kein Sprung, wenigstens gewiss kein bedenklicher vorhanden; diesen kann man nur da finden, wo ein widernatürlicher mit wirklicher Ueberspringung des natürlichen in einen widernatürlichen entgegengesetzter Art überginge. Wer vom Knecht zum Herrn wird, der macht einen Sprung; denn Herren und Knechte sind ungewöhnliche Erscheinungen. Aber wem man bloss die Hände losbindet, die erst gefesselt waren, der kommt nur dahin, wo alle Menschen von selbst sind.

Die Gefahr scheint wohl nur darum so gross, weil man sich auf einmal alle Juden im wirklichen Besetze der Vorzüge denkt, welche sie freilich erwerben können, aber der Natur der Sache nach doch nur einzeln und nach und nach, wie die Christen, wirklich erwerben würden.

Ich gestehe gern, dass ich die grosse Gefahr nicht einsehe. Was sie wenigstens in den Augen Aller vermindern muss, sind folgende Betrachtungen:

1. Der Staat übe eine genaue und strenge Polizeiaufsicht, und die nun gleich berechtigten Juden werden den Gesetzen, gerade wie die Christen, zu gehorsamen gezwungen sein, und dann ist keine Gefahr von ihnen zu besorgen.

2. Der Staat bestimme, wo die Beschaffenheit der Sache es erlaubt und erfordert, genau, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen jedes Gewerbe getrieben werden soll, und der Jude wird, wie der Christ, gebunden sein, und kein Gewerbe wird, was doch der einzige Zweck ist, leiden können.

3. Wo der Jude ein Gewerbe zweckwidrig treibt, wie z.B. wenn er aus Ackerwirthschaft Handelswirthschaft macht, wird ihn sein eigenen Vortheil bald eines Bessern belehren, und geschieht es nicht, so gehört das zu den einzelnen Fällen, die eine nicht furchtsame und kleinliche Gesetzgebung übersieht.

4. Zu Staatsämtern kann ja an sich nicht jeder Berechtigte gelangen, sondern es bedarf einer eignen Berufung des Staats. Hier hat derselbe also die Sache beständig in seiner Hand.

5. Die allgemeine Gefahr, dass die Juden die Christen verdrängen würden, ist an sich chimärisch, sie wird aber auch nur durch einen wahren Cirkel im Raisonnement zur Gefahr, indem man erst gern den Unterschied zwischen Juden und Christen poltisch aufheben möchte, und dann wieder annimmt, dass es auch politisch dennoch nicht gleichgültig sei, ob ein Gewerbe, auch gleich gut, von einem Juden oder Christen getrieben werde.

Schiene indess auch so die Gefahr doch noch bedeutend, so muss man wohl bedenken,
dass dagegen diejenige, wirklich bedeutende, die jetzt aus dem Druck und der dadurch bei mehreren Juden beförderten Immoralität entsteht, alsdann gänzlich wegfiele, und
dass die noch übrig bleibende mit jedem Tage geringer wird, da eine plötzliche Gleichstellung den Unterschied zwischen Juden und Christen sehr bald unmerklich machen würde, da hingegen bei einer allmähligen jene besorgte Gefahr nicht nur zum Theil auch vorhanden ist, sondern mit dem Unterschiede selbst, wenn nicht perpetuirlich, doch viel länger fortdauernd gemacht wird.

Wie man gegen die plötzliche Gleichstellung zu furchtsam ist, so scheint man mir bei der allmähligen, welche die doppelte Gefahr des alten und des neuen Zustandes zugleich bestehen lässt, indem man sie sich beide zu vermindern einbildet, in der That zu kühn.
[...]“

 
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, ...
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