[ Start | Politik | Verfassung | Judenemanzipation | Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft ]
   
  zurück
Auszüge aus: Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 11f:


„Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des europäischen Bürgers, seiner Technik und Industrie, seines Handels und seiner Wirtschaft, seiner Kunst und Wissenschaft. Zwischen 1780 und 1870 ereignete sich jene wirtschaftliche und politische ‚Doppelrevolution‘, deren Ergebnis die politische, soziale und kulturelle Emanzipation des Bürgertums in Europa war. Dieser Umwälzungsprozeß vollzog sich in England, Frankreich oder Deutschland unter je spezifischen Bedingungen, in unterschiedlichem Tempo und mit ungleichen Mitteln, gleichwohl handelt es sich überall um den gleichen Vorgang: die Auflösung der ständisch verfaßten, zumeist absolutistisch regierten alteuropäischen Ordnung und die Ausbildung einer neuen, bürgerlichen Gesellschaft, deren Parole ‚Konstitution und Maschine‘ lautete. Die revolutionierende Kraft vernunftrechtlichen Denkens fand ihren Ausdruck in der Deklaration von Menschen- und bürgerrechten, in der Forderung nach Verfassung und politischer Freiheit; die wirtschaftliche und soziale Entwicklung verlieh der bürgerlichen Bewegung ihre Dynamik und zugleich den Fortschrittsoptimismus, der trotz Restauration und Reaktion keinen Zweifel an Sinn und Ziel der Geschichte – der Mündigkeit und Selbstbestimmung des Bürgers – aufkommen ließ. ‚Die Stärke des Glaubens und der Überzeugungen, die Macht des Gedankens, die Kraft der Entschlüsse, die Klarheit des Ziels, die Ausdauer der Hingebung ist in dem volkstümlichen Lager, alles was einer geschichtlichen Bewegung den providentiellen Charakter, den Charakter der Unwiderstehlichkeit gibt‘, urteilte Gervinus, selber durchaus Partei, um die Jahrhundertmitte in seiner ‚Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts‘. Und in einer angesehenen deutschen Enzyklopädie konnte man 1850 lesen, daß "eigentlich die ganze Geschichte der Menschheit als ein großer Emanzipationsprozeß erscheint und alle sozialen und politisch wichtigeren Probleme unter den allgemeinen Begriff der ‚Emanzipationsfragen' zu bringen sind‘. Alle ‚Hauptzwecke des Lebens", so heißt es an anderer Stelle, seien auf eine dreifache Emanzipation zu reduzieren: ‚die ökonomisch-industrielle, die politische und die sittlich-religiöse". In der Tat war, den Zeitgenossen mehr oder weniger bewußt, Emanzipation zu einem konstitutiven Moment der modernen Gesellschaft geworden, zu einem wesentlichen Prinzip ihres Aufbaus: ‚Die Geschichte dieser Gesellschaft ist die Geschichte ihrer Emanzipation.‘

Einen Teil dieses allgemeinen Emanzipationsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft – sicherlich nicht den wichtigsten, wohl aber einen der schwierigsten und umstrittensten – bildete die Emanzipation der Juden. Auch dabei handelte es sich um ein gemeineuropäisches Problem, das freilich in jedem Staate sich anders stellte und auch unterschiedlich zu lösen versucht wurde. Der Ablauf dieses Emanzipationsvorganges ist unmittelbar verknüpft mit der allgemeinen Entwicklung der modernen bürgerlich-industriellen Gesellschaft: wenn in Mitteleuropa zwei Hauptphasen der Judenemanzipation – von 1780 bis 1815 und dann wieder von 1840 bis 1870 – festzustellen sind, so entspricht das durchaus der wechselnden Dynamik der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in diesem Zeitraum, und in mehr als einer Hinsicht spiegelt die Geschichte der Judenemanzipation die besonderen Probleme jedes einzelnen Staates hinsichtlich der Entstehung und Ausbildung der modernen Gesellschaft. Gerade am Beispiel der Judenemanzipation wird auch die Gesamtproblematik eines Emanzipationsvorganges deutlich, der sich auf die Annahme einer Identität von rechtlicher und realer Freiheit gründete. Da die alte soziale Ordnung rechtlich verfaßt, die Schranken, die sich den neuen Kräften entgegenstellten, rechtlicher Natur waren, galt es zunächst einmal für die gesamte Bewegung ebenso wie für die Juden, diese Schranken zu durchbrechen, die juristischen Fesseln einer vergangenen Welt abzuschütteln. Es zeigte sich dann jedoch bei den Juden besonders deutlich, daß Rechtsgleichheit nicht ohne weiteres die soziale Gleichheit verbürgte, daß auch die neue Gesellschaft vor der Lösung sozialer Probleme stand, die – solange die universelle Emanzipation eine Utopie blieb – nicht durch das bloße Aufsprengen der überlebten Formen zu erreichen war. Als im Gefolge der schweren Wirtschaftskrise der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts dann nicht nur die wirtschaftliche und politische Praxis, sondern auch die Normen des liberalen Systems einer weitverbreiteten Ablehnung verfielen, konnte daher auch die Judenemanzipation wieder in Frage gestellt werden: es entstand die antisemitische Bewegung als die erste große Gegenbewegung gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Ideen von 1789.“

Zum Seitenanfang 
 
Der LWL -  Freiherr-vom-Stein-Platz 1 -  48133 Münster -  Kontakt -  Impressum